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Sechzehntes Kapitel

Über Nacht hatte sich Excelsior, der schlanke weiße Dampfer, dem der Rauch vom Haupte nachwehte, wie der Schleier einer schnell hinschreitenden Frau, in ein Segelschiff verwandelt, das die Frische des Nordwest in hundert weißen Tüchern fing, die sich an diesem Morgen bauschten wie von einem einzigen, unendlich langen Atemzug. Als sie in der siebenten Stunde an Deck kamen, fanden sich die Reisenden in heiterer Überraschung, alle Hälse reckten sich nach oben, noch vor dem Frühstück untersuchte man alles, man fragte, stritt, verlegen gab die Mannschaft Auskunft, und je sicherer sich ein jeder fühlte, um so unbefangener gab er sich hier als Neuling, auf einer Segeljacht, von der man bisher nur gelesen. Scherer, der die großen Rotationsmaschinen seiner Betriebe, Akkumulatoren und Turbinen seiner Licht- und Wärmezentralen so wohl verstand, daß er eine kleine Reparatur gelegentlich selbst ausführte, weniger um seinen Leuten zu imponieren, als um sich seiner sicheren Hände zu vergewissern, ließ sich vom Kapitän die Konstruktion der Segel erklären und vermochte, in technischem Wissen bewandert, vom Bekannten schnell auf das Unbekannte zu schließen. Franklin, der bei den beiden Männern stand, folgte eine kurze Weile den Erklärungen des Seemannes, bald aber war es, als würde sein Intellekt von jenem Willen zu Bildern aufgesogen, der ihn stets unbemerkt befiel, wenn Menschen, in Gruppen oder allein, in neuartigen Stellungen oder Umständen, vor seinem Auge sich bewegten: Bald sah er in den beiden nur noch den Seefahrer und den Schiffsreeder, in den sich Scherer für ihn verwandelte, und unterschied szenisch, wie jener mit plastischen Bewegungen seine Worte verdeutlichte, dieser dagegen, die Hände in den Taschen, sichtbar zu denken anfing und eine Wolke unbekannter Benennungen in die Klarheit bestimmter Methoden der Statik und Bewegung aufzulösen suchte.

Eduard hatte sich indessen mit Wilhelm unter einer Strickleiter gefunden, die im Vorschiff hoch oben am Großsegel hing und auf der ein Schiffsjunge hin und her pendelte, um eine Schnur festzumachen, die sich losgerissen und die er nun weder von der unteren Rahe noch von der oberen erwischen konnte.

»Hol Tau über!« schrie der Maat von unten, »Tau über!« Aber der Junge erreichte sie nicht.

»Ist das Giorgino?« fragte Eduard.

»Weiß der Teufel, wie der verlauste Jung' heißt und wo ihn der Kaptein aufgelesen! Konnte kaum Teller waschen und soll nu man eben plötzlich Segeljunge sein!«

Der Prinz, über die Karriere des Knaben amüsiert, lachte und rief ihm hinauf:

»Tira quell' altera corda!« worauf der Knabe, der wohl das Hamburger Seedeutsch nicht kannte, eine untere Schnur ergriff und anfing zu ziehen. Das erwies sich aber vollends als falsch, denn der Prinz hatte selbst den Seeausdruck mißdeutet, und unter den Flüchen des Maats kam nun oben das Segel erst recht in Unordnung. Wilhelm lachte seinen Beifall hinauf, legte aber, als der Maat ihn unwirsch ansah, gleich seine Jacke ab und erbot sich hinaufzuklettern. Eduard hielt ihn zurück, denn soviel wußte er, daß nur ganz schwindelfreie Menschen ohne Übung in dieser barocken Burg aus Wind und Leinen sich zu erhalten wüßten.

Inzwischen war Kyrill herangekommen, langsam entledigte er sich seines Jacketts und rief zugleich, ohne den Maat zu befragen, den Jungen ab, und zwar mit so ruhigem Befehl auf italienisch, daß dieser sogleich parierte. Als der Junge in der Mitte seines Abstieges jenseits einer Gabelung stand, winkte er ihm, daß er den anderen Weg nähme, schwang sich von den Planken auf die erste Rahe und kletterte nun langsam die Leitern in den Segeln empor. Oben ordnete er erst die falsch gelöste Schnur, ersprang sich die höhere, die die kurzen Arme des Jungen nicht erreichten, und reffte nun das Aufgelöste zurecht, bis das Großsegel oben angezogen war und nun voll Wind bekam.

Der Maat, der den Fremden nicht gehindert hatte, weil er seinem Zugriff eine gewisse Kennerschaft ansah, murmelte mürrisch-zufrieden, puffte dazwischen den Knaben, dem dann Wilhelm heimlich einen Apfel zusteckte, und als der Russe wieder den Abstieg begann und der akute Anlaß und damit das Interesse des Seemanns vorüber waren, wandte sich dieser den beiden Herren zu und sagte, ohne noch in die Höhe zu weisen: »Ein gelenkiger Jung' – und muß auch was gefahren sein!«

Diana, die vom Achterdeck heraufkam, sah, wie sie nun zur Gruppe tretend diese Worte auffing, die Freunde fragend an, aber weder Eduard noch der Maat schienen gelaunt, den Blick zu verstehen, und erst Wilhelm erklärte die Lage, indem er mit schlauem Lächeln in die Segel zeigte.

Nun sah Diana etwas herumklettern, erkannte zuerst an der Kleidung, daß es kein Matrose, und dann am Bau, daß es der Russe wäre. Eine Sekunde lang folgte sie unruhig seinem in der Luft suchenden Fuß, sie wollte: Links! oder Tiefer! rufen, sogleich aber ließ sie es, denn nun bemerkte sie an dem kaum mehr unterbrochenen Rhythmus dieser Tritte die Übung des Kletternden. Sie schwieg und schweigend verfolgten mit ihr die beiden Männer den Kletternden im letzten Drittel; der Maat war in halblautem Selbstgespräch gegangen.

Kyrill sprang auf die Planke und nun, durch die untere Kante des Segels halb gedeckt, zog und strich er neben den zu ihm tretenden Herren an seinen geknitterten Hosen, spannte das Hemd in den Gürtel, breit wie ein Seemann, langsam, ungeniert. Diana, die noch unbemerkt blieb, entging von seinen Bewegungen keine. Die Gelegenheit, einen Mann in der Behandlung seines Körpers zu beobachten, war ihrem am Physischen gebildeten Geist, war ihren allem Körperlichen hingegebenen Sinnen selten gegönnt. Schnell stiegen Erinnerungen an männliche Körper vor ihr auf, die sie zu Pferde, beim Schwimmen, Rudern, Turnen gesehen, wie dies der gesellschaftliche Anlaß oder ein Varieté eben mit sich brachte. Zugleich erschien ihr der schmale Körper eines Majors, der klassische eines jungen Polen wieder, dessen Bau sie einst so entzückte, daß sie sich ihm ergab, um ihn mit dem Auge wie mit den Sinnen zu genießen. Und indem nun Kyrill selbst hinter dem Segel hervorkam und jetzt, etwas verwirrt über die Zuschauerschaft einer Dame, die Mütze von den feuchtverwirrten blonden Haaren zog, dachte Diana mit Kühle: – Ja! Sehr gut aufgebaut.

»Doktor beabsichtigt nämlich Anheuerung,« sagte der Prinz, der mit Wilhelm dazutrat.

»Sie könnten sicher gleich der Kapitän selber werden!« sagte der erstaunte Wilhelm.

»Verzeihen Sie,« sagte Kyrill. Er fuhr sich durch die Haarsträhnen und dann in seinen Rock, den ihm Wilhelm respektvoll hinhielt. »Ich wußte nicht, daß Sie … Ich bin außer Übung.«

»Wie lange?« fragte Diana kurz.

»Anderthalb Jahre.«

»Regatta?« fragte der Prinz.

»Nein, Durchlaucht. Flucht.«

Kyrill gab diese Antwort mit der ganzen feurigen Kälte, in die ihn solche mondäne Begriffe des Nutzlosen versetzten. Eduard fühlte sich etwas betreten und suchte in Dianas Blick Hilfe, die sie ihm nicht reichte, ihre Augen wiesen ihn eher ab. Dies eine Wort Flucht, ihrem eigenen Leben nicht fremd, hatte sie ergriffen, und während Wilhelm mit etwas offenem Munde den ihm immer erstaunlicher werdenden Ausländer anstarrte, überschlug sie die Möglichkeiten seines äußeren Lebens, von dem man an Bord wenig mehr wußte, als daß er nach Sibirien verbannt war, kombinierte und sagte dann kurz:

»So. Sie sind also über Wladiwostok geflohn?«

»Ja. Auf einem amerikanischen Segler.«

»Keinen falschen Paß?«

»Natürlich. Aber kein Geld.«

»Lange? Wochen?«

»Drei.«

»Als Schiffsjunge? Donnerwetter!«

Wilhelm hörte die Antworten des Russen mit steigender Neugier an, Eduard hörte nur Dianas Fragen und wie sie fragte. Diese kurze Art, in einem Dialog einander Feststellungen zu geben, die für beide Teile ähnliche Erfahrungen voraussetzten, diese Sachlichkeit, in der die wenigen Worte fielen, erinnerte ihn an die Redeweise von Artisten, Apachen, Handwerkern, – und mit einem Male sah er eine Gemeinschaft vor sich und begriff, wie das Abenteuer diese beiden fremden Naturen verband.

Der Gong rief zum Frühstück. Schweigend gingen alle vier zur Kajüte, Kyrill neben Diana, Wilhelm und Eduard folgten.

»Meinen Sie,« sagte Wilhelm, »daß er vielleicht schwindelt?«

»Jedenfalls klettert er sichtlich,« sagte Eduard, um in seinen Gedanken ungestört zu bleiben. –

Den ganzen Tag blieb er, soviel er konnte, allein. Aus dem Band Lichtenberg, den er las, aus dem Wetterbericht, den Scherer gab, aus jedem leichten Wort Dianas, selbst aus den Farben des Nachmittages suchte sich Eduards Geist immer wieder einen Weg zu jenem simplen, so seltsamen Morgendialog dieser beiden Menschen, und wo er Kyrill und wo er Diana sah, schienen sie ihm seiner Sphäre ganz entrückt.

Auch der Russe zog sich heute zurück. Lange stand er allein am Heck und blickte, wie so oft, in die Fahrtrinne, als wäre sie ihm das Symbol einer schnell zurückzulassenden Welt. Sein Wesen, das sich Diana schweigend, jedoch mit Mißtrauen genähert, hatte nun zu ihr einen Brückenschlag gefunden. Denn wie ihn alles Gesellige, Elegante an Eduard immer wieder irritierte, so war ihm auch die leichte Geste dieser Frau so fremd und unlieb, wie sie den Prinzen reizte und immer wieder freundlich überraschte, wenn er von ihrem unsozial geheimnisvollen Wesen sich attrahiert fühlte.

Sie selber brachte den Vormittag mit Scherer, die Stunden vor Sonnenuntergang allein zu, und wie sie nun, ein ungelesenes Buch auf dem Schoß, still und träumerisch in dem großen Korbsessel saß, den sie auf Deck besaß, schien sie die Stunde zu vergessen. Als sie der Russe nun noch allein an Deck sah, entschloß er sich, sie anzusprechen, was er bisher vermieden.

»Was lesen Sie denn?« fragte er, ohne jede Anknüpfung, denn er wollte es wirklich wissen.

Diana sah beim Klange dieses starken Organes auf und sah ihn, immer noch in seiner blauen Jacke, vor sich an der Reeling stehen.

»Ich lese nichts,« sagte sie und schloß langsam das Buch. »Es waren Swinburnes Hymnen auf das Meer. Aber heute ist dies nicht sein Meer und so ließ ich's.«

»Versteht Herr Scherer diese Dinge auch?«

Sie lächelte: »Warum?«

»Weil Sie mit ihm über Zeitungen arbeiten. Warum tun Sie das eigentlich, Fräulein Wassilko?«

Diana fühlte, wie eine große Schleuse in ihrem Herzen hochging und rasch und rauschend ein Bassin sein Wasser in ein anderes ergoß. Ihr Name vollends, wie er da, nackt und kalt, von diesen russischen Lippen in die südliche Meerluft hallte, rief sie auf, sich zu panzern. Sie setzte sich grade auf, sie antwortete:

»Weil ich davon lebe, Herr Doktor.«

»Um Geld?«

»Ja, um Geld. Ist es schimpflich?«

»Der Zweck ist klein.«

»Und wenn es nur ein Mittel wäre?«

»Dann fragte ich freilich nach dem Zweck!«

Diana schloß sich noch fester ab und gewohnt, einen Fragenden durch Fragen abzunutzen, sagte sie ruhig und legte nun beide Arme auf die Stuhllehnen:

»Sind diese beiden Dinge bei Ihnen immer eins?«

Sein Mund zuckte. Er sagte laut, beinah heftig: »Immer!« Dann fügte er ruhig hinzu: »Ich diene der Idee und lebe von der Partei, die ihr dient.«

Die Klarheit dieser Antwort überraschte sie, doch um ihm nicht beipflichten zu müssen, fragte sie weiter:

»Und das war immer so?«

»Seit zehn Jahren.«

»Nichts andres gedacht als die Revolution?«

»Und ihre Folgen. Sie ist nur das Mittel.«

Sie schwieg und sah ihm ruhig ins Gesicht. – Noch sind sie schön, seine Züge, dachte sie. Bald werden sie die Male des Fanatikers tragen. Und indem ihre Finger das Buch berührten, umfaßte sie es wie die Bestätigung einer reineren Welt und sagte leise, indem sie aufstand:

»Möchten Sie Ihre Erfüllung erleben!«

»Daran liegt nichts!« rief er lebhaft und trat näher zu ihr. »Vielleicht erleben es erst die Söhne unserer Söhne!«

Ein Doppelsinn, den er mit diesem »unser« ganz unbewußt stabilierte, befremdete Diana, sie trat einen Schritt zurück, maß ihn von Kopf zu Füßen und sagte:

»Immerhin wünschen Sie, daß es Ihr eigenes Blut noch erlebte?«

Ihr Blick weckte den seinen. Nun faßte auch er die Frau in das umbuschte Auge, er durchstieß ihr Kleid mit dem Blick, der Atalanta gesehen, und indem er eine Skala von Gedanken übersprang, sagte er:

»Warum dienen Sie nicht auch einer Idee?«

– … Dem Schicksal, dachte Diana, aber sie sagte: »Sie meinen der Ihren?«

»Ich sehe keinen Sinn in Ihrem Tun. Sie wollen, scheint mir, weder verführen noch glänzen noch steigen noch Kinder haben, wie Frauen Ihrer Schönheit sonst wohl tun.«

Die Kühle, mit der er dies sagte, schloß jede Huldigung aus, und so konnte sie ruhig erwidern:

»Und außer solchen Zielen kennen Sie nichts?«

Er schwieg. Sie wandte sich ab und der Fläche zu, die in den Farben des Abends lag und glühte. – Und dies alles sieht er nicht, dachte Diana, und wenn er es sieht, verachtet er's.

Sie wandte sich ab, um ihre Kabine aufzusuchen, und wie sie nun dem Vorschiff zuschritten, von wo die Treppe hinunterführte, hallte das Flattern der Segel, das leise Anschlagen der Taue an ihr Ohr. Sie blickte empor in die geordnete Wirrnis dieser Tücher, Stangen und Taue und fragte unvermittelt: »War es ein Fischerboot, auf dem Sie damals flohen?«

»Es war ein alter Kasten.«

»Noch von denen mit der sechsfachen Takelage?«

»Fünf übereinander.«

»Schlechte Überfahrt?«

»März.«

»Und vorher – wie ging's durch Sibirien?«

»Renntierschlitten.«

»Ist es wahr, daß sie vierundzwanzig Stunden ohne Nahrung laufen?«

»Zwanzig Stunden, ja, auch mehr! Macht man halt, dann legen sie sich dicht zueinander und schlecken Schnee. Kommt man an eine Jurte, dann führt sie so ein Ostjacke mit schwarzem langem Zopf an eine Stelle, wo Moos wächst. Dort graben sie sich ein und fressen sich satt.«

Sie standen am Kopf der Treppe, als er so sprach, aber während er noch ein weiteres erzählen wollte, kam eine lange elegante Gestalt die Treppe herauf. Es war der Prinz, zum Abend angezogen.

– … Wie zwei Verschwörer, dachte er, wie er ihre Silhouetten so vor dem rascher verdunkelten Himmel sah.

– Wie ein Prinz, dachte Kyrill abfällig, als er das weiße Oberhemd aus dem Schacht leuchten sah.

»Was! Sie sind fertig?« rief Diana, wie wenn sie erwachte.

»S. M. S. Excelsior,« sagte der Prinz auf halber Höhe, »Souper sieben Uhr, Kranzspenden dankend abgelehnt!«

»Und wir waren in Sibirien,« sagte Diana und wandte sich höflich dem Russen zu, mit kühlem Danke.


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