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Der Sieg

1.

Staatsanwalt Sierlin war offenbar nicht erkannt worden, denn es ereignete sich nichts.

Nur eins: daß er jetzt, sooft er sprach und den Blick erhob, zwei Augen von der Tribüne ruhig und fest auf sich gerichtet sah, die bisher – auch von dort oben – immer über ihn hinweggesehen hatten. Jetzt sahen sie ihn an – nicht frech und herausfordernd, nein, im Gegenteil, mit unverhohlenem und daher eigentlich schmeichelhaftem Interesse folgten sie seinen Ausführungen, schienen sie zu billigen und zu beloben.

Hatte ihn die Anwesenheit dieses Kerls bis dahin geärgert, gestört, gereizt, brachte sie ihn – brachten ihn jetzt diese ruhigen, interessierten, diese über alles Maß hinaus unverschämten Blicke um jede Fassung. Aber er konnte nichts gegen sie tun – die Bänke dort oben waren für alle da, und es lag nichts in dem Benehmen des dort Sitzenden, was ein Eingreifen ermöglicht hätte. Er störte die Verhandlungen in keiner Weise. Er saß nur da und hörte zu – bescheiden, einer unter vielen anderen, und rührte sich nicht vom Fleck, so lange sie dauerten.

Staatsanwalt Sierlin kochte. Es war jetzt schon das fünfte oder sechste Mal in diesem Monat, dem Februar, daß er unter diesen Blicken seine letzte Selbstbeherrschung schwinden fühlte. Es kostete ihn die ungeheuerste Überwindung, aufzustehen und zu sprechen, sobald er wußte: »er« war da, hörte zu und – sah ihn an.

Er durfte sich nichts merken lassen. Er durfte sich nicht verraten. Es wäre sinn- und zwecklos gewesen. Er wußte es. Wie er niemanden hatte, dem er sich hätte anvertrauen können, ohne hören zu müssen: Aber Sie täuschen sich... So beachten Sie ihn doch nicht... Ich verstehe wirklich nicht... – wie keiner ihn verstehen würde, aber alle ihn für wahnsinnig halten würden beim Erzählen dieser ganz unglaublichen Geschichte (und besonders ihrer Einzelheiten), so fühlte er auch, daß er sie nicht preisgeben durfte. Ein einziges Mal: dem Justizrat, seinem Jugendfreunde, gegenüber – ja. Aber er war nicht so dumm, um nicht zu ahnen, wie sehr er auch da verspielt hatte (und für immer).

Er kochte. Was er in diesem letzten Jahre an Ärger in sich hatte hineinfressen müssen – es ging über seine Kräfte. Er war umgeben von einem unsichtbaren Netz mit feinen Maschen, das sich immer dichter um ihn zog. Er hatte keine Ruhe mehr. Er hatte keinen Frieden mehr. Er hatte auch an nichts mehr Freude, selbst an seinen Kindern nicht, die ihn nur störten in seinen Gedanken, den Gedanken, die nicht loskamen von diesem Kerl, diesem Hund, der hinter ihm her war... Er kochte vor Wut. Selbst der Gedanke an seine Pflicht hielt ihn nicht mehr aufrecht. Er fühlte, wie er mehr und mehr die Fähigkeit verlor, sie zu erfüllen. Er sprach schlecht unter diesen Augen – zu milde, zu allgemein, zuwenig zur Sache. Oder er fuhr auf, wurde der alte – und sprach heftig, überzeugungstreu, mit Brusttönen und – ebenfalls zu wenig sachlich.

Er hatte bereits daran gedacht, sich versetzen zu lassen – mit einem unerträglichen Gefühl der Scham und der Erniedrigung. Vor diesem Kerl fliehen? – Das Feld räumen? – Ihm gegenüber seine Niederlage offen eingestehen? – Unerträglich, und – unmöglich!

Denn einmal würde seine Frau lieber von ihm als von Berlin, der heißgeliebten Stadt mit dem Schwarm von Verwandten und Bekannten, weggehen.

Und dann: war er sicher, daß ihm dieser Hund nicht nach seinem neuen Wohnsitz folgte und ihn auch dort belästigte? – Diesem Menschen war alles zuzutrauen. Es gab nichts, dessen er ihn jetzt nicht für fähig hielt, wenn es galt, ihn zu ärgern, zu verfolgen, zu – hetzen.

(Hetzen – welch furchtbares Wort!)

Er konnte sich pensionieren lassen. Daran hatte er noch nicht gedacht, denn das wäre das Ende gewesen. Pensionieren lassen – in seinen Jahren? – Bei seinen Fähigkeiten? – Nicht nur unwürdig, sondern ebenfalls völlig unausdenkbar.

Staatsanwalt Sierlin kochte vor innerlicher Wut. Er kochte auch während der Verhandlungen des ganzen Tages.

Er kochte, während er selbst sprach.

Er kochte, so oft sein Blick die Galerie auch nur streifte.

Er kochte während der Heimfahrt in dem unerträglich überfüllten und unbequemen Straßenbahnwagen, in dem er keinen Sitzplatz mehr fand.

Er kochte, als er ihn an der Umsteigestelle verließ und die Straße überschritt, um in einem Laden auf der anderen Seite noch einen nötigen Einkauf zu machen.

Seine Stimmung – auf dem Siedepunkt seit vielen Stunden – wurde nicht besser, als er die Straße gesperrt fand. Zwei Autos waren ineinandergefahren, und ein Menschenauflauf war um sie herum. Es war das gewöhnliche Bild: aufeinanderlosschreiende Chauffeure, sich gegenseitig die Schuld beimessend; zwei Schutzleute mit gezückten, dicken Notizbüchern; ein Schwarm atemlos Neugieriger – Berliner.

Er wollte nicht stehenbleiben. Lieber wollte er die Menschenmenge umgehen. Während er es tat, sah er, wie sich ein junger Mensch näherte, um ebenfalls stehenzubleiben, und – scheinbar ebenfalls neugierig – zu sehen, was da vorging. Ihn schien er nicht zu sehen.

Aber auch Staatsanwalt Sierlin sah ihn nicht mehr. Denn es wurde plötzlich rot vor seinen Augen. Er hielt sich nicht mehr. Er sah nichts mehr. Er dachte nichts mehr.

Mit einem unterdrückten Schrei sinnloser Wut sprang er auf ihn zu und packte ihn an der Brust. Aber bevor seine Finger sich noch einkrallen konnten, erhielt er einen so furchtbaren Faustschlag ins Gesicht, daß er zurücktaumelte. Er fiel nicht. Er konnte sich noch eben aufrecht halten. Aber er schwankte hin und her.

Es wollte wieder auf ihn los, als er fühlte, wie er an den Armen fest- und zurückgehalten wurde. Dann wurde alles dunkel vor seinen Blicken.

Als er wieder zu sich kam, sah er sich neben einem Schutzmann hergehen, an dessen anderer Seite zwei andere schritten – ein älterer Herr mit grauem Bart und ein junger Mann.

Es waren nur wenige Schritte bis zur nächsten Wache.

Dort kehrte seine Besinnung so weit zurück, daß er fähig war, als erster auf den Wachthabenden hinter dem Tisch zuzugehen und seinen Namen und Stand zu nennen.

Wachtmeister Groterjahn sah erstaunt auf und erhob sich. Er kannte den Staatsanwalt Sierlin zufällig vom Ansehen.

Es sah, wie erregt er war.

Er wußte noch nicht, um was es sich handelte, aber er sagte zuvorkommend, während er mit der Hand in ein Nebenzimmer wies:

»Wenn der Herr Staatsanwalt vielleicht so lange dort Platz nehmen wollen, während ich das Protokoll aufnehme.«

Er war auch nicht weiter erstaunt, als dieser nur kurz antwortete:

»Nein, danke. – Ich werde draußen warten. Lassen Sie mich rufen, wenn es soweit ist ...« und hinausging.

Dann winkte er den Schutzmann heran, ließ sich einen kurzen Bericht erstatten und wandte sich, nach Aufnahme der Personalien, zunächst drohend an den jüngeren der beiden vor ihm Stehenden:

»Sie haben den Herrn, der eben das Zimmer verließ, auf offener Straße angefallen? – Wie kommen Sie dazu?«

Der so Angefahrene stand ruhig da. Er lächelte nicht. Er war nicht im mindesten erregt und antwortete fast höflich und gar nicht beleidigt:

»Ich glaube vielmehr, daß der Herr mich überfallen hat. Ich habe mich lediglich seines Angriffs erwehrt...«

Auf der Stirn des Wachthabenden schwoll eine Ader an bei dieser ungeheuerlichen Aussage:

»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Herr Staats..., daß der Herr, der eben hinausging, Sie zuerst angegriffen hat?«

»Jawohl, das will ich!«

Jetzt mischte sich der alte Herr ein. Er legitimierte sich als Professor Dr. Karl Hesekiel, seit dreißig Jahren hier im Ort ansässig und ganz in der Nähe wohnhaft.

Es sagte in bestimmter, etwas dozierender Weise, als säße er auf dem Katheder:

»Ich habe den Vorfall von Anfang an mit angesehen. Ich bin Zeuge und bereit, zu beschwören, daß der Herr, der eben hinausging, auf diesen jungen Herrn, der ruhig neben mir stand, losging und ihn bei der Brust packte, ohne von ihm im mindesten provoziert zu sein ...«

Der Protokollierende sah von einem zum anderen. Es wurde ihm schwül zumute.

»Aus welchem Grunde sollte der Herr sich zuerst an Ihnen vergriffen haben?«

Und er erhielt die ehrlich klingende Antwort:

»Ich habe keine Ahnung ...«

Er beschloß, den Herrn Staatsanwalt lieber zuerst um Aufklärung zu bitten, bevor er weiter in die Sache eindrang; beförderte die beiden Anwesenden in das Nebenzimmer mit dem Bedeuten, sie hätten dort zu warten; und schickte den Schutzmann hinaus, um den draußen wartenden Herrn hereinzubitten.

Der kam bald wieder:

»Der Herr ist nicht mehr da ... «

Der Wachtmeister sprang auf. Unmöglich! –

Er ging selbst auf die Straße.

Als er nach einer Weile wieder hereinkam, trug sein rotes, volles Gesicht den Ausdruck einer vollkommenen Ratlosigkeit.

Das war ja eine, eine sehr, eine höchst merkwürdige Geschichte: ein Staatsanwalt, der erst einen Angriff unternommen haben sollte (was er aber noch immer nicht glauben konnte), und der sich dann der Vernehmung entzog (was er glauben mußte)! ... Er beschloß, auf alle Fälle die Hand von dieser mysteriösen Sache zu lassen und sie weiter – nach oben – zu geben. Die dort oben mochten sie erledigen, wie sie wollten.

Da auch die telephonischen Anfragen ergeben hatten, daß die Angaben beider Herren im Nebenzimmer über ihre Personalien stimmten, und sie dort wohnten, wo sie polizeilich gemeldet waren, wurden sie wieder hereingeholt und kurzer Hand entlassen. Das Protokoll wurde mit ihren knappen Aussagen geschlossen. Wer allein unbekümmert und wieder in glänzender Laune nach Hause ging, war Adolf Braun. Dem Wachtmeister wollte die Geschichte durchaus nicht in den Sinn, und er zerbrach sich den Kopf noch den ganzen Abend, obwohl er keine direkte Veranlassung mehr dazu hatte. Er wollte keinesfalls darüber sprechen. Langjährige Dienstzeit hatte ihn gelehrt, daß Maulhalten das beste Mittel war, um vorwärtszukommen. Der Professor schüttelte seine weiße Mähne: auch ihm wollte die Sache nicht in den gelehrten Kopf. Der junge Mann hatte so anständig ausgesehen. Aber ein Staatsanwalt – denn er hatte den Namen gehört, als der Inhaber ihn nannte – ein Staatsanwalt, der auf offener Straße einen Überfall verübte – welche geheimen Gründe mochten dahinter liegen? – Da er indessen an wichtigere Dinge zu denken und zudem als alter Junggeselle keine Gelegenheit hatte, die Geschichte weiterzuerzählen, war auch von seiner Seite aus die Gefahr gering, daß sie in die Öffentlichkeit drang. Der Hauptbeteiligte aber – – –


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