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Siebzehntes Kapitel

Wartend und von jenem nie ganz gestillten Hunger beunruhigt, den Seefahrende gern mit der aufzehrenden Salzluft erklären, standen zu gleicher Stunde Scherer, Eduard und Franklin in der offenen Glastür der Speisekabine, in einem von Minute zu Minute matter werdenden Gespräch über die Windstärke. Man war auf Excelsior pünktlich, besonders hielt Diana darauf, als einzige Dame nicht warten zu lassen, und Eduard, der Dianas Verspätung heute hätte ankündigen können, schwieg, um nicht zu erwähnen, er hätte sie so spät noch mit dem Russen getroffen. War es ein kindischer Wunsch, die Gedanken der Freunde von Kombinationen abzuhalten, die an Bord leicht aufleben und wie in magischem Zwange hervorrufen können, was sie vielleicht nur müßig erfunden haben – oder war es wirklich ein klassenhaft uraltes Gefühl aufsteigender Rivalität, das den Prinzen gegen den Revolutionär um die Gunst der mitreisenden Dame ergriff?

Als Franklin bei völlig einschlafendem Gespräch mit nervöser Schulterwendung auf der runden Schiffsuhr sieben Uhr zwanzig konstatierte, zog Scherer seine flache goldene Uhr, drehte sie langsam auf, vergaß sie abzulesen und steckte sie in die Weste. Eduard, der die Gesten der beiden verfolgt hatte, schob nun die linke Manschette hoch, um durch Befragen seines Armbandes den Augenblick seinerseits festzumachen. Indem drehte sich Wilhelm um, der, nur durch Decksbreite getrennt, am Schiffsrumpf senkrecht ins Wasser blickte und rief plötzlich in die Stille: »Es leuchtet! Es leuchtet in dem Schaum!«

Die Herren folgten. Alle blickten hinab, wo die Sprühschleier der nächsten Wellen in opalener Mattheit wie von unten erleuchtet schienen.

»Rauschende Perlen,« sagte Franklin leise.

»Wie sie phosphoreszieren, diese kleinen Wesen,« sagte Scherer mit naturforschender Interessiertheit.

»Wie der Bundesrat bei der Thronrede,« sagte Eduard.

Wilhelm, der ganz gefangen hinabgeschaut, blickte nun auf: »Tragen die solche schimmernden Gewänder?«

»Staatsfracks,« sagte der Prinz und schien mit seinem Tonfall Respekt zu fordern und ihn zugleich aufzuheben. »Präterita aus dem Jahrtausend Harun-al-Raschids, würde unser russischer Gefährte sagen.«

»Ich muß an phönizische Gläser denken,« sagte Diana, die unbemerkt hinzugetreten war. Der allgemeine rasche Aufbruch, den ihr Kommen hervorrief, war zugleich ein Vorwurf und so fügte sie hinzu: »– Wenn Sie mich nicht gleich in die Kabine zurückschicken, denn es ist halb, und ich habe keine Entschuldigung.«

»Pardon, meine Herren,« sagte Kyrill, der die Stufen heraufsprang, als man gleich darauf dem Speisesaal zuschritt, aber nach Dianas artigen Worten klang das sehr dumpf, und Franklin dachte: – Fagott nach der Flöte. Schön ist noch immer ihre Stimme …

»Sie sprachen einmal von jenen Gläsern,« sagte Scherer und ließ Diana die Glastüre passieren. »Ihr Herr Vater hätte sie ausgegraben?«

»Und so«, sagte Diana, »haben sie in meine Kindheit geleuchtet mit ihren opalen schimmernden Flecken, überdeckt wie von erkalteter Lava.«

Sie hatte sich, am Tische angekommen, bei diesen Worten umgewendet, so daß die lange schwere Schleppe halbrund vor ihren Füßen liegenblieb. Wie sie so stand, die leise umflorten nackten Arme halb erhoben, dachte der Prinz: – Vor zwanzig Minuten noch eine kurzröckige Revolutionärin, und jetzt ist es, als hielte sie das kostbare Glas in Händen und wollte es nun, priesterlich gehoben, einem Sanktuarium zutragen. Aber im nächsten Augenblick dachte er: Wie wird diese Faltensymphonie nebst Samtschleppe eigentlich gehalten, da bis unter die Brust nur Schleier und Spitzen da sind? Fatales Geheimnis …

Auch die anderen hatten diese Schleppe verfolgt, die heut zum erstenmal vor ihnen rauschte.

– Sie ist schön, dachte der Russe, aber jetzt sieht und hört, man eigentlich, worauf ihr Sinn steht. Gefallsucht, Abenteuer ohne Ideen. Es ist nichts. Sie ist verloren.

– Immer würde ich sie abends Schleppe tragen lassen, dachte Scherer. Am Tage mag sie immerhin Mädchen sein.

»Ob es eigentlich sehr schwer ist, mit einer langen Schleppe zu gehen,« fragte Wilhelm in die Runde, als man sich setzte, und hielt das allgemein Gehaltene dieser Anfrage schon für stark diplomatisch. »Also, Königinnen und Schauspielerinnen, hab' ich gehört, die lernen es ja direkt, aber zum Beispiel Sie!«

Man lachte und Diana sagte: »Haben Sie mich nicht heute stundenlang auf dem Bootsdeck probieren gesehen, Wilhelm?«

»Schmetterling zieht zweifellos die samtene Erdenschwere nach oben,« sagte Eduard, und nun rief Wilhelm: »O was für ein seltenes Exemplar! Wer hat denn den gefangen?«

Und damit stand er auf und trat ungeniert dicht an Diana heran, um das bunte Wesen zu betrachten, das sie, unter einem oval geschliffenen Bergkristall, vor der Brust trug. Erst in dieser Nähe, in die sie sich dem gebückt Stehenden lächelnd zugewandt, sah sein in Toiletten ungeübtes Auge, wie tief die schlanke Trägerin heute dekolletiert war, nun blieb sein Blick an ihrem Busen hängen, ihr Duft und der ihres Puders benebelten ihn, er wußte kaum mehr, was er noch sah und roch, und sicher nicht, wie lange er so verweilte. Acht Männeraugen, etappenweise gestaffelt, blickten mit steigender Unruhe auf die Entschließungen des jungen Menschen und warteten mit schweigend aufgrollendem Protest, wann er wohl fertig sein würde. Diana, die, Wilhelm allein zugewandt, die Blicke nicht sehen, doch auf sie schließen konnte, war von dem kurzen Zwischenspiel, in dem so viel verschwiegen wurde, höchlich amüsiert, und ließ wohl eine halbe Minute vergehen, bis sie sich umdrehte und sagte: »Jetzt wird aber Ihre Suppe kalt, Wilhelm, und heut ist sie grade aus Schildkröten gemacht, wissen Sie, die, auf deren Rücken der Elefant steht, auf dem dann der [Buddha] sitzt!«

»... Merkwürdige Dinge,« sagte der verwirrte Wilhelm tief aufseufzend auf dem Rückwege zu seinem Platz, und die Herren schwankten, ob er die Schildkröte, den Schmetterling oder Dianas Busen meinte.

Das Gespräch wurde allgemein, man sprach von heiligen indischen Bräuchen, Scherer erzählte von dem Schildkrötengraben in Kandy und wie er schnell nach Colombo zurückgefahren wäre, weil dort oben nur englische Snobs um einen kleinen muffigen Teich führen und unten wäre das große Meer. Diana sprach von oberägyptischen Sitten, vom Hocken zwischen den Höckern des Kamels und von der ersten Seekrankheit dort oben, Franklin kam auf das schlangenhafte Privatleben der Elefantenrüssel zu sprechen, schwankte dann von der mythischen Erscheinung des Tieres inmitten menschlicher Anstalten zu den Preisen des Elfenbeins zurück, für die Scherer Interesse zeigte, und sagte schließlich: »Und als ich zuerst den frisch gebrochenen Zahn in Händen hielt und dem kleinen knochigen Jäger sagte, um diesen edlen Anblick lohnte freilich die Gefahr der Jagd, gab er mir die gemurmelte Antwort: Ja, ja, jeder Zahn macht immerhin doch vier bis sechs Billardkugeln!«

»Muß man vor solchen zwecklosen Händlern«, rief der schweigsame Kyrill lebhaft, »nicht die Partei des Elefanten ergreifen?«

»Durchaus! Bin grundsätzlich für Dickhäuter,« sagte Eduard zu ihm hinüber, denn sie flankierten heute Dianas Platz an der Spitze. »Einzige Rasse, aus der Politiker geschnitten werden sollten!«

»Schade, daß Sie das ironisch meinen,« gab Kyrill zurück. »Es ist nämlich richtig.«

Der Prinz zuckte mit den Mundwinkeln, dann sagte er: »Bis aber die heutige Familie der Diplomaten, die Spinnen, ausgestorben sind, wird, fürchte ich, auch das Geschlecht der Elefanten durch die k. k. konsularischen Jagdgesetze des Herrn Franklin ausgerottet sein. Wen schicken wir dann als Botschafter nach Petersburg?«

»Den Fuchs,« sagte Scherer.

»Umgekehrt! Die Revolution hier wünscht ja das Lamm,« sagte Eduard.

»Keinen von beiden,« sagte Kyrill ernsthaft, »sondern, wenn es erlaubt ist, Herrn Scherer, vorausgesetzt, daß er bis dahin unsere Ideen völlig aufgenommen hat.«

Scherer, obwohl er jenen Ideen nur zum Teil und mehr theoretisch zugehörte, schmeichelte diese Würdigung mehr als jede frühere Aufforderung von Ministern, aber er sagte: »Wir sind nur Geschäftsleute. Überzeugen Sie lieber den Prinzen, daß er in seiner künftigen Stellung, im Gefüge unseres Aufbaues, wie er nun einmal ist, demokratisch wirken möge. Vom Auswärtigen hereingeweht, wird das im Innern noch am besten vertragen.«

»Kompromisse,« murmelte Kyrill böse. »Wir halten's mit dem Pfarrer Brand: Alles oder nichts!«

Eduard sah, seit Scherer sprach, ernsthaft zu dem Russen hinüber. Gespräche, die sie geführt und in denen diese Formel, wenig abgewandelt, ihn immer wieder beunruhigt hatte, erneuerten ihre Reflexe in ihm, wieder erschien ihm der Fanatismus dieses brausenden Kopfes eher ein Hindernis, und nun fügte er sich in das Zwiegespräch, indem er sagte: »Würden Sie Ibsens Brand zum Geschäftsträger in Christiania machen?«

»Er wäre doch schon etwas alt,« sagte Kyrill.

»Sie gedenken also«, fragte Eduard, »eine Altersgrenze für Diplomaten einzuführen, die dann, wie die alten Leute bei den Fidji-Insulanern, mit sechzig Jahren auf die Tribüne geschickt und heruntergeschüttelt werden, falls sie sich nicht durch Balance als noch vital erweisen!«

»Die Russen haben ganz recht, die Jüngsten sind die Besten!« rief Franklin lebhaft.

»Bravo! Und ich auch!« rief Wilhelm als der Jüngste. Nach seiner Art hatte er die ganze Zeit stumm den zur Zeit Redenden angesehen und meistens verehrt.

Lachen löste das Problem für den Augenblick auf, und alle stockten erstaunt, als Scherer sich nun erhob, wie zu einer Rede.

»Es ist nichts,« sagte Scherer begütigend, »auf Excelsior sollen keine Staatsfracks Sitte werden. Da wir aber von den Gaben der diplomatischen Jugend sprechen, so lassen Sie uns eines gedenken, der heute ein Jugendjahr an das andere knüpft. Ich trinke auf das Wohl unseres Freundes, meines Gastfreundes, Seiner Durchlaucht des Prinzen Eduard!«

Die Herren hatten sich erhoben, mit Hackenschlag und Achtelverbeugung stieß Eduard mit Scherer an. Doch als er sich zu Diana wandte, sah er ihren Blick halb schwimmend zu ihm aufgehoben. Alte Erinnerungen an ein Diner auf dem Balkan kreuzten sich, ihre damalige Liebe fiel ihm ein, und sein eigener Neid, und wie er sich nun zu ihr niederbeugte, sah er von diesem dianenhaften Busen, den er nur auf die Ferne für Sekunden an Atalanta betrachten konnte, die Liebkosungen jenes Abgeschiedenen wie eine neue Lockung aufsteigen.

Als er mit allen angestoßen und die peinliche Pause kam, die allen Toasten folgt, sagte Wilhelm in die Stille:

»Ich hab' es gleich gedacht, daß heut etwas im Gange ist, als ich die Sektgläser sah!«

»Also Gotha steht in der Leihbibliothek dieses Schlachtschiffes?« fragte Eduard zu Scherer hin.

»Nun müssen Sie auch das Alter beichten!« rief Kyrill mit ungewohnter Spannung.

– Hofft er der Jüngere zu sein? dachte Diana. Und wie um den Prinzen zu schützen, sagte sie rasch zu Kyrill: »Und Sie das Ihre!«

»Nach Seiner Durchlaucht!«

»Wollen Sie raten, Gnädigste?« fragte Eduard geniert. Diana zögerte.

»Laut Gotha«, sagte Scherer, um sie der Schwierigkeit zu entheben, »wird Prinz Eduard heute neunundzwanzig. Kürschner, in dem Doktor Sergjewitsch zweifellos steht, ist leider nicht an Bord, dürfte auch auf den Ionischen Inseln schwer erhältlich sein.«

»Gleichfalls neunundzwanzig,« sagte Kyrill.

Diana, allen mystischen Dingen vertraut, zugleich ganz sensuell zur Jugend treibend, wurde erregter und fragte: »Und wer ist nun der Jüngere?« und blickte von einem zum anderen.

Eduard und Kyrill sahen sich über den Tisch weg an, etwas vorgebeugt wie Kämpfer. Die anderen schwiegen, es war ein lautloses Duell. Kyrills Züge zeigten in diesem Augenblick die Überlegenheit und schienen etwas zu verbergen, das der andere nicht zu enträtseln wußte. So blieben sie ein paar Augenblicke.

»– Der Doktor ist am selben Tage geboren!« rief plötzlich Wilhelm in die Stille. Kyrills Blick verdunkelte sich, seine Brauen drohten, als er den Sprecher anherrschte:

»Woher wissen Sie das?«

»Ich – hab' es Ihrer Miene angesehen« – sagte Wilhelm erschrocken.

»Ist es richtig?« fragte Diana gespannt, die ihren Kopf zwischen beiden vorgebeugt hatte.

»Ist es so?« fragten Franklin und Scherer.

Kyrill zog sich auf seinen Stuhl zurück, legte die Serviette zusammen und sagte feindlich: »Es ist richtig.«

Betroffen zogen sich nun auch Diana und Eduard zurück.

»So dürfen wir noch einmal gratulieren,« sagte Scherer, um die Spannung aufzulösen.

»Nicht heute,« sagte Kyrill. »Unser russischer 17. April fällt nicht auf heute, der kommt nach Ihrem Kalender erst am 30.«

»Und doch sind Sie im selben Sternbild geboren,« sagte Diana.

»Sternbild? Völlig neue Dekoration!« spottete Eduard, um seine Erregung zu verbergen. »Sind Sie darüber orientiert, mein mystischer Milchbruder?« fragte er den Russen.

»Ich bin Dissident,« sagte Kyrill. Scherer lachte und auch Diana mußte lächeln. Dann sagte sie heiter:

»Sie sind beide aus dem Sternbilde des Widders.«

»Also Hörner!« sagte Eduard.

»Wolle,« sagte Kyrill.

»Vielleicht auch Werdekraft, Zukünftiges, Vita nuova,« sagte Diana.

»Beide – gleich?« fragte Kyrill etwas mürrisch, wie jemand, der solche Spielereien verachtet, doch aber wider Willen angezogen wurde. »Wie unterscheiden wir uns denn dann?«

»Das steht im Gestirn der Geburt, das ja bei Ihnen nach dem Kalender differiert. Mein Vater könnte es leicht sagen. Ich weiß es nicht. Höchstens –, wenn Sie mir Ihre Hände reichen wollen?«

Beide legten gleichzeitig und schweigend ihre Linke vor sie hin. Diana schob den letzten Teller weg, denn man war bei den Früchten, zog beide Hände näher heran, bis sie dicht vor ihr lagen, stützte sich mit beiden Armen auf und verglich mit hin und wieder gleitenden Blicken die Innenflächen, während die beiden und auch die andern, vorgebeugt, schwiegen.

»... Wie sie verschieden sind!« sagte sie nach einer Weile. »So viele Linien durcheinander bei Ihnen, Prinz. Hier, in der langen Lebenslinie ändert ein Knick plötzlich den Kurs, dann wird sie fester. Kopflinie gut, entschieden dominierend. Die Herzlinie hier scheint mir etwas verwischt, aber sie kommt doch aus dem Jupiterberge.«

»Nach welchem Fahrplan, wenn ich fragen darf?« fragte Eduard.

»Sie räumt der Liebe den führenden Platz ein,« sagte Diana sachlich. »Venusberg dagegen nicht zu stark. Finger mehr betrachtend als greifend. Aber hier, in der Mitte, dieses sonderbare Quadrat: das ist die Wage, Prinz, das Gleichgewicht –« Sie hatte ihn bei diesen Erklärungen nicht gestreift, nun sah sie ihn voll an und sagte: »Im Grunde ist es doch eine glückliche Hand.«

Er drehte die Hand auf dem Tische um, ergriff die ihre und küßte sie. Dann sagte er: »Und nun? Mein Konkurrent?«

Kyrill hatte, Hand und Körper unbeweglich, jedes Wort verfolgt, zugleich aber böse auf die langen Finger des Prinzen gestarrt. Diana sah, eh' sie weitersprach, zu ihm auf, und fand seinen forschend wartenden Blick.

»Diese hier«, sagte sie nun, noch akademischer als zuvor, »hat weniger Linien. Merkwürdige Schicksalslinie: sie entspringt hier, unten, in der Lebenslinie, geht in zwei großen Kurven an der Kopf- und an der Herzlinie, hier, immer grade hinauf, in den Jupiterberg: und da ist ein Stern.«

»Was bedeutet der Stern?« fragte Kyrill dumpf.

»Eine große Laufbahn,« sagte Diana so kalt, daß Eduard über soviel Feindlichkeit unruhig wurde. »Aber die Lebenslinie hier ist nicht gut, sie ist doppelt, gewaltsam, sie ist auch nicht lang.«

»Wo ist das zu sehen?« fragte Kyrill hart und beugte sich so tief herab, daß sein blondes Haar ihre Wange streifte. Sie zuckte nicht, und sie sagte: »Hier!« und wies es noch einmal.

»Gut. Und was sehen Sie noch?«

»Kopflinie entspringt nicht der Lebenslinie,« sagte Diana wieder ruhig. »Das bedeutet Fanatismus. Venusberg sehr stark, Herzlinie einfach. Es sind Greifefinger,« sagte sie schließlich und hob den Kopf. »Eine quadratische Hand: mehr Wille als Geist. Verzeihen Sie, ich sitze so lange!« Sie stand auf. –

Draußen, an der offenen Glastüre der Rauchkabine, auf den im Halbkreis angeordneten Korbsesseln hatte man zunächst, beim Café, über Suggestion, Mondsüchtige, Todesahnungen gesprochen. Wilhelm hatte alle Viertelstunden einen oder den anderen an die Reeling herausgenötigt, weil »jetzt grade« das Meeresleuchten wieder anfange. Franklin warf zwischen das Für und Wider außerordentlicher Phänomene seine ekstatischen Konfessionen; er könne den Kosmos nur ganz und gar mystisch empfinden. Scherer legte nach der Gewohnheit des Weltmannes, der dergleichen nie ganz ablehnt, doch überall einen Sicherheitsverschluß an, damit die Waffe nicht plötzlich losginge. Doch war die Unterhaltung bald mehr und mehr versandet.

Der Prinz und der Russe blieben still. Das Zusammentreffen ihrer Geburt, nur von den Kalendern zweier Sekten separiert, die Verschiedenheit der Entdeckungen in ihren Handlinien, das Fluidum, das heut aus den Kleidern wie aus den Worten der Frau zu ihnen strömte: dies und vor allem jene seltsam seherischen Bestätigungen ihres eigenen Bewußtseins lagerten schwer auf den Seelen der beiden Männer, deren einer Diana seit Monaten umkreiste, im Kampf mit allen Vorurteilen von Rasse und Rang, während der andere sie mit feindlich mißtrauischer Gebärde von sich weghielt, indem er sich ihr näherte.

Sie selber fühlte sich durch die Wahrnehmungen dieses Abends sonderbar umschleiert. Immer, wenn die im äußeren Umkreis liegenden Dinge, wie Bojen außerhalb der Hafenmole, von fern herüberleuchteten, schien sie sich ins Geheimnis tiefer gezogen, als ihr geziemte, denn zögernd und mit Ehrfurcht nahm sie ihre eigenen Erkenntnisse entgegen. In solchen Stunden schwieg der Antrieb, den ihre produktive Natur den Menschen gab, sie fühlte sich wie über dunklen Wassern schweben, Gedanken schlugen stärker an ihr Herz, die sie sonst kühl zu behandeln suchte.

Und wie sie nun den lauen Nachtwind an Hals und Armen spürte, wie ihre Hand mit halbschlafender schwerer Gebärde zu jenem Schmetterling auflangte, der sich unter seinem Bergkristalle mit ihrem Atem hob und senkte, wie ihre wache Phantasie mehr als das umschattete Auge das Leuchten der Wellen einsog, das sie ahnte: da fühlte Diana plötzlich die große Einsamkeit in sich, deren sie die Freunde umher, die Liebenden nicht zu entheben wußten.

– War es denn zu wünschen? War denn die Leidenschaft, zu neuem Taumel aufgerüttelt, schöner als dies stumme Sich-eins-fühlen mit Luft und Meer und Tod und Nacht und Sternen? Halbliegend in ihrem großen Sessel blickte sie auf, suchte die Wage und wurde unruhig, denn sie fand sie unter einem leicht umwölkten Himmel nicht.

Und plötzlich stand sie auf, ging an Wilhelm vorbei, der ihr erstaunt nachsah, und schritt allein bis an die Spitze des Schiffes. Die Wellen waren nicht beleuchtet, der Himmel halb verdunkelt. Sie fühlte die Jugend ihrer Schultern im Winde, sah die Hebung und Senkung ihres Busens durch die Spitzen, den zarten Schleierstoff empfand sie schmeichelnd an ihren Armen, ihr war, als glänzte, lockender als alle Wellen, heut abend der getötete Schmetterling vor ihrer Brust, sie warf den Schal in den Rücken, um mehr von der lauen Luft durch ihre Poren einzuziehn. War dies alles nicht das Präludium einer Umarmung? Wie? War sie jung, schön, unabhängig, um ein Jahr und länger wie ein Klosterkind zu leben? – … Warum zögert er? Warum steht er nicht in meiner Kabine, plötzlich heut abend, dieser vornehme schwärmerische Zyniker, und Ironie und Haltung schmelzen in der Wonne einer endlosen Nacht? Schrecke ich denn die Männer, die nicht in der ersten Stunde nach mir greifen? …

Sie schritt das Deck zurück, sie gab den Freunden mit flüchtiger Entschuldigung die Hand, sie ging. Rasch schickte sie Mary aus der Kabine, und vor dem dreiteiligen Spiegel saß sie allein und hörte das Rauschen dicht vor dem runden Fenster. Sie schob die Schleier von den Schultern, wollüstig langsam, als wären ihre Finger die eines kennerischen Liebhabers und nun wären sie dabei, eine schöne Frau, Diana, zu entkleiden. Nun hob sie die Arme, daß die Spitzentaille auf das geöffnete breite Gürtelband fiel, mit immer mehr verlangsamten Bewegungen. Sie drückte den harten Bergkristall zwischen ihre Brüste, daß es sie schmerzte, und ließ den getöteten Schmetterling an ihrem Busen hängen. Lange blickte sie so, den einen Arm über dem Lockenhaupt, den andern mit dem Steine vor der nackten Brust, in den Spiegel. Dann stand sie auf, ließ langsam, mit einer einzigen Bewegung Kleid und Unterkleid herabgleiten, trat aus den Hüllen und blickte sich an.

Sie fand sich schön, doch wie sie sich sehnsüchtig streckte, begehrte sie nicht den Mann. Sie begehrte die Liebe. Leise klang von oben Wilhelms sehnsüchtige Laute.

Sie drückte die kräftigen Hände langsam in den Gelenken und drückte dann beide Flächen an sich. Plötzlich ließ sie sie fallen, ihr Blick verdunkelte sich: sie hatte in Betrachtung ihrer Hände an die große Hand des Russen gedacht. Alles war dahin, schnell zog sie ein langes Hemd über und fiel in einen traumlos kühlen Schlaf.


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