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Neuntes Kapitel

Am nächsten Morgen trat Sidney in das Wohnzimmer seiner Schwester, während sie frühstückte.

»Unmöglich!« rief Diana. »Sidney morgens halb neun? Was ist geschehn?«

»Und ich werde von heut ab täglich um neun kommen, wenn du es erlaubst und dein Chef dir eine Stunde schenkt. Es hängt von dir ab!«

Er sprach, wenn auch leise, mit einer Entschlossenheit und, soweit es seiner weichen Art möglich war, mit einer Frische, die sie an dem Bruder überraschte.

»Bist du verliebt und mußt in acht Tagen Serbisch von mir lernen oder Türkisch, weil sie nichts anderes versteht?«

»Darf ich schon rauchen?« fragte er und hatte bereits Feuer. Er setzte sich heut nicht auf seine müde Weise mit sehr hochgezogenen Beinen, eher wie ein Reiter, beide Füße auf dem Boden, kniff die Augen etwas zu, wie er zu tun pflegte, wenn er zu zeichnen anfing und sagte:

»Wolltet ihr nicht früher, Vater und du, ich sollte modellieren?«

»Mich – willst du modellieren?«

Er antwortete nicht. Diana stand auf, ging ans Fenster, trommelte gegen die Scheiben, schlug mit dem Fuß leise auf den Teppich und blieb so eine Weile schweigend stehen. Dann wendete sie sich zurück, kreuzte die Arme, blickte ihn an, der unbeweglich saß und sie fixierte, und sagte endlich ruhig:

»Sidney! Hast du einen Auftrag? Bitte! Bleib sitzen! Sei nicht gleich böse! Du hast keinen Auftrag? Ehrenwort?«

Und sie ging auf ihn zu wie ein junger Mann, streckte ihm die Hand hin und er schlug ein, leicht beleidigt, mit schrägen Lippen und hochgezogenen Brauen. Sie atmete auf, dann sagte sie:

»Gut. Dann will ich dir Modell stehen. Ich nehme dich aber beim Wort: jeden Morgen von acht bis zehn.«

Er lächelte, seine verführerischen Linien formten sich in dem schönen Oval des weichen Gesichtes, und als er, leise bittend, erwiderte: »Ich sagte neun!« lachte Diana auf, umfaßte ihn plötzlich und küßte ihn in den Nacken. Aber wie er sie auffing, wie er sie ganz gegen seine Art festhielt und heftig an sich zog, setzte Dianas Herz eine Sekunde aus, Blick und Seele verdunkelten sich, sie schloß an der Wange des Bruders das Auge. Dann machte sie sich los.

»Wo werden wir arbeiten? Es muß sehr gut geheizt sein, und hier zieht es vom Erker.«

»In deinem Schlafzimmer?«

Wieder stockte ihr Puls. »Ja,« sagte sie dann. »Wann fangen wir an?«

»Morgen!«

»Willst du vorher zeichnen?«

»Nein. Gleich in Ton, denk' ich.«

»Gut,« sagte sie und, nach einer Pause, mit Betonung: »Natürlich gehört die Arbeit mir!«

»Wenn sie glückt,« sagte er unsicher.

»O nein! Auf jeden Fall!«

»A disposition!«

Als er fort war, blieb sie mit schweren Gedanken zurück und, wie ihr schien, mit schweren Beinen, so rasch setzte sich alles Psychische in ihren Gliedern fest. Ein Auftrag war es nicht. Doch irgendwie schien es gefährlich. –

Sidney arbeitete wie im Fieber. Seine sonstige Art, zögernd, undiszipliniert, in willkürlichen Absätzen zu zeichnen, seine karikierende Weise, seine skizzenhafte Technik, alles schien verwandelt. Als er am nächsten Morgen Punkt acht an ihre Türe klopfte, elegant, als wäre es zwölf, fand er Diana in einem voll durchwärmten, fast zum Wohnraum verwandelten Schlafzimmer, er fand ein Postament von Holz auf dem mit einem Tuch geschützten Teppich, sie selbst im faltenreichen Mull der Atalanta, fast nackt, und nur der Köcher lag noch beiseite. Sidney war verwirrt, als er kam, er lächelte, er packte seinen Ton aus, er blickte kaum zu ihr hin, er suchte anzufangen, nahm auf, legt' es fort, blickte nun voller hinüber und sagte endlich, indem er alles wegtat:

»Nein, Diana. Nicht so! Ich will – Ich wollte – ich möchte deinen Akt modellieren!«

Sie zauderte. Vom Kopf zum Herzen sanken die Gedanken, vom Herz zum Kopfe stiegen die Gefühle, Verwirrung machte sie schwer. Durch Jahre hatte Diana bei jeder Begegnung, vollends wieder in diesem Winter, den Bruder zur Arbeit zurückzuleiten getrachtet. Vergebens suchte sie auf solche externe Art ihn seinem eleganten Nichtstun zu entheben, da sie den Gefahren und Folgen dieses unklaren Lebens intern nicht zu begegnen wußte, und fühlte doch das Unzulängliche solcher Bemühung. Niemals sprach er ihr von seinen Freunden, und sie wußte nicht einmal, ob sie deren Bekanntschaft wünschen sollte. Scherer hatte ihr zuweilen über Sidney berichtet, aber so vorsichtig, daß sie nicht weiter fragte.

In seinem plötzlichen Plane, sie zu meißeln, hatte sie dann den Beginn einer Krisis bemerkt, die sie auf keinen Fall unterdrücken dürfte, grade weil sie fühlte, ihre Erscheinung hätte auf diesen Jüngling nicht nur artistisch gewirkt. Als Schwester konnte sie der Sturm einer kurzen Umarmung erschrecken. Aber sie war zu mutig vor Gefahren, zu stolz für halbe Entschließungen und noch dazu für Sidney zu mütterlich, um nicht entschlossen alles zu tun, was ihn zur Kunst und hier zugleich zur Natur zurückführen könnte.

Wie sie in diesen Wellenschlägen des Gefühles seinen herrischen und dennoch bittenden, diesen hastig fordernden Blick in seinen Katzenaugen erkannte, griff sie ohne Antwort nach ihrem Gurt, hakte den kurzen Schleier ab und stand, nach wenig Augenblicken, mit herabhängenden Armen, still und nach innen schauend, vor ihm da.

Mit Hast und wortlos hatte er nach dem Ton gegriffen und nun in fünf einander folgenden Morgensitzungen zu bilden versucht, was er sah und soviel er vermochte. Nach einer oder zwei stumm verarbeiteten Stunden war er gegangen, die Statue in nassen Tüchern zurücklassend, war wiedergekommen, wieder gegangen. Nur ihr Profil hatte er erbeten und daß sie schreiten und den rechten Arm halb heben möge. Er hatte kaum gesprochen, zu andern Stunden war er nicht wiedergekommen.

Sie selbst hatte die Arbeit nicht näher betrachtet und selbst von ihrem Platze aus nichts zu erdringen versucht, was nicht der durch die Stellung erschwerte Überblick ihr zeigte.

Am sechsten Tage nahm Diana, als er abließ, ihren langen Bademantel auf, in dem sie ihn stets empfing, und trat, dicht eingehüllt, vor die ein Viertel lebensgroße Tonform. Sidney stand hinter ihr. Was sie erblickte, war nicht ihr Abbild.

Es war eine Vierzehnjährige, ihr selbst von ferne ähnlich, mit kaum sprießenden Brüsten, mit kargen hohen Knabenbeinen, und auch der Kopf glich eher dem eines jüngeren Bruders, den man aus ihr konstruieren konnte, ohne an Sidney zu erinnern. An dieser seltsamen Umformung, der sie das starke Talent des Autodidakten ansah, schloß sie auf sein phantastisch-erotisches Leben, sie dachte an seine Träume.

Als sie sich nach ihm umwandte, blickte er weg und begann seine Messer und Eisen zu sammeln. Er tat es so eilig und abweisend, daß sie zögerte ihn zu loben, ihr schien, als miede er ihre körperliche Nähe.

»Magst du nicht weiter, heute?«

»All nonsense,« murmelte er. »Es wird nichts mehr – Modell ist nicht zu erreichen. Umwege lohnen nicht. Mach es kaputt. Besten Dank. Adieu.«

Er ging, verwirrt und verließ das unverdeckte Fragment. Als er fort war, begann sie die Arbeit genau zu studieren, und während sie davorstand, in schwankenden Gedanken an sich, an ihn, an dies geträumte Kind, kam Mary herein, um ihr zu helfen.

»Herr Sidney ging heut schon um neun?«

»Ja, Mary. Gib mir mein Jackenkleid. – Nein, das schwarze.«

»Aber es ist ja heute sonnig und wird gewiß warm?«

»Das tut nichts.«

Beim Ankleiden sah die Dienerin die Statue.

»Ist das Herrn Sidneys Arbeit?« fragte sie skeptisch.

»Gefällt sie dir nicht?«

»Was soll es denn vorstellen?«

»Erkennst du es nicht?«

»Nein, das Kind kenne ich nicht.«

Diana war dieser Eindruck wichtig, denn wenn Mary, die sie aufgezogen, nicht einmal ihre Vergangenheit in diesem Ton erkannte, so mochte die Ähnlichkeit noch geringer sein, als sie schon ihr eigenes, voreingenommenes Auge sah.

»Warum hat Herr Sidney grade hier modellieren müssen?«

»Er hat keine Zentralheizung, weißt du.«

»Ja so,« sagte sie, ohne der schwachen Ausrede nachzugehen. Mary liebte Sidney, aber sie war traurig über ihn und wünschte oft den Vater herbei, der ihn streng anfassen müßte.

Nun trug Diana unbesorgt die kleine Statue ins Wohnzimmer und stellte sie im Erker auf. Schwer und einsilbig verbrachte sie einige Stunden tätig in ihrem Bureau, sie fühlte sich ohne Jugend, auch noch, als sie, von dem Schicksal des Blutsverwandten ungern belastet, langsam einem dunklen Abend in ihrem Haus entgegenging. Sollte sie heut ihrem Vater schreiben?

 

»Mein gütiger Vater, ist es ungerecht, daß ich Dir immer schreibe, wenn ich traurig bin? Keine seltene Stunde der Lust, kein Tag des Schwebens über den Dingen, glaube mir, geht hin, ohne daß ich Deiner gedenke und sei es im Traum. Doch dann mag die Hand nicht schreiben, aber Dein Herz, das in die Ferne forscht, sicher spürt es mein Gefühl durch den Äther, und Du lächelst.

Vielleicht spielst Du in diesem Augenblick Schach, es geht auf Abend, Du bist im Klub und Zeitungen liest Du kaum. Daß ich zwischen ihnen arbeite, mag Dir noch seltsamer erscheinen als mir selbst. Jemand sagte, er hätte Deinen Namen in der British Archeological Review gefunden, aber Anlaß und Datum wußte er nicht mehr. Es war mein Beschützer, – wie man früher gesagt hätte.

Stetiger lebe ich, als mein Herz schlägt, aber das Deine ist zu stetig, als daß ihm mein Leben je ganz folgen könnte. Alt möchte ich alt sein und weise wie Du, und doch sind die Jahre in mir so stark, daß ich die Tugend verachte, so oft ich ihr diene, wie jetzt.

Gehst Du im Frühling wieder nach Venedig? Ich möchte an Deiner Seite sitzen in der schwarzen Gondel

Diana«

 

Als, gegen Abend, Prinz Eduard bei ihr eintrat, sah er das neue Stück in diesem, ihm vertrauten Raume nicht, denn der Erker war nicht beleuchtet. Nach dem Abende der Atalanta war er nur einmal heraufgekommen, ohne sie zu treffen und heute, eine Woche später, kam er ungemeldet. Er sagte:

»Eine Ewigkeit oder, wie einer meiner Lehrer sagte, eine Dekade, daß ich Sie nicht sah. Seit unsere oder vielmehr Ihre Trioabende sistiert scheinen … Es kam soviel ›Saison‹ dazwischen … Und ich bin nach der neulichen Tierquälerei nicht einmal als Komiteeherr mit dankenden Rosen angetreten. Nun, die Presse hat mich ja wohl vertreten, aber Sie haben sicher wieder nichts gelesen.«

»Ich lese höchstens die Konkurrenz,« sagte Diana, und ging auf und ab, »und nur in den Rubriken: Unfälle, Landwirtschaft und Wetterkunde. Herr Scherer sagte mir, die Klerikalen hätten in ihrem Ballbericht bewiesen, daß damals die Jägerinnen bekleidet waren.«

»Was ich an Nekrologen über Sie fand, war noch peinlicher: es war mit Gefühl geschrieben. Einer schilderte den Traum, den Sie ihm geschenkt hätten, obwohl er gar keine Zeit gehabt haben kann, für das Morgenblatt zu träumen. Seine Seele –«

»Wenn ich nur nichts von Seele hören müßte, wo es sich um Körper handelt!« sagte Diana allgemein. »Diese Gouvernanten, die uns die Amerikaner herüberschickten, um den Tanz zu läutern, erinnern mich immer an Missionare, die die Neger verderben, indem sie ihre Aufmerksamkeit von der Arbeit auf die sogenannte Seele lenken.«

»Das Fatale ist die Psychologie,« sagte der Prinz.

»Nein,« sagte Diana, die seit der heutigen Morgenstunde immer kritischer geworden war. »Fatal ist nur, daß diese Wissenschaft aus den Händen von Dichtern und Irrenärzten in die trübe Sphäre der Frauen und der Presse gefallen ist. Die Tänzerinnen wenigstens sollten sich weniger damit befassen und die Diplomaten mehr!«

»Zuweilen befassen sich beide miteinander,« sagte der Prinz, »und das wird am Ende auch produktiv!«

»Sie meinen,« sagte sie lachend, »es komme dadurch zu gewagteren Demarchen der einen und zu raffinierteren Intrigen der anderen?«

»Zu rassigen Sprößlingen beider, meinte ich,« sagte der Prinz, »zu deren Bestem dann die schönen Frauen in lebenden Bildern erstarren, da sie fürs Tanzen zu stolz und für die Diplomatie zu gefährlich sind!«

»Könnte man beides ohne Zuschauer machen!« sagte Diana leise.

»Die Bahn ist frei,« sagte lächelnd der Prinz, wies auf den großen freiliegenden Teppich und trat mit einer Verbeugung zurück. »Ich meinerseits verschwinde hinter der Gardine.«

Sie lachte, aber er sagte, indem er in den Erker trat: »Hier fällt man ja neuerdings über minderjährige Mädchen!« Er schlug den Vorhang vollends zurück, und sie beleuchtete nun durch einen elektrischen Druck die Statuette. Der Prinz wurde plötzlich still, er wußte kaum, wie lange er schweigend davor stand. Er riet sofort auf das Modell und forschte, fieberhaft, sekundenlang nach dem Autor. Dann erschien ihm, auf dem Umwege der Umbildung des Modells, Sidney möglich, dessen Karikaturen seinem eigenen Geiste bei gelegentlicher Betrachtung behaglich gewesen waren. Aber er wagte nichts laut und sagte schließlich nur leise: »Recht gut. Beinah pervers. Verzeihen Sie nur. Von wem ist denn – das Kind?«

Er brauchte dies Wort, um jeden Gedanken an Diana auszuschließen. Sie drehte die Erkerlampe ab, ging zurück und sagte ohne Betonung: »Eine Studie. Von meinem Bruder.«

»Ist er auch Plastiker?«

»Er versucht sich jetzt, in Ton.«

»Schade. Er sollte eine Schule besuchen.«

»Treffen Sie ihn zuweilen?«

»Selten.«

»Spielt er?«

»Ich – weiß nicht. Vielleicht – ein bißchen, wie wir alle …«

Wieder fühlte Diana, wie sie Eduards verlegene Miene streifte, jene Beklemmung in sich aufsteigen, die sie stets ergriff, wenn ihre Freiheit durch das Schicksal Anderer affiziert werden sollte. Sie wollte die Spannung dieses Tages loswerden und ging, indem ihr Blick auf den Flügel fiel, darauf zu, öffnete ihn und sagte bittend:

»Spielen Sie mir etwas?«

Eduard, der ihren Gefühlen folgte, erwiderte mit seiner ironischen kleinen Verbeugung, setzte sich und spielte, obwohl er eigentlich Geiger war. Sie saß, durch die ganze Länge des Zimmers getrennt, in ihrem goldbraunen langen Hauskleid, in einem Fauteuil; sie gab die Seele frei. Erst nach einigen Takten erkannte sie, was er spielte.

Es war Debussys romantische Idylle des Faunes, zu der sie ihre Atalanta gebildet hatte. Zärtlich strömte eine Welle der Freude über ihr so schweres Herz, heimlich dankte sie ihm für diese zarte Huldigung, ihre Glieder wurden leichter, langsam erhob sie sich nun und, kaum bewußt, daß es vielleicht das Gespräch und seine Geste auf den freien Teppich war, die sie nun zum Tanzen überredeten, bewegte sie sich langsam, fast statuarisch in ihrem langen Kleide auf und nieder. Er blickte sie nur eben so viel an, um sie nicht zu verwirren, nicht zu wecken, aber sie wußte wohl, vor wem sie ihre heut so ernsten Glieder rührte und deshalb hörte sie nach ein paar Augenblicken lächelnd auf. Er folgte ihr, indem er vorzeitig schloß, aber seine Erinnerung, die wie ein alter Schloßkastellan sein Inneres hütete und ordnete, nahm Bild und Stunde in die Reihe der Bilder auf, und wie er sich dann, stiller als sonst und ohne Scherz empfahl, stand in ihm wie in ihr eine große Fermate zwischen den Gefühlen.


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