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Siebentes Kapitel

Zwischen zwei Orchestern, die sich abwechselnd von den beiden Flanken der Riesenhalle anbliesen, zwischen den Aufmunterungen von achtzig Komiteedamen, die auch ohne ihre kleinen Schleifen durch geschäftige Aufgeregtheit sich legitimiert hätten, zwischen unbegründeten Lampions, erstarrten Festons, kuriosen Bonbons, zwischen mannigfach mühsam erdachten, nun kaum bemerkten Vorbereitungen verlief der Ball zur Hebung und zum Besten lustlos, ohne Antrieb und Abenteuer, und während die Arrangeure gute Absicht zeigten, ihre wohltätigen Gäste zu amüsieren, setzten ihnen diese jene gewisse norddeutsche Bockigkeit entgegen, die durch die Blasiertheit der überfütterten Hauptstadt nur formal gelindert wurde.

Nach elf Uhr sahen sich diese zweitausend Menschen, die der wollüstigen Statistik der Kassenwartsdame einen Reingewinn von vierzigtausend Mark bedeuteten, in die hintere Hälfte der Halle zusammengedrückt, und als selbst ein verzweifelter Geschwindmarsch mit Pauken, Triangeln, Posaunen das gewitterhafte Hereinrollen von Hunderten zusammengefaßter Stuhlreihen nicht mehr zu übertäuben vermochte, konstatierten die jungen Leute, in ihrem zerknitterten Programm seufzend, daß jetzt der gebildete Teil des Abends überstanden werden müßte.

»Lebende Bilder, mit Musik, im Stil der Epoche. Warum sind denn die Namen der p. t. Darstellerinnen weggelassen? Wäre doch einzig interessierender Faktor. Kennst du wen?«

»Ich gehe,« erwiderte Sidney, dem diese Schaustellung peinlich, der aber doch entschlossen war, die Schwester unbeobachtet anzuschauen. Wie eine Statue liebte er Diana, und sah er sie zwischen Verehrern, so forderte sein Eigensinn volle Kälte von ihr gegen alle Männer. Seine Erotik ertrug den Gedanken nicht, dies Mädchen von demselben Blute könnte Objekt und Opfer männlicher Triebe sein, und wenn er für sie eine Freundin wünschte, so konnte ihm Diana grade diesen Wunsch nicht erfüllen. Denn wie sie die Frauen mieden, die ihr meist mißtrauten, so konnte auch sie nur sehr selten und mit völlig anders gearteten Wesen ihres Geschlechtes Fühlung gewinnen. Nach Jahren war Olivia die erste.

»Also offiziös ist man doch dabei,« sagte an einem andern Saalende eine breite Stimme, um Olivia zu begrüßen. »Warum haben Sie uns nur Ihren Namen nicht geliehen, liebe Freundin,« fuhr die Baronin Mühlwerth fort, indem sie sich dicht hinter Olivia setzte.

»Ich lebe ja noch sehr zurückgezogen,« sagte einsilbig die Gräfin.

»Ja,« sagte die Ministersfrau flüssig und sinnlos, »bei solchem Anlaß finden sich die Geistigen eben doch ein, so sehr sie sonst den Amüsements der Oberfläche sich überhoben fühlen dürfen. Die Idee bricht doch am Ende durch!«

Prinz Eduard, der eben mit Scherer zusammengetroffen war, versuchte ihn zu verlieren, dieser aber hielt ihn auf eine herzliche Art zurück und nötigte ihn in seine Loge, als der Saal sich verdunkelte. Ein hübsches Mädchen trat als Prolog an die erleuchtete Rampe und versuchte vergebens dem unruhigen Saale mitzuteilen, was die Frau für die Menschheit geleistet hätte. Man klatschte ihr Beifall, sie dankte angenehm, die Musik, vor die kleine Bühne placiert, fiel mit dem priesterlichen Maestoso aus der Zauberflöte ein, und Semiramis in Gold und Steifheit saß als älteste der bedeutenden Frauen, sichtlich regierend, auf einem goldenen Thron, den assyrische Löwen flankierten, während vier Sklavinnen dicht bei ihr kauerten und einige Große des Reiches kniend eine Platte überreichten, die offenbar die Unterwerfung des halben Asien aussprach.

»Wer ist denn die gestrenge Dame?« fragte Scherer den hinter ihm stehenden Prinzen, über sein Opernglas weg, »Sie sind ja wohl im Komitee?«

»Eine Frau Meister oder Meiler, die an der Hand von Deussens Werk über die Keilschrift bewiesen hat, daß Semiramis keineswegs verschleiert ging, daß sie aber, wenn umgekehrt die Anschauung eines andern Gelehrten sich im Schoße des Komitees durchsetzte, gern bereit wäre, zurückzutreten.«

Während Scherer lachte und alle Welt klatschte, ging der Vorhang nochmals hoch und gab die unverschleierte Semiramis nochmals den viertausend Blicken preis, die die Meisterin von ihrem Throne aus unter stürmischen Zuckungen der Seele genoß.

»Sind Ihre Pausen lang?« fragte Scherer und ließ offen, ob er es wünschte.

»Bin nicht im Bilderausschuß, völlig irresponsabel, habe nur durch geheime Kanäle den Humor davon. Hören Sie, da sind schon Schumanns Hebräische Melodien, sogleich wird Holofernes unter dem Eisen der Frauenbewegung fallen!«

Schlafend lag, im zweiten Bilde, ein großer Mann auf einem Ruhebette der Renaissance und ahnte nicht, daß mit seinem eigenen langen Schwerte soeben eine hohe dunkle Jüdin im Begriffe stand, ihn zu fällen. Laut brauste der Beifall über die schöne Gruppe hin, die man nach Caravaggios Bild gestellt hatte.

»Ist sie nicht echt?« sagte in den vorderen Reihen die Baronin selbstgefällig, halb zu Olivia, halb zu den Umsitzenden. »Es ist die Tochter des Kommerzienrates Goldmann. Konfessionelle Vorurteile wären ja lächerlich.«

»Hat Goldmann keine?« fragte Franklin. Die Baronin lachte, um unverletzbar zu erscheinen, und sagte leise: »Sie haben recht, Doktor. Der Vater wollte anfangs, sie sollte nicht Judith, sondern lieber Maria Theresia darstellen!«

Als vor dem dritten Bilde die Celli mit Glucks A-dur-Arie aus Iphigenie einsetzten, rückten die jungen Mädchen enger zusammen, die älteren Herren nickten gefällig, alle Welt schien sich nunmehr zu Hause zu fühlen, man spürte Kaulbachische Luft, und wie nun eine große und in erstaunlichem Faltenwurf gehüllte Dame die Griechin vorstellte, wie sie den nach rückwärts wegfliehenden Bruder mit milder Geste heilen will, bemerkten einige sogar das Fehlen der Furien auf der Linken des Bildes.

»Wirklich gut,« sagte Scherer. »Die Eumeniden waren wohl zu nackt?«

»... Offenbar,« sagte Eduard zerstreut und Scherer fehlte einen Augenblick die boshafte Antwort des Prinzen. Um seines Sujets und seiner Bekanntheit willen gefiel das Bild so sehr, daß es zu dreimaligem Aufziehen des Vorhanges kam und einige Zuschauer feststellten: »Bisher war das entschieden das Beste! – Atalanta?« sagten sie dann. »Entschuldigen Sie, aber ich weiß nicht mehr genau …«

»Aber das ist doch die Jägerin!«

»Richtig! Kalydonischer Eber! Meleagros! Pardon!«

Die Musik schaffte einiges Befremden, sie klang absonderlich, auch Kenner wußten den Autor nicht zu nennen. Es war Debussy. Auf Dianas Wunsch, die die Vorbereitung dieses Bildes allein übernommen, spielte man »L'après-midi d'un faune« und spielte es einige Minuten länger, als sonst vor den Bildern üblich war.

Als dann der Vorhang aufging, war das Publikum einen Augenblick verdutzt. Hatten alle früheren Bilder bewegte Szenen dargestellt, so stand jetzt auf einer verkürzten Bühne, vor der stark roten, glatten Wand eine einzige ausschreitende Gestalt, und noch dazu reliefartig in scharfem Profil, auf dem linken Fuße ruhend, den rechten spielend, mit einem großen Hunde unbeweglich da.

Diana trug, in genauer Wiedergabe jener Statue des Louvre, wie sie in ihrem Zimmer stand, ein Stirnband, marmorgelb, und in gleicher Farbe, in dichten kleinen Falten einen Chiton von der Brust bis gegen die Knie, so gelegt, daß es schien, als bliese der Wind den dünnen Stoff leicht an und entblößte ein Stück des linken Oberschenkels. Auch die Sandalen, der Gurt unter der Brust und im Rücken der Köcher, in den sie mit der Rechten griff, waren von jenem parischen Gelb, das mit dem Rot der Wand, dem Grau des Hundes und mit der ungeschminkten Bronzebräune ihrer Haut zusammenschlug. Still stand der große Hund an ihrem Schenkel, so wie sie ihn an jenem Abend probierte, und nichts machte den Anblick dieser lebendigen Statue so hinreißend, als das leise Atmen des Tieres, dessen Rippen im Rhythmus der Sekunden aus der Bauchhaut traten und verschwanden.

Das Bild, von jener fremden Musik seltsam unwirklich eingehüllt, blieb länger vor den Zuschauern als die früheren, aber der Beifall, der, erst etwas befangen, dann durch die Halle brausend herauftönte, überredete den Vorhang nicht, und erst als nach längeren Minuten die Musik eine neue Weise begann, zog sich das Publikum, halb sehnsüchtig, halb grollend um dieses ungewohnten Eigensinns willen, auf seine Sitze zurück, von denen es im Laufe des Beifallskampfes meist aufgestanden war. Alle Welt fragte nach der Darstellerin, nur wenige konnten Antwort geben, den meisten war Dianas Name und Legende unbekannt, da sie die Gesellschaft mied, einige ältere Damen wollten geniert tun, wurden aber rasch zum Schweigen gebracht, denn niemand wollte in dieser Sphäre von Scheinfreiheit für reaktionär gelten. Ältere Herren erklärten einander leise, es wäre doch bei der jungen Dame »wenig da« gewesen, was man so ausstellen könnte, einige junge Mädchen erröteten unter den fester zufassenden und heimlich vergleichenden Blicken ihrer Verehrer. Die Bewegung war so groß, daß man das nächste Bild, Cleopatra mit dem Perlentranke, kaum würdigte.

Olivia, vollkommen überrascht, hatte sich im Augenblick des Erkennens halb erhoben und mit einer ungewohnten Geste leise gerufen: »Diana!« Aber eine ältere Dame vor ihr drehte sich um und sagte tadelnd: »Atalanta, sagt das Programm!« Die Baronin, die der Szene als einer Sensation entgegengesehn, lachte nun und brachte dadurch Olivia vollends in Verwirrung, die, hin und her blickend, um den weiteren Anblick kam; denn bald schloß sich wieder der Vorhang.

Franklin, dem Diana das kleine Geheimnis anvertraut, blickte als Kenner hinüber. Er hatte ihr geraten, den spielenden Fuß zur Sicherheit um eine Nuance fester aufzusetzen, als im Original, doch sie hatte ihn ausgelacht und bestand darauf, sich mit dem Urmodell an Beharrlichkeit zu messen. Nun hoffte er halb, halb fürchtete er recht zu behalten, und kam zu keiner rechten Stille des Schauens. Vor allem aber war ihm Olivias Bild in der Seele geblieben, die er kurz zuvor zum erstenmal gesehen, und die Gestalt dieser Fremden lenkte ihn ab.

Scherer, in seiner Loge durch die fremden Töne aufmerksam geworden, hatte sich mit der Frage an den Prinzen gewandt, woher plötzlich diese moderne Musik, und als er ohne Antwort blieb, mit Erstaunen gefunden, daß er allein war. Als aber dann die geöffnete Bühne Diana vor sein Glas stellte, war er zuerst so überrascht, daß es ihm kaum gelang, in diesen Augenblicken sehend zu genießen, was er sich zuweilen selber vor Augen gemalt. Auch war dieser Anblick so vollkommen künstlerisch, das Jungfräuliche dieser Jägerin lag derart abweisend auf ihren strengen Gliedern, ihre Freiheit in dieser Enthobenheit war so groß, daß Scherer als Kenner ihrer Seele seine Sinne kaum beunruhigt fühlte. Als er dann langsam das Glas absetzte, bemerkte er in einer Loge gegenüber Sidney, stehend, im Pelz, in der gleichen Bewegung. Der schöne junge Mann schien ihm in diesen Augenblick Diana noch verwandter als sonst, und als er ihn nun, zu früh, seinen Zylinder aufsetzen und gehen sah, hatte er, zum ersten Male, ein Gefühl der Wärme für ihn, als sollte er ihn halten. Er wußte nicht, was in dem Jüngling vorgegangen war.

Wie er aber aufstand, um ihn zu erreichen, wurde er vom Tonfall einer Stimme zurückgehalten, die dunkel, gehämmert, mit leichter Brechung der deutschen Konsonanten, in der Nebenloge fragte:

»Wer war dies junge Weib, die Jägerin?«

»Keine Ahnung, Herr Doktor,« erwiderte eine berlinische Stimme.

Mit einem Blicke flog Scherers akustische Erinnerung ans Ziel: quadratisch war dort ein großer Blondkopf mit slawisch blauen Augen auf ein dunkles Jackett gerammt, es war der russische Redner, den er mit Staunen in diesem mondänen Saale wiederfand. Unbewegt stand er und blickte auf den Vorhang, als wär' er noch offen. Nur seinen Begleiter hatte Scherers Blick geweckt, dieser, ein deutscher Sozialist, begrüßte ihn, sich lakonisch bei dem Kapitalisten für sein Hiersein zu entschuldigen.

»Sie haben Gäste in Ihrer Loge?«

»Es ist nicht meine, und ich habe keine Gäste,« persistierte der Abgeordnete, der sich beinah heimlich angegriffen fühlte. »Wollte nur unserem russischen Genossen nach einem Tag voll Zahlen auch mal Bilder vorführen. – Doktor Sergjewitsch – Herr Scherer« – und Scherer fühlte eine große Bauernhand in seiner Rechten.

»Ich hörte Sie neulich sprechen,« sagte Scherer unmittelbarer, als seine Gewohnheit war.

»So? Gehen Sie in unsere Versammlungen?« Das »Sie« war ganz leicht betont.

»In anderm Kostüm,« sagte Scherer mit Freiheit und lächelte; denn der Russe schien seine Zweifel auf den guten Frack zu gründen, während er ihn in Wahrheit aus Scherers bekanntem Namen zog. »Gefielen Ihnen die Bilder, Herr Doktor?« fügte Scherer höflich an.

»Nur eins,« sagte der Russe kurz.

Prinz Eduard, der sich als einziger auf sein Erlebnis vorbereiten konnte, war Scherers Loge vor dem Bilde Atalantas entschlüpft. Nun hatte er Diana gesehen, wie er sich's vorgebildet: in kühn hinschreitender Bewegung, auf muskulösen Beinen aufgebaut, an Hüften schlank, die breite Brust durch dünne Falten scheinend, den nackten bronzebraunen Arm entschlossen über die Schulter nach dem Pfeil gebogen, – aber nach einer Sekunde, die dieses ganz von ihm vorausgewußte Bild ihm abgewandt, stieg sein suchender Blick zu diesem Antlitz, das er noch gestern nahe und allein, still oder redend, herb, süß oder feurig gesehn, und konnte sich von dem Stolz dieser Jugendzüge nicht trennen, bis der Vorhang die unwirkliche Gestalt von seinen Augen schied.


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