Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Der erste Satz schloß mit einer Kadenz. Niemand von den vier Spielern sprach, leise stimmte Franklin die G-Seite seiner Bratsche, die etwas heruntergegangen war, Scherer blickte vom Klavier her zustimmend hinüber zu dem neuen Cellisten, dann kurz fragend auf die drei Streicher, sah, daß alle parat waren und setzte nun allein mit dem Adagio-Thema ein, das er wie einen pathetischen Prolog vortrug. Nun nahm der dunkle Ton der Bratsche fugato dieselben Takte auf und schließlich setzte die Geige unter Eduards Händen ein, süß emporsteigend wie eine Knabenstimme. Eduard suchte keineswegs, nach Art von Solisten, die Kammermusik machen, durch Klang und Dehnung die Führung dem Klaviere wegzunehmen, aber der Ton seines edlen Instrumentes, die Süße seiner hochhinauf gehobenen Melodie ließen für eine Weile die andern Instrumente vergessen und indem seine Mitspieler Hörer wurden, blieben sie behutsame Begleiter.

Doch bald ergriff das Cello, mit einem zweiten, bewegten Thema die melodische Leitung, und an die Stelle eines singenden Knaben schien der Alt einer reifen Frau zu treten, bis sich alle wieder dem männlichen Anschlag des Klavieres anvertrauten, das nun, in großen Akkorden, die Themen zu harmonischer Vereinigung erhob und zu einem schwermütig gelagerten Ausklang.

Diana, die in Scherers holzreichem und teppichlosem Musiksaal heut abend die einzige Hörerin war, hatte sich in eine Ecke gesetzt, den Spielern fast abgewandt und blieb selbst im Dunkel, ihnen unsichtbar. Während des ganzen vorigen und auch während dieses Quartettes hatte sie nicht in die Lichtkreise geblickt, aus denen die gewaltigen Töne kamen. Nur als in diesem zweiten Satz das Cello mit seinem vollen und tiefen Organ die tragisch gefaßte Melodie vortrug, ging ein Blick von ihr zu dem fremden Spieler hinüber und sie dachte: Er drückt es an sein Knie und, leise streichend, bringt es seine Hand zum Tönen … Von diesem Gedanken aus zog ihre Seele, als sie den Blick längst fortgewandt, seltsame Kreise, und während sie die beiden letzten Sätze vernahm, entschwebte ihr Geist zugleich in eine andere Ferne, bilderreich und doch verschwimmend; zog sie ein wellenhaftes Auf und Nieder fort, und ein Gefühl sensueller Sehnsucht überströmte sie, wie sie es, seit Jahr und Tag, in ihrem seit dem Sommer ganz platonischen Leben nicht mehr gefühlt.

Als dann die Männer aufstanden und sich, in Noten blätternd, nach langem Sitzen ein wenig die Beine vertraten, als, mit mütterlich liebender Gebärde, die drei Streicher ihre Instrumente in den Samt ihrer Kästen hoben, die Schlösser leise zuschnappten und auch Scherer seinen edlen Flügel innen und außen mit Decken belegte, saß Diana immer noch in ihrer Ecke, abgewandt.

Langsam kam Scherer auf sie zu.

»Und nun lächeln Sie,« sagte er leise und setzte sich zu ihr. »Und haben doch das Antlitz der Medusa gesehen.«

»– Nicht die Medusa!« sagte sie und schien zugleich das grausame Wort, zugleich das Licht abzuwehren, das Scherer in der Mitte andrehte. »Das Presto hab' ich nicht mehr erlebt, ich war verträumt und verdiene Tadel. Welche Nummer hat das Werk?«

Scherer nannte die Zahl, »Von Beethovens letzten eines,« fügte er etwas lehrhaft hinzu. Ihr war dies schon zu deutlich, sie hatte nur aus Verlegenheit gefragt, nun zerrieselte die letzte Welle ihres Traumes, sie stand rasch auf und trat zwischen die Männer.

»Sind Sie kritisch?« fragte Franklin. »Ich habe beinah alles verdorben, verzeihen Sie den Patzer im letzten Satz. Es geht sehr schnell und ich bin ein so schlechter Kammermusiker!«

»Allein spielen!« sagte Diana lachend. »Das gefällt Ihnen wohl besser!«

Man ging zu Tische, Scherer führte Diana an die runde Tafel.

»Ja! Allein spielen!« rief Franklin, und aus seinem befreiten Tone hörte sie, wie schwer diese ungezähmte Natur sich in eine Gemeinschaft schicken mochte.

»Und doch,« sagte Scherer, indem er mit leiser Geste den Prinzen an Dianas Rechte, die andern beiden Herren auf die freibleibenden Stühle lud. »Und doch könnte mir der Solist nicht als der wahre Musiker erscheinen.«

»Dichter bringen es nie weiter als zum Solisten,« sagte der Prinz. »Sie wollen immer absolut regieren.«

Bei diesen Worten hob der Fremde, der bisher wenig teilzunehmen schien, von drüben her seinen Blick, fand aber, da der Prinz beim Loslassen seiner Paradoxa den Teller zu betrachten liebte, nicht den Blick des Sprechers, den er suchte, sondern Dianas, die hinübersah. Der seine war ein kritischer Blick, der nach dem Wort vom absoluten Regieren dem Prinzen mehr zu gelten schien als dem Musiker.

– Was für eine stumme Art zu reden haben doch diese Russen! dachte Diana, und beider Augen kehrten zu ihren Tellern zurück.

Es war Doktor Kyrill Sergjewitsch. Scherer, der jene erste kurze Unterhaltung mit einer Einladung beendet hatte, war überrascht, beim zweiten Gespräch in ihm einen Cellisten kennen zu lernen, der Scherers Einladung, sein jüngst verwaistes Quartett zu ergänzen, schneller und lebhafter annahm, als eine seiner Theorien. Als er's Diana erzählte, wartete er vergebens auf ein Zeichen der Neugier oder auch nur der sichtbar gespielten Ruhe. Sie hatte den Russen beinah vergessen und suchte überhaupt Musik und Musiker in ihrem Innern nicht zu mischen. Wie sie heut abend seine große Hand nahm, schien er ihr verlegener, als sie's erwartete, und sie fand keinen Grund, besonders da Scherer die Begegnung bei den lebenden Bildern und die Frage des Russen ihr verschwiegen und ein Kennenlernen im Politischen Klub erfunden hatte.

Nun saßen sich beide gegenüber als Fremde, obwohl sie einander in so entscheidenden Augenblicken auf dem Podium gesehen, vielleicht erschaut hatten – und doch konnte es keiner vom andern auch nur argwöhnen.

Langsam, wie unterm Drucke der eben fortgerauschten schweren Phantasien, entwickelte sich das Gespräch zwischen den drei Männern, die es angefangen, während der Russe aufmerksam zuhörte, Diana aber leicht zerstreut schwieg.

»Wenn nun aber alle«, fing nach einer Weile Franklin wieder lebhaft an, »nur immer Tutti spielen wollten – wer sollte dann schöpfen und führen? Etwa der Dirigent? Das ist nur ein Angestellter!«

»Vielleicht der unsichtbare Komponist, Herr Franklin,« sagte Scherer.

»Der am längsten vermodert ist, führt,« sagte der Prinz und nickte. »Ideen dürften doch meist aus der Sphäre der Entrückten unsichtbar herabträufeln, damit hier unten was wächst.«

Wieder hob der Russe den schönen Blondkopf, aber nun runzelten sich die dichten Brauen über den Augen, als wollten sie sie hindern, aufzublitzen. Diesmal war es Scherer, der den Schweigsamen so sich äußern sah und, in einer gewissen wirtlichen Sorge, sein Gast könnte durch Wortlosigkeit unheimlich werden, sagte er über den Tisch hin: »Sie zweifeln, Herr Doktor?«

»Warum sollten sie nicht einmal von unten emporsteigen, die Ideen?« sagte nun langsam und in fast vollkommenem Deutsch der Angeredete. Alle sahen zu ihm hinüber. »Vielleicht birgt diese Erde«, fuhr er dunkel fort und wandte sich nun an den Prinzen, »in ungeborenen Keimen mehr Ideen als jener Himmel mit seinen verklärten Jahrhunderten, von denen Eure Durchlaucht sprach.«

Man schwieg.

– Ein fernes Gewitter, dachte Franklin.

– Schweres Geschütz, dachte der Prinz, und um nur ja keine russische Debatte aufkommen zu lassen, zertrat er sie im Keim, indem er höflich sagte: »Kein Zweifel, Herr Doktor, Himmel und Erde als Kopfstationen des menschlichen Schnellzuges!«

»Und warum nicht auch das Meer?« fragte plötzlich Diana mit Wärme.

»Was wollen Sie mit Fischen und Quallen, Madame?« sagte der Russe kalt. »Das Meer ist nur Natur!«

Diana wandte ihren Blick beinah beleidigt ab. Der Prinz bemerkte es schweigend. Franklin hörte wie aus der Ferne einen Dialog, der, diesem ähnlich, doch höher und fortgebildet schien, Scherer, der ebenfalls dies maßlose Thema zu fünft, bei Tisch, nach der Musik betäuben wollte, sagte vermittelnd:

»Gewiß ist nur, daß wir Erde, Himmel und Meer in diesen Tönen erfaßt haben, zu denen uns heute Ihr herrliches Cello verhalf.«

Der Russe, leidenschaftlicher Disputierer und vollends ungern im Beginn eines Gespräches unterbrochen, zu dem ihm ein deutscher Prinz den erwünschten Gegner stellte, fühlte sich durch den Hinweis auf sein Instrument doch einigermaßen verführt und sagte, nach einer Pause: »Ja, es hat einen schönen Ton. Es ist Arbeit aus Brescia, siebzehntes Jahrhundert. Mein Freund hat es mir geerbt.«

Die Zurückhaltung, die Wärme und selbst der kleine grammatische Fehler am Ende wirkten quietiv auf die Gesellschaft, man sprach von alten Geigen, der Prinz erzählte vom Ursprung der seinen, die er von einem Ahnen gleichfalls geerbt und nun schon als der elfte seines Geschlechtes spielte. Diana sprach von Wilhelms Fund jener alten Laute und daß er Scherer als den einzigen bezeichnete, der sie kaufen könnte, wenn er sich ein Jahr lang einschränkte. Alle lachten, besonders Scherer selbst, der jede Anspielung auf seinen Reichtum gern wie etwas Kurioses umschiffte, das seiner geistigen Person anhafte, und als man beim Tokayer anlangte, schien die Stimmung herzlich und vertraut.

»Die ganze ungarische Sonne brennt heraus,« sagte Diana, »und im Grunde ist das mehr als unsere balkanische Sonne. Wirklich! Ich habe nirgends solche Kälte erlebt wie in Kastoria, an unsern mazedonischen Seen, und keine Hitze wie unten am Plattensee!«

Nun klagten alle über die Kälte, die dies Jahr noch den März vereisen wollte.

»Jeden Morgen«, sagte der Prinz, »denke ich, wenn ich um die zugige Ecke am Wilhelmsplatze biege, an Hamlet, erster Akt, Terrasse, wo die Wache die einfachen, aber bitter wahren Worte sagt: ›Es ist entsetzlich kalt!‹ Sobald ich dann ins Ministerium trete, hören allerdings alle Hamletischen Vergleichungen auf. Lassen Sie uns also, Herr Scherer, die Tafel aufheben und den Dampfer nach Zanzibar besteigen!«

Franklin erklärte sich bereit, die Gesellschaft in seinem arabischen offenen Hause aufzunehmen, er fing schon an, die Räume nach den Temperamenten der Gäste zu verteilen, der Russe lud nun die Deutschen nach Livadia, wo der Zar durchaus nicht stören würde, und schließlich sagte Scherer, der etwas in petto hatte, zu Diana:

»Und Sie? Wohin lockt uns die Europäerin?«

Die Herren schwiegen.

»Ich? Ich habe nur eine Heimat,« sagte sie leise. »Aber ich fürchte, sie gefällt hier nicht allen.« Und nach einer Pause, in der ihr gesellschaftliches Lächeln sich zu einem inneren erhöhte, sagte sie zu den Wartenden, plötzlich leise, wie beschwingt:

»Es ist das Meer …«

»Ich liebe das Meer,« sagte nun der Russe, der sich angegriffen fühlte. »Vielleicht ist keiner von Ihnen so viel zur See gewesen. Nur nicht – für Ideen!«

»Wenn ich nun eine hätte,« sagte Scherer heiter, »die auch Ihnen gefiele?«

Er zog seine Brieftasche hervor, entnahm ihr eine Postkarte und gab sie langsam seiner Nachbarin. Diana sah darauf eine Jacht, sie war schlank und weiß, ein Schornstein und viel Takelage zeigten, daß es eine Dampfjacht war, doch auch als Segler zu brauchen. Überm Achterdeck waren die Sonnendächer aufgezogen, darunter stand der Name des Schiffes. Langsam las Diana: »Excelsior« … Dann wandte sie mit einer schnellen Bewegung den Kopf, hob das Bild hoch und rief: »Excelsior!«

»Excelsior!« wiederholte Scherer lächelnd, dann Franklin fragend, und dann lachten alle.

»Mein Hamburger Freund fragt, ob ich sie ihm für ein paar Wochen abmieten wollte, denn er muß dies Frühjahr in London verbringen. Da dachte ich, wenn die Herrschaften Lust hätten, dem Meer und auch mir ein paar Wochen zu schenken –«

Eduard blickte erstaunt auf, er überschlug im Augenblick die abenteuerlichsten Möglichkeiten, ohne zu prüfen, was er selbst wollte, und dann blickte er zu Diana hinüber und dann zu Scherer, denn auf ihm ruhte ihr Blick.

Sie, von allen, war eine solche plötzliche Einladung am ehesten gewöhnt, und die Art, wie Scherer sie zu dritt apostrophierte, zeigte ihr auch sogleich seine Zurückhaltung. Aber als sie nichts Entscheidendes sagen wollte, ehe die Männer sich geäußert und wie sie doch, von allen fragend angesehn, etwas zu sagen sich gedrungen fühlte, rief sie plötzlich noch einmal: »Excelsior!« Aber nun klang es abschließend, wie All right!

Scherer brachte einige weitere Blätter vor, die Risse, Profile, Skizzen, Zahlen des Schiffes enthielten, und nun ging alles von Hand zu Hand, jeder fragte, erwiderte, proponierte und alle schienen den Russen zu vergessen, der forschend von seinem Platze zusah. Scherer, der das Abenteuer nur an sich heranzulassen liebte, wenn er gewiß war, es noch zu beherrschen, faßte einen raschen Entschluß und sagte: »Und Sie, Herr Doktor, werden, wenn mir die Herrschaften die Blätter freigeben, sechs Kajüten sehen, außer denen für die Bemannung. Wollen Sie zwischen der fünften und sechsten die hübschere wählen?«

Die Herren ermunterten ihn, und eine Sekunde lang blickte er schweigend auf Diana, die aber nichts zu hören, sondern ganz vertieft schien in den Aufriß der Takelage.

»Sie sind sehr gütig,« sagte er dann. »Ich bin aber nach Deutschland gekommen, um Ideen zu studieren – nicht auf das blaue Meer, für die Natur!«

Man lachte, man fand sich in einiges Maß zurück, und auch der Prinz suchte sich artig zu besinnen. Aber Scherer sagte:

»So wäre es denn bestimmt und nur noch fraglich, wann wir uns zur gleichen Zeit freimachen können. Ich wollte den April vorschlagen. Und Sie?«

Eduard und Franklin stimmten zu und Diana sagte, indem sie nun von der Karte aufsah, lächelnd: »Ich müßte die Firma um Urlaub bitten!«

»Steht der nicht in Ihrem Vertrage?« fragte Scherer, indem er aufstand.

Diana war versonnen und sie blieb es. Eduard dachte, indem er sie betrachtete, wie tief sie doch den Dingen der Natur, dem Meer, dem Wind, der Sonne verbunden wäre, und er trat auf sie in dem Augenblick zu, als Scherer sie im Bücherzimmer verließ, weil ihn Franklin wegen der Länge der Fahrt befragen wollte. Aber im gleichen Augenblick stieß auch der Russe zu Diana, und nun standen sie in der Mitte des kühl gehaltenen Raumes.

»Nun, fahren Sie nicht mit?« fragte Diana beide.

»Zu Befehl,« sagte Eduard, militärisch grüßend.

»Zu Befehl sagen die Deutschen,« murmelte lächelnd der Russe.

»Nur zu Vorgesetzten,« sagte der Prinz in künstlich schneidigem Ton.

»Ist die gnädige Frau –?« fragte der Russe.

»Nur in der Idee,« lachte Diana. »Nicht in der Natur! Und Sie?«

»Ich möchte um die Freiheit des Individuums bitten,« sagte der Russe, mit dem Stolz einer anarchischen Natur, und nun blitzte sein Auge.

»Zu Befehl,« sagte Diana kalt und über dem markierten Gruß stieß ihr hochmütiger Blick den seinen zurück.

Dann wandte sie sich gefällig zu dem Prinzen.


 << zurück weiter >>