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Dreiunddreißigstes Kapitel

Es war gegen acht, aber es war noch hell, als am vierten Juni der geschlossene Wagen vom Bahnhofe nach der Schloßstraße lenkte. Die Trauung in Berlin, bei der Scherer und Tauernheim als Zeugen fungierten, war standesamtlich in zehn Minuten vollzogen, Herrn von Wassilkos Zurückhaltung ließ ihn den Besuch lieber für später ankündigen, Sidney war fort, auf Kirche wurde verzichtet, und um den Empfang in der kleinen Residenz, der einen Ozean von Etikettenfragen entfesselt hätte, kam man mit der Begründung der tiefen Landestrauer.

Eduard wollte die aufgescheuchten Bürger noch in der ersten Verwirrung fassen, in der ein Doppelbegräbnis, eine Regentschaft, Tod des alten Fürsten, neues Leichenbegängnis mit Kaiserbesuch, Thronbesteigung, Eidesleistung die stillen Leute überschüttet und mit beglückendem Stoffe für lange Zeit beschenkt hatten. Als dann die Nachricht kam, der junge Fürst, über den ohnehin die dunkelsten Dinge kursierten, werde sich linker Hand mit einer Unbekannten trauen lassen, die die Geliebte eines Grafen war, und das sofort – da war die Fähigkeit zur Erregung aufgebraucht, der Bürger war durch Schrecknisse und Krisen saturiert, es wurde als Schickung des Himmels geduldig hingenommen. Einige fanden es sogar interessant, verwiesen auf Beckers Weltgeschichte, in der ähnliche Heiraten verzeichnet ständen, und ließen durchblicken, die Erbfolgefähigkeit solcher Kinder wäre zuweilen durch Kaiser und Reich ausgesprochen worden, Blutmischung wäre nach den neueren Forschungen sogar erwünscht und jedenfalls besser als der Einbruch fremder Vettern in ihr schönes Land.

Als es schließlich heute Wahrheit wurde, konnte es niemand zu Hause aushalten, und obwohl Musik und Fahnen wegen Trauer verboten, obwohl es Abend war, hatte man doch ohne Abrede diese seltsame Gelegenheit für die neuen Sommerkleider ergriffen, die ohnehin an diesem traurigen Pfingstfeste hatten im Schrank warten müssen.

Inmitten vielfacher Pflicht hatte Eduard doch immer nur diesen einen Abend kommen sehn, und wie er denn gewohnt war, seit Jahr und Tag Diana in Situationen zu denken, in denen er andere Frauen, besonders seines Standes, sah, wie sein formaler Sinn sie in allen Lagen der Wirklichkeit ausprobiert hatte, war ihm ihre geschlossen freie Haltung nur eine Bestätigung seiner inneren Vorschau: bei Vorstellung des alten Ministers, bei der Trauung, beim Adieu von Scherer, beim Gruß des Stationschefs, beim Besteigen des Wagens. So konnte er im Einfahren mit ihr eine Sprache führen, als hätten sie das alles schon oft geteilt.

»Siehst du, Diana?« sagte er leise. »Alles Zylinder, sogar abends. So vornehm sind unsere Leute!«

»Warum gehen denn aber alle drüben?«

»Weil sie dachten, du säßest links!«

Diana lachte unter ihrem schwarzen Schleier, aber so lautlos, daß er erschrak, wie er der Freiheit ihres Lachens gedachte, und wie nun ein erster Zwang ihre Züge und ihre Stimme verhüllte. Er sagte, verlegen:

»Häuser hübsch niedrig, wie? Besser als diese Kasernen!«

»Und gesünder,« sagte sie.

»Findest du Pflaster sehr holprig?«

»Aber gar nicht!«

»Schloßstraße wird demnächst hergerichtet.«

»Das ist ja sehr gut.«

»Übrigens annehmbarer Reitweg daneben!«

»Ach! Wohin führt er denn?«

»Hübsches Gehöft, gute Bauern, frische Milch.«

»O wie schön!« sagte sie, aber sie dachte immerfort: – Er ist der beste Mensch, und ich fahre mitten in den blauen Himmel hinein.

– Sie ist müde, dachte er, oder sehr traurig. Ob man doch Sekt geben sollte?

– Gebt mir doch ein Zeichen! dachte Diana, als sie des Schloßturmes ansichtig wurde, und wie nun der Wagen eine letzte unerwartete Wendung machte, erblickte sie, am Rande der plötzlich sichtbar werdenden weiten Fläche vor dem Schlosse, die Sonne dicht über dem Horizonte, hinter einer kleinen hartnäckigen Wolke versteckt, die sie nicht mehr durchließ vor dem Untergange. Aber sie umgab den zackigen Rand mit einem inneren Glanze von solcher Kraft, als wäre sie noch stark und stände im Mittag. Dianas Herz schlug laut, aber Eduard sah nicht ihren Blick, der seine hatte das Portal umfaßt, forschend, ob alles nach seinem Geheiß wäre.

Zwei Diener standen, als höfisches Minimum, auf der Schwelle, auch sonst hatte er alles ins Landhausmäßige abzudämpfen gewußt. Im ersten Stockwerk führte er Diana in ein paar alte getäfelte Zimmer, und während sie ganz unbefangen dalagen, fühlte Diana, wie er hier jede Gardine, jeden Barockstuhl, jede Vase selbst für sie gewählt hätte. Aber sie schritt doch gleich in den Erker, ans offene Fenster und fing an, sich mit dem alten großen Nußbaum zu unterhalten, der bis ins dritte Stockwerk reichte.

»Wie er rauscht,« sagte sie leise und wandte sich um.

»Er begrüßt dich,« sagte er, hinter ihr.

»Wie viele Geschlechter hat er schon begrüßt?«

»Drei, vielleicht vier.«

»Sind wir die Fünften?« fragte sie leise. »Fünf wäre eine gute Zahl.«

Sie setzte sich auf das große Sofa im Erker, und wie sie ihn mit der Rechten zu sich einlud, sah er sie heut zum ersten Male lächeln, auf ihre sinnende Art.

Dann, neben ihr, ergriff er ihre Hand.

»Bist du traurig?«

»Ein wenig.«

»Bist du müde?«

»Kaum.«

»Möchtest du essen?«

»Ja.«

Er klingelte. Der Diener stand da.

»Die Gräfin befiehlt anzurichten.«

»Zu Befehl, Durchlaucht.«

Die Leere, die um diese sieben Worte lag, das maschinelle Auftauchen und Verschwinden dieses Dieners hatten mit einem Male Dianas Heiterkeit wiedererweckt. Mit einer mutwilligen Gebärde warf sie, als er sich ihr wieder zuwandte, die Arme um seinen Hals, sie rief:

»Nein, du! Das war viel älter als der Nußbaum! Das war ja aus dem Dreißigjährigen Krieg!«

Er war ein wenig überrascht, denn er hatte den Befehl selbst kaum beachtet, doch froh, die Spannung behoben zu sehn, sagte er:

»Kleidest du dich vielleicht um zum Souper?«

»Zu Befehl, Durchlaucht!«

Als sie nach einer Stunde von der kleinen runden Tafel aufstanden, an der zwei staunend schweigende Diener den Fürsten und seine junge Frau in tiefem umflorten Dekolleté bedienten und trotz der vorgeschriebenen Trauerhaube die kurzen Locken entdeckten, hatten Diana und Eduard, vom Wein, vom Licht, von der französisch geführten Unterhaltung, ihre natürliche Frische wiedererlangt, und wie er sie in ihren kleinen Salon führte, sagte er:

»Oder befehlen Gnädigste Zigarette auf Deck?«

»Es ist heute zu windig, meinen Sie nicht, Prinz?«

»Nordwest. Vierzehn Meilen. Reffsegel kaputt!«

»Und Giorgino?«

»Da müßte schon Doktor Sergjewitsch hinauf!«

Es war geschehn: der Name war gefallen, und wie sie sich nun in den großen Gobelinsesseln gegenübersaßen, sah Eduard in Dianas Züge einen Schatten steigen, von unten, als sendete ihn das Herz empor. Aber nun fühlte er sich sicher, nun saß er ja in seiner Väter Saal, sozusagen, und an jenem vierten Finger dort drüben steckte sein Ring. Darum faßte er die Sache kräftig an, er sagte:

»Apropos, Sergjewitsch. Den hab' ich uns gesichert.«

»Uns?« Sie faßte leicht den Sesselrand.

»Tja, also ich meine, dem Ländchen.«

»Wie –?«

»Ich schrieb ihm, als Vater noch lebte, ob er nicht hier die ganz verfahrene Arbeiterfürsorge arrangieren möchte. Ist ja Fachmann, hat grundlegend darüber doktoriert, hätte längst Ruf Leipzig oder wo, wenn er nicht Russe wäre. Enfin, man setzt ihn als Ausländer neben unser kleines Ministerium. Formelle Bestallung: Bibliothekar, wofür wir natürlich so ein paar Philologen haben. Paßt es dir nicht?«

Sie lächelte: »Was hätte denn ich da zu sagen?«

»Alles, Diana!« sagte er ernst. Dabei stand er auf, er wollte die Hand auf ihren Scheitel legen, da war die Haube, er hob sie sacht ab.

»Wann war das, daß du ihm schriebst?«

»Zwischen Ankunft und Vaters Tod, in dieser einen Woche. Warum denn?«

Sie dachte: – Das hat mir der Russe verschwiegen, als ich ihn bei den Edelsteinen traf. Warum? … Und warum mußte Eduard den Menschen, grade diesen beschwören? Sie sagte:

»Eduard?«

»Du bist ja blaß!«

»Warum hast du den Russen berufen?«

Er ließ die Hand von ihren Locken, er schritt, mit seinen langen Beinen, zweimal die ganze Länge des Zimmers ab, dann sagte er, vor ihr, unruhig:

»Tja, warum? Nicht wegen Fürsorge und Bibliothek. Sind damals nachts nach Wien gefahren, da gab's noch prinzipielle Fechterei. Wollte mich dieses Explosivstoffes versichern. Hygienische Maßregel. Trägt die Zukunft in sich, der Mann, und wir – wir wollen ja das Unmögliche möglich machen, mitten in Deutschland, als die ersten, die einzigen: du und ich!«

»Willst du denn die Revolution?« fragte sie ruhig.

»Dann hätte ich doch verzichtet und dich nicht heut mit dem Ringlein beunruhigen müssen! Ich will – den Ruf des Unzufriedenen immer an meinem Ohre! Ich will, wenn wir uns hier modernisieren, immer die Stimme hören, die sagt: Das ist alles noch nichts! Sergjewitsch als gotischer Dom, sozusagen, quand vous excuserez le mot affreux!«

Und während vor ihm die Gestalt des schönen Russen auftauchte, drehte er an seinem neuen Ring. Diana stand auf, sie sagte entschlossen: »Du bist jung und ich bin auch noch jung! Wir wollen ein Werk aufbaun und eine holde Bahn! Wen wir brauchen, den wollen wir verschlucken – und wenn es ein Bombenwerfer wäre!«

Sie stand vor ihm, ihr braunes Auge stach vogelhaft in sein blaues. Die Welle vollen Glückes wankte durch seinen gestrafften Körper. Er sah nur noch die junge Frau vor sich, die ihm nach langer Zögerung nun zufallen sollte, und wie sich Krepp und Schwärze um sie hüllten. Langsam griff er nach ihrem Halse, er löste die Brosche, sie hob die Arme halb, sie lächelte dem Liebesspiel entgegen. Mit gleichmäßig sorgsamer Gebärde hob er die Zeichen der Trauer von ihren Schultern, einen doppelten Schleier, bis er hinter ihr niederfiel. Er sah sie an, mit leicht zuckenden Lippen.

Plötzlich warf er sich in ihren Busen.

 


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