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Zweites Kapitel

Als Scherer im Vestibül des Ministeriums seinen Mantel ablegte, drang das wohlerzogene Gesumme vieler auf einen Ton abgestimmter Menschen zu ihm herunter, aber ein Blick in die Garderobe zeigte ihm, daß nur wenig Damen dabei sein konnten. Seit die Baronin Mühlwerth endlich dies Haus ihrer Sehnsucht hatte beziehen dürfen, führte sie eine neue Art des Empfanges ein, ähnlich einem Bierabend für Herren, bei dem ihr aber einige Damen die Möglichkeit des Erscheinens gewährten. Diese Kunst der Mischung hatte sie mit der instinktiven Präzision einer hervorragenden Köchin ausgebildet, sie wußte, indem sie Witwer, Junggesellen, Durchreisende bevorzugte, wieviel und welche Frauen dazu auszuwählen wären, um ihr den Ruf der streng modernen Frau zu lassen, ohne ihr für einen solchen Abend Konkurrenzen an Geist oder Schönheit aufzubauen.

Scheinbar besaß sie beides, aber beides war zweiter Klasse, und als Scherer ihr jetzt die Hand küßte, fiel ihm wieder deren Größe und Gewöhnlichkeit auf, obwohl er sie nach seiner Gewohnheit nur in die Nähe eines symbolischen Kusses heranführte.

»Sie sind spät,« sagte die große, gelbgekleidete Ministersfrau, die unter einem Kronleuchter die Mitte des dunkelgrünen Saales hielt und vielleicht nicht ganz zufällig neben der Büste des Monarchen stand. »Und wenn Sie sagen wollen, daß Sie mich längst suchen, so stimmt es nicht, denn erst vor zwei Minuten haben wir, mein Mann und ich, die traditionelle Aufstellung als Torlöwen verlassen, die ja auch wir beziehen, als wären wir noch immer dieselben Menschen wie vor fünfzig Jahren. Oder soll man empfangende Wirte lieber als Sphinxe bezeichnen?«

»Wenn Ihre Salons Ihnen weniger Rätsel aufgeben als Sie Ihrem Salon, Baronin, so müßte ich die Wirte beklagen und die Gäste beleidigen. Guten Abend, Durchlaucht.«

Scherer gab diese Antwort in einem öligen Tone, und als er im nächsten Augenblick dem Prinzen Eduard die Hand reichte, den die Baronin noch nicht losließ, sagte ihm sein stummer Blick: »Verzeihen Sie diese Antwort eines Coiffeurs!«

Der Prinz, immer zu Bosheiten aufgelegt, die er bis an die Grenze einer retablierbaren Zweideutigkeit vorschob, sagte, während er der Baronin von rückwärts in den tiefen Ausschnitt blickte und diesen Blick nur Scherer kundgab:

»Die schönsten Rätsel liegen bereits gelöst und hell im Licht dieser elektrischen Krone!«

Die Baronin drehte sich rasch zu dem langen Prinzen um, der nun aber seinen pointierten Blick von ihrem schönen Busen nicht schnell genug erhob und nur durch die natürliche Eitelkeit der Frau gerettet wurde. Denn sie nahm es für ein etwas laszives Kompliment, das zurückzuweisen sie ihr modernes Bestreben hinderte, und so, in leichter Verwirrung, nahm sie die Arme der beiden Herren und sagte ganz sinnlos, konventioneller als sie wußte: »Sie werden hungrig sein!«

Mit erstarrtem Lächeln geleiteten diese beiden Skeptiker die Dame ans Büfett, bis es ihnen gelang, sie hinter zwei aus Fracks gesteiften Kulissen zu verlieren. Dies war nicht schwer, denn hier drang alle Welt vorwärts und wer sich nach siegreicher Eroberung mit seinem über die Köpfe der Kämpfenden jonglierten Teller zurückzog, wurde von den Vorwärtsstrebenden wie ein mit großem Stern entlassener Vordermann willig durchgelassen. Denn Hunger und Wille, dicht an die Tafel heranzukommen, waren bei solchen abendlichen Empfängen in den altmodisch verblaßten Salons des Ministeriums nicht geringer, als tagaus tagein und so durch die Jahrzehnte in den Hunderten papierwütiger Bureaus, kleiner Stuben und Kanzleien, wo zwischen Doppeltüren, Seitenstiegen, Haustelephonen, machthungrig und beutegierig eine Generation nach der anderen sich in Stellendurst von Staats wegen abnützte. Niemals aber trat das Drängen, Überholen, Beiseiteschieben unter den gesitteten Bewohnern dieses kleinen politischen Raubtierhauses so sichtbar zutage, wie bei solch einem Sturm aufs Büfett, wo an Stelle lautloser Intrige der alte Offensivgeist die Nachfahren tapferer Offiziere ergriff.

»Und nun hätten wir uns eine Gänsebrust redlich verdient,« sagte der Prinz um eine Nuance zu laut und bediente Scherer, der ihn bei dieser Zweideutigkeit mit stillem Humor ansah. Dieser sagte nachdenklich:

»Warum wünschen gesunde Frauen sich durchaus anders auszuzeichnen als durch ihre Hüften! Wieviel Kinder hat diese Frau?«

»Kaum genug, um ihren Busen zu beruhigen,« sagte der Prinz und zerbrach eine Salzstange, »und keinesfalls einen ordentlichen Mann! Wenn diese Leute gottlob nicht stark genug sind, den Staat durch ihren roten Dilettantismus zwischen Rouge und Noir zu schädigen, so sind sie doch zu schwach, um ihre Narrheiten gegenseitig zu paralysieren.« Er äugte hinüber zu der lebhaft empfangenden Wirtin. »Diese Spielhagensche Frau im Sezessionsumschlag, dieser Burgtheater-Minister, der immer denkt: Wir Pioniere! – sagen Sie, Herr Scherer, wäre dergleichen in Ihren Betrieben möglich? Ich werde immer etwas seekrank, wenn ich die gezuckerte Salzluft falscher Modernität spüre!«

Scherer zog den Prinzen mit den Augen in eine Ecke, wo sie, ihre Teller in Brusthöhe haltend, ungefährdet weitersprachen.

»– Und doch«, erwiderte er, »scheint der gegenwärtige Pächter dieses Hauses das Maximum dessen, was unser stets nur schrittweise Wandel schaffender Geist von oben sich leisten und uns bieten kann. Sehen Sie nicht dort die beiden Sozialisten?«

»Kolossal!« sagte der Prinz mit ironischem Staunen. »Man hat die zahmsten gewählt, instinktiv ziehen sie sich auch schon in den blauen Salon zurück und um elf werden sie dort mittels Mimikri bereits unkenntlich sein. Übrigens stehen sie in bemerkenswerter Distanz vom Büfett, das dort von den Agrariern symbolisch bedrängt wird. Ja, heute abend kann mein hoher Chef zu seiner etwas echauffierten Gattin sagen« – und er kopierte eine hohe bewegliche Stimme –: »Eine neue Zeit, Gertrude! Zwei Sozialisten, eine expressionistische Malerin, ein staatsfeindlicher Nationalökonom und – wie sagte Goethe bei Valmy?: Wir sind dabei gewesen!«

»– Immer retiré, die Hochfinanz!« sagte die hohe bewegliche Stimme wie ein Echo, und ein glatter Herr mit vielen Orden schüttelte Scherer mit übertriebener Kordialität beide Hände. Mit gewandter Schnelligkeit hatte sich der Minister von rückwärts zu den beiden durchgeschlängelt, vielleicht um eine Kritik zu unterbrechen, die er über den Saal hinweg in diesen vier Augen sah, doch ohne im Herankommen etwas zu bemerken.

»Unbestechlich, ordens- und titellos, unabhängig an Gut und Gedanken, ein König ohne die Last einer Krone: das nenn' ich die wahre Freiheit des zwanzigsten Jahrhunderts! Wie? Oder soll ich die spöttisch gekräuselte Oberlippe des Prinzen als eine Aufforderung ansehen, vom einundzwanzigsten zu sprechen? Ja,« fuhr er lauter fort, denn ein Wandspiegel hatte ihm verraten, daß dicht hinter ihm eine Gruppe linker Parlamentarier stand, »es kommt eine Renaissance in Preußen und wie wäre ich glücklich, könnte ich solche Köpfe zur Mitarbeit bestimmen!«

»Eure Exzellenz wissen,« sagte Scherer kalt, »daß ich unsere Unternehmungen nie überschätzt habe. Vorläufig aber bin ich dort noch nötig.«

»Unpatriotisch, Teuerster, und im höheren Sinne sogar unsozial! Was meinen Sie?«

»Je unsozialer,« sagte der Prinz, »wenn ich widersprechen darf, um so unabhängiger bei Erprobung zukünftiger Ideen, die man mit gekräuselter Oberlippe begrüßt.«

»Sagen Sie das nicht bloß, weil Ihnen die Mühe des Regierens für alle Zeiten von älteren Brüdern abgenommen wird?«

»Hätte mich eine unglückliche Erstgeburt zum Thronerben bestimmt, ich würde Herrn Scherers Rat meinem kleinen Lande nicht dadurch verdünnen, daß ich ihm ein Portefeuille aufhalste oder ein Mandat. Finanzmännern und anderen dichterischen Naturen sollte man die Kreise ihrer Phantasie nicht durch Ämter stören.«

»Immer paradox und somit immer produktiv! Was aber diese dichterischen Naturen in der Realität betrifft, gleich hör' ich einen auf dem Gange, wie Mephisto sagt. Haben Sie schon Franklin gesehen, den Seefahrer, Konsul, Physiognomisten, österreichischen Dichter und Denker, der dort bei meiner Frau steht?«

»Er lacht,« sagte Scherer leise und blickte aufmerksam hinüber.

»Er ist grau und gebräunt,« sagte der Prinz.

Franklin, der von der Baronin los wollte und Scherers Kopf entdeckt hatte, sah mit vollem Blick zu ihm hinüber, und eine Welle freundlicher Gesinnung schien aus diesen schwarzen Augen über die gezehrten Wangen bis in den gestutzten Spitzbart zu verrieseln. Er war hager und braun, wie Menschen, die viel im Freien leben, und sah, wenn er nachdachte, klüger aus, als Gott ihn gewollt haben mochte. Mit Furchen, Buchten, Kurven hatte ein reiches Leben sich in seine Wangen gezeichnet, aber der milde Brand dieser Feueraugen ließ auf keine Entsagungen schließen, auch wo man Kämpfe verloren hatte.

»Sie sehen zu Prinz Eduard hinüber,« sagte die Baronin, die immer falsch riet. »Kennen Sie ihn aus dem Orient?«

»Er steht bei Seiner Exzellenz,« klang Franklins dunkler Bariton zurück.

»Ja, und bei Scherer.«

»Wer ist das, bitte?«

»Scherer kennen Sie nicht? Dann fehlt Ihnen ja ein Stern in Ihrer Sammlung!«

»– Ein Humanist?« fragte Franklin leise, doch deutlich zu sich selbst, als stände er allein. »Sieht aus wie von Holbein – Hornbrille schadet nichts, scheint eingewachsen – und doch, deutlich ein Mann der Tat. Da – wie er sich gegen den langen jungen Mann wendet, dessen Lippen nur eine Bosheit so gekräuselt haben kann, und quittiert, offenbar ernsthafter als die Stunde vorschreibt …« Und schauend, schließend, vergaß er, daß er mit der gastgebenden Ministerin sprach, vergaß Saal und Exzellenzen, seine Absichten und Interessen an diesem Abend; er sah nur, erforschte, erdrang sich das verschlossene Wesen dieses Fremden und hörte kaum mehr das flackernde Auf Wiedersehn der Dame.

Aber da hatte ihn der Minister schon geholt und mit der Lauheit vorgestellt, die seinen Besuchern nicht Zeit ließ, sondern beständig den geistigen Mittler machte:

»Ecco!« sagte er nach Nennung der drei Namen. »Ein afrikanisches Beispiel gegen die These des Prinzen, daß man bei originalem Geiste unsozial wird. Oder mögen Sie in der Cella dieses Tempels von jenem Edleren nichts hören?«

»Hier«, sagte Franklin ungeniert, »ist doch wohl eher die Krippe der Priester. Übrigens trete ich für alle meine Sonette ein, auch für die alten, die nicht so original sind als sie sollten.«

»Stolz bescheiden wie der Tempelherr,« sagte der Minister mit falscher Herzlichkeit, und schien, auf eine andere Gruppe steuernd, auf den Schienen seiner glatten Banalitäten weiterzufahren. Mit schweigendem Spotte blickten ihm die drei Männer nach, ohne sich zu verraten.

»Sind wir uns nicht in Zanzibar begegnet?« fragte Franklin den Prinzen in seiner unmittelbaren Art.

»Leider nein. Bin äquatorial völlige Jungfrau. Müßte mein Bruder Stephan gewesen sein.«

»Gewiß, ich glaubte –«

Scherer beobachtete ihn und meinte zu spüren, daß die Frage mit Absicht falsch gestellt und nur eine etwas grobe Anknüpfung war. Doch Franklin war einfacher, als Scherer dachte und bei aller Schlauheit ganz ehrlich. Nur war in ihm bei jener zynischen Antwort ein Mißtrauen gegen den Prinzen aufgestiegen, das in seinem Anblick sich schon vorbereitet hatte, er nahm ihm seine eigene Verwechselung übel, Stimme und Tonfall waren ihm verdrießlich, verstimmt blickte er zu Scherer hinüber, der dann auch half:

»Dann dürfen wir, nach Ihren Worten, also von alten auf neue Verse hoffen? Oder bringen Sie nur Kokosnüsse und k. k. Verordnungen mit?«

Sein gutwilliges Lächeln gefiel Franklin, und nur ein Wettspiel wollte er eröffnen, als er widersprach: »Nur Verse, leider.«

»Warum sprechen Sie so?« sagte Scherer noch lächelnd.

»Als Dichter darf ich wohl die Handlung überschätzen, genau wie Sie als Handelnder offenbar die Dichtung – oder mindestens meine.«

»Weder Ihre, noch eine,« sagte Scherer ernster. »Alles in der Welt kommt auf vollkommene Sonette an.«

»Auf vollkommene Kokosnüsse, sollt' ich meinen.«

Sie lachten, aber nur wie zu einer kleinen Pause, bis Scherer sich mit Laune an Eduard wandte:

»Und wer hat nun recht? Verkünden Sie, Pythia, die Wahrheit. Ich unterwerfe mich.«

»Ich nicht,« sagte Franklin kurz, doch ohne Feindschaft.

»Hören Sie?« sagte Eduard und wippte ganz leise. »Recht hat offenbar, wer das Orakel ablehnt, denn der ruht in sich.«

»Ich lebe zwischen Orakeln,« sagte Franklin, »und stelle alle Tage ein halbes Dutzend Fragen, – allerdings an die Götter …«

Scherer lachte: »Sie weichen vergebens aus, denn der Prinz führt seine Familie gewiß auf Thor oder Wotan zurück.«

»Pas trop mal,« sagte Eduard, der sich in seinem anarchistischen Empfinden doppelt getroffen fühlte. »Dergleichen macht immer nur der jüngere Adel, der nicht regiert, etwa Lord Byron. Wir Älteren rechnen nur nach Jahrhunderten.«

Der Prinz brachte das so spöttisch heraus, daß es in keinem Sinne hochmütig wirken konnte, aber Scherer griff ihn beim Worte:

»Also ginge die Linie von den Göttern über den Edelmann zum Dichter?«

»Und vom Dichter wieder zu den Göttern,« schnarrte der Prinz in seiner Art. »Kurve nach unten mit Schwung nach oben. Looping the loop als Mythologie. Herr Franklin hat auf alle Fälle gewonnen.«


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