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7.

»Sieh ihn nicht! – Sieh ihn so wenig, wie er dich zu sehen scheint! ...« das war ihm geraten worden. »Wenn ihr füreinander Luft seid, könnt ihr euch doch unmöglich wehe tun ...«

Staatsanwalt Sierlin sah ein, daß das einzige, was er tun konnte, war: diesen Rat zu befolgen.

Er hätte es längst, von allem Anfang an, tun sollen. – Er durfte diesen Menschen, der ihn nichts anging, nie auch nur bemerken, nie einen Gedanken, geschweige denn einen Blick an ihn verschwenden. Es war seiner nicht würdig gewesen, auf der Straße stehenzubleiben, um ihm nachzusehen; zusammenzufahren oder ihn zu mustern, wenn er ihm in den Weg trat; aus dem Fenster zu spähen, ob er etwa noch dasaß. Es war nicht richtig und zudem zwecklos gewesen, ihn auf der Bank anzureden und sich diese Abfuhr zu holen. Er hätte es sich vorher sagen können, daß dieser Mensch ein Flegel war, ein ganz unverschämter Bursche, ein ...

Er würde ihn also nicht mehr sehen.

Das war um so leichter, als es sich ja immer nur um einen Augenblick des Auftauchens und Verschwindens handelte. Dieser Feigling lief ja direkt vor ihm fort. Er würde von jetzt an auch nicht mehr die Spur eines Gedankens in ihm zurücklassen.

Staatsanwalt Sierlin täuschte sich.

Denn jetzt war es kein kurzer Augenblick mehr, daß er ihn traf und sah. Es war, als ob dieser rätselhafte Mensch alle seine Gedanken errate: jetzt wo er ihn nicht mehr sehen wollte, wo er Luft für ihn sein sollte, schien er es plötzlich darauf anzulegen, angesprochen zu werden.

Er lief nicht mehr fort.

Er saß ihm in der Straßenbahn fast gegenüber, aber er stand nicht wie sonst auf, sondern blieb sitzen. Er stand vor dem Laden, in dem er seine Zigarren zu kaufen pflegte, und betrachtete, scheinbar aufmerksam, die Ware im Schaufenster, wenn er wieder heraustrat. Er kam ihm irgendwo, immer an einem ganz unvorhergesehenen Ort, entgegen, langsam und bedächtig. Immer wäre es jetzt ein leichtes gewesen, ihn zu stellen und eine Auseinandersetzung herbeizuführen.

Und dieser Mensch sah jetzt, wo er selbst sich krampfhaft bemühte, über ihn hinwegzusehen – es war nicht leicht, und Staatsanwalt Sierlin fühlte bei jedem neuen Versuch, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg und sein Herz schneller zu schlagen begann – dieser Mensch sah jetzt plötzlich nicht mehr über ihn hinweg, sondern ihn an: seine Augen glitten an seiner Gestalt von unten an aufwärts, ehe sie sich – gleichgültig und fremd – wieder ab- und fortwandten.

Er sah ihn an und durch ihn hindurch, gleichsam, als wäre er kein lebendes Wesen, sondern ein toter Gegenstand ohne jedes Interesse – als habe er ihn nie im Leben gesehen und kenne ihn nicht. Nie sah er ihm in die Augen. Es war ihm unmöglich, dem Blick dieser Augen noch einmal zu begegnen; und – fast war es ihm lieb.

Nein, es war unmöglich, ihn so zu behandeln, wie er behandelt wurde – als Luft. Er mußte ihn sehen. Dies war schlimmer als alles. Es lag eine so bodenlose Frechheit in diesem Gebaren, daß er es nicht mehr ertrug.

Er mußte ihn anreden. Er mußte endlich wissen, was dahinter lag. Es war unmöglich, den Rat des Justizrats noch länger zu befolgen.

Aber er war nach der Unterredung mit ihm mehr als je entschlossen, jedes Aufsehen zu vermeiden.

Indessen – auch das war leichter gesagt als getan. Und er sah ihn nie allein. Immer waren Menschen um sie her oder in nächster Nähe – diese ewig neugierigen, auf die geringste Sensation, und sei es die eines gefallenen Pferdes, erpichten Berliner, mit ihren schnoddrigen Redensarten und ihren faulen, aber oft so treffenden Witzen und Bemerkungen.

Er gab also seine vergeblichen Bemühungen, über ihn hinwegzusehen, auf, sondern erwiderte die Blicke – erwiderte sie wieder herausfordernd, abwartend und – jetzt – innerlich kochend vor Wut. Denn wieder gelang es ihm nicht, auch so nicht, den Blick dieser Augen aufzufangen, wie an jenem Tage des Erkennens auf der Bank. Sie gingen an ihm nie höher empor als bis zur Brust. Dann wandten sie sich ab, nicht verächtlich oder auch nur unangenehm berührt – nein, nur gleichgültig, gleichgültig, unendlich gleichgültig...

Und immer waren die Ruhe und die Gelassenheit dieses jungen Menschen unerschütterlich. Nichts schien ihn aus der Fassung bringen zu können. Er saß da; er stand da; er ging an ihm vorüber und weiter – und keine Bewegung verriet, daß er nur zu einem bestimmten Zwecke hier, gerade hier war –: daß mit allem diesem nur ein Zweck verfolgt wurde – ein ganz bestimmter Zweck... Er war immer derselbe – in seiner Haltung, in dem Ausdruck seines Gesichtes, seinem festen und selbstsicheren Gang, dem Gang kraftvoller und unbekümmerter Jugend.

Immer und unangreifbar derselbe – während er, der Staatsanwalt Sierlin, allmählich ein anderer wurde. Früher der eingebildete, in Leben und Streben so selbstbewußte, harte und mitleidlose Mann, starr und unbeugsam in seinen Prinzipien und seinen drei, für richtig erkannten Gedanken, war er jetzt schwankend, unsicher und unruhig.

Nicht, daß er seine Ansichten irgendwie geändert hätte. Er war eine viel zu flache und im Grunde unaufrichtige Natur, um eine einmal gefaßte Ansicht als falsch zu erkennen und resolut über Bord zu werfen und eine andere an ihre Stelle zu setzen.

Was ihn so maßlos ärgerte und in Wut versetzte, war seine Ohnmacht. Wozu waren die Gesetze da, wenn sie ihm in einem solchen Falle wie diesem – einem Falle, wie er ihm noch nie vorgekommen, wie er sich überhaupt wohl noch nie ereignet hatte – wenn sie ihn hier nicht schützten? – Wie war es möglich, daß er selbst keinen Rat fand bei seiner Umgebung – bei seinem einzigen Freunde? – daß er es nicht einmal wagte, das Urteil der Gesellschaft herauszufordern, in der Furcht, sich lächerlich zu machen und allein gelassen zu werden ? – Denn er würde sich lächerlich machen. Nach dem Gespräch mit einem so klugen, lebenserfahrenen und lebensgewandten Manne, wie Eberhardt, war er (denn dessen leises Lächeln war ihm nicht entgangen) sich nicht mehr im Zweifel darüber. Er war nicht mehr sicher. Er hatte nichts mehr, worauf er sich stützen konnte, wie bisher in jeder einzelnen Lebenslage. Die Gesetze versagten, die geschriebenen wie die ungeschriebenen.

Er war wie preisgegeben diesem hergelaufenen Menschen, diesem Monomanen, diesem...

Es war unerträglich.

Es ging so nicht weiter. So nicht mehr weiter. Nein, er durfte und sollte nicht länger mehr Luft für ihn sein. Er sollte ein Mensch von Fleisch und Blut werden, den er jetzt endlich fassen wollte. Greifen wollte er diesen Körper, ihn zwischen seinen Fingern halten, ihn schütteln, bis er sein Geheimnis endlich von sich gab –d as Geheimnis: was, was er von ihm wollte! –

Er wollte diese Stimme wieder hören, diese vergessene Stimme, die er nur einmal gehört (damals, und die ihm merkwürdigerweise jetzt über die Jahre hinüber wieder ganz vernehmlich war). Er wollte sie wieder hören, und – oh! – sie sprechen machen. Wollte den Blick dieser Augen wieder in den seinen fühlen und ihnen dann so begegnen, daß sie sich niederschlagen sollten. War er nicht ein Mann diesem Burschen gegenüber? – War er nicht der Staatsanwalt Sierlin? – Nur die nächste Gelegenheit brauchte zu kommen, dann war die Sache zu Ende. Ein für allemal.

Er wartete auf sie, diese Gelegenheit. Und wenn es unter Menschen war – einerlei. Unbenutzt würde sie nicht mehr vorübergehen.

Er wünschte ihn zu sehen. Er war es, der jetzt wieder nach ihm aussah ...

Aber es vergingen Tage; es vergingen wieder fast zwei Wochen ... Er sah ihn nirgends.

Er war in der Stadt geblieben, um einige notwendige Einkäufe zu machen. Es war ein Sonnabend, gegen Abend, auf den Straßen und in allen Geschäften reges Leben. Auch in dem Warenhaus. Als er an die Kasse 43 im dritten Stockwerk des großen Hauses trat, um zu bezahlen, sah er, wie vor ihm ein junger Mensch Geld einstrich und mit der Quittung in der Hand zur Auslieferungsstelle abbog. Er warf schnell seinen Betrag hin, erhielt den Kassenzettel zurück und sah eben noch, wie derselbe junge Mensch ein kleines Paket in Empfang nahm und in den Gängen zwischen den aufgestapelten Waren entschwand. Er ließ seinen Einkauf zurück, eilte ihm nach, sah ihn zwischen den sich drängenden Menschen verschwinden, dann wieder auftauchen und in eine weniger besuchte Abteilung, die der Bilder und Photographien, einbiegen.

Er schien sich nicht zu beeilen. Jetzt stand er vor einem Bilde still und betrachtete es scheinbar aufmerksam.

Der Moment war gekommen.

Staatsanwalt Sierlin trat neben ihn, blieb stehen und sagte, mehr vor sich hin als zu dem anderen gewandt (der sich nicht rührte), aber deutlich genug, um verstanden werden zu müssen:

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen. Ich wünsche eine Aufklärung von Ihnen. Ich...«

Der Angesprochene schien kein Wort zu hören, als sei er taub.

Er ging, ohne auch nur einen Blick zur Seite geworfen zu haben, weiter und blieb an der nächsten Auslage vor einem anderen Bilde stehen, scheinbar auch ihm seine ganze Aufmerksamkeit widmend.

Staatsanwalt Sierlin war wieder neben ihm. Er zitterte.

Etwas lauter (denn sie waren nicht mehr ganz allein) und noch bestimmter sagte er:

»Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben. Ich wünsche eine Aufklärung von Ihnen. Verstehen Sie mich jetzt? – Ihr Benehmen...«

Der abermals Angeredete schien jetzt endlich zu begreifen, daß man mit ihm sprach. Sein Blick ging seitlich an der neben ihm stehenden Gestalt von den Füßen an aufwärts bis zur Brust. In dem sonst so unbeweglichen Gesicht zeigte sich zum ersten Male ein Ausdruck, ein deutlich erkennbarer Ausdruck. Es war der Ausdruck eines unverhohlenen Widerwillens. Dann zuckte er die Achseln, wandte sich ab und schloß sich dem Menschenstrom im nächsten Gang an, der ihn weiter und fort trieb.

Staatsanwalt Sierlin blieb zurück, wie damals auf der Bank. Durch sein mit Blut übergossenes Gesicht zogen sich die Schmisse wie weiße Kreidestriche.


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