Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreißigstes Kapitel

Diana trat aus dem großen Rohbau der Zeitung, der sie seit einigen Wochen wieder vom Morgen bis zum Nachmittage aufnahm, und wie sie, sommerlich einfach, langsam die Einfahrt durchschritt, übereilt von schnelleren Mädchen, die ihre Bahn erreichen wollten oder einen Verehrer, der an der zweiten Ecke wartete, war ihr, als sehe sie sich selbst hier wieder eintreten, zum ersten Male, unbekannt mit jedem dieser Gesichter, ausgeforscht von diesem Riesenportier, der sie später immer mit so erlesener Würde grüßte, und ihr fiel ein, daß sie nun zwei Jahre älter wäre. War nicht heute der Jahrestag? Indem sie langsam die Friedrichstadt verließ, überlegte sie:

– Es war der 14. Mai wie heute, das weiß ich genau, denn am nächsten Tage fing ich an, und ultimo bekam ich ein halbes Monatsgehalt, es waren hundertundzwanzig Mark. Bin ich glücklicher, weil ich das Zehnfache beziehe? J'aime l'argent, parce que j'aime la liberté. Hab' ich das Wort von dem alten Rückenmärker in Genf, den ich immer für Voltaire hielt, oder hab' ich es bei Voltaire gelesen? … Liberté! Etwas peinlich gascognisch klingt das französische Wort. Libertà ist schon reiner, Freedom ist dumpf, Freiheit ist schön. Aber es ist doch nur ein antikes Wort! Einmal konnte ich alle die herrlichen Verbindungen, libertatem concedere, desiderio libertatis flagrare, aber das schönste war die libertas innata! Und dann eleutheria, und wie ich mit siebzehn das erstemal im griechischen Lexikon las: »eleutheros: erstens frei, unabhängig, zweitens selbstbeherrscht, freimütig, doch auch rücksichtslos, ungeniert« … Doch auch rücksichtslos … Wie die Jüngsten das Wort in die Lüfte schrein und begreifen es doch nicht! Mit fünfundzwanzig fängt man vielleicht an, es zu fassen. Jetzt kommt es also schon vor, daß ich denken kann: Als ich vor zehn Jahren …

Ihr Blick fiel auf ein Paar, das lachend und verliebt die Straße überquerte, vor dem großen Schaufenster eingehängt stehenblieb, und wie sie mit den kleinen behandschuhten Katzenfingern gegen das Glas stach und ihm das Etui zeigte, aus dem die ersehnten Gabeln und Messer glänzten.

– Wie sie Nester suchen, dachte Diana, und dann begatten sie sich, brüten, nähren und sterben. Ich habe wohl aus einem vorigen Leben eine zu große Vorstellung vom Vollkommenen mitgebracht, zu viel Anmaßung, immer den Anspruch auf das Fürstliche … Auch dies Wort wird bald verschwinden müssen. Was man nahe sieht, ist gleich wieder nichts. Wie schwer ist Eduard, daß er mit seinem Ernste sich jede Gegenwart verstellt! Hat sein Gefühl des steten Vergangenseins am Ende andere Wurzeln in mir? Zehn Tage seit dem Adieu – warum läßt er mich ohne Gruß, während sein Herz fiebert, sein Kopf hämmert, immer nur im Bergwerk der Zukunft! Diese Verzichtenden, um aufzubauen, diese Architekten des Lebens, Eduard, Scherer, der Russe – Der Russe? Der faucht doch wenigstens zuweilen seine Theorien an, daß sie erschrocken in den Winkel fliehn!

Sie bog in die Linden ein, sie dachte: – Nun sind die Linden grün, und ich spüre ihren etwas zu süßen Duft voraus. Immer treibt es mich nach Deutschland, im Mai, aber hat man genug davon? Libertas, mit sieben Bureaustunden? Es hat seinen Reiz verloren. Nicht nur um Scherers willen, doch auch! Das war doch sehr hübsch, wie er, gegen drei, immer kam, und das Papier, das er brachte, wie ein Fechtplatz aussah. Wie gern ließ er sich bei einem Gange schlagen, aber schließlich touchierte er doch noch lieber mich! Und nun ist immer Vorwurf und Bitte und Demut zwischen uns, – und Güte, wie wir sie beide etablieren möchten, ruft immer leise: Ich bin ja die Güte, wir wollen doch alle verständig sein! … Wie breit und weiß die Bibliothek dort liegt! Sie ist beruhigt, denn sie weiß alles. Sollt' ich nicht wieder durch ihre kühle Pforte gehn und lernen? Manchmal scheint einem dies aufgeregte Spiel um nichts, um Nachrichten recht lächerlich, plötzlich, wenn das Geheimnis zwischen den Akteuren dahin ist …

Sie blieb an einem Reisebureau stehn, sie schaute die Weltkarte an, auf deren Meeren kleine Schiffe fuhren. Ein Arm, von rückwärts durch die Vorhänge gezwängt, bewegte sich darüber, groß griff die Hand nach einem Schiffchen bei den Azoren und setzt' es um einen Grad westlicher. Dann nahm die Hand ein anderes auf, das dicht vor Kapstadt stand, hob es hinein, verschwand.

– Wie die Götter, dachte Diana bewegt. Ohne Ärmel und Manschette könnt' es Neptuns Arm sein. So ist es nur Merkur. Wie klein die Meere sind, wie rasch die Schiffchen laufen. Excelsior machte ja nur elf Meilen, ohne Wind, die dort haben's auf dreiundzwanzig gebracht. Sollte man nicht – ich könnte … Sie durchsuchte die Karte, die sich ihr nun immer mehr belebte, entwarf, verwarf, schließlich dachte sie: – In vierzehn Tagen geht der Vater, dort, mit dem Simplon-Expreß über Paris nach London zurück … Macdonald hat mir damals versprochen, die Stelle im British Museum hält er mir immer frei. Es ist wieder einmal Zeit. Zu viele Augen kennen mich hier schon. Untertauchen, neue Unbefangenheiten spüren, neue Befangenheiten …

Nun blieb sie bei den Auslagen des großen Juweliers stehen. Sie dachte:

– Wie vergangen wirken diese Diademe! Wenn es alte wären! Aber daß das alles noch immer gemacht und gekauft wird! Eduard ist doch vielleicht der einzige aus jener Welt, der im Tiefsten fühlt … Ja, große Perlen, birnenförmige, eine graue Kette, das möcht' ich wohl einmal. Die kommen aus dem Meere, und wen die Götter die rechte Muschel finden lassen, der öffnet sie leicht, da liegt sie schon. Geschenke der Tiefe, schwermütig gelagerte – nicht diese strahlenden Diamanten, um die sich hunderttausende schwarze Hände, gräßliche Maschinen mit Tod und Sprengung knechten müssen, bis ein paar ermüdete Steinchen, grau und schmutzig aus solchem Aufwande rieseln!

»Gefallen Ihnen die glitzernden Stirnbänder?« fragte plötzlich eine tiefe Stimme. Kyrill grüßte: »Guten Tag, gnädiges Fräulein.«

Diana sah in diese forschenden blauen Augen, sie fühlte die große Bauernhand, sie sagte:

»In diesem Augenblicke dachte ich so abseitige Dinge über Brillanten und Fürstenkronen, daß ich unzweifelhaft sogleich auf Sie verfallen wäre, wenn Sie mich nicht gestört hätten!«

»Dann gehe ich wieder, denn wenn wir einmal aneinander denken, wird es gewiß fruchtbarer, als wenn wir reden.«

»Warum?«

»Weil es da niemals fruchtbar wurde. Gehen Sie nach dem Tiergarten?«

»Nach Hause,« sagte Diana. Sie setzten sich in Bewegung, Kyrill blieb – war es Zufall oder Opposition – an ihrer Rechten.

– Wie viel besser dieser altmodische Anzug zu ihm paßt und der weiche Hut als die Eleganz der Jacht, dachte Diana.

– Heut ist sie einfach angezogen und scheint ernst, dachte Kyrill, der ihren kritischen Blick vor den Steinen aus kleiner Entfernung beobachtet hatte. Sie sprachen von den letzten zwei Wochen, gaben Auskunft, seit wann, wie lange, bis der Russe sie nach dem Prinzen fragte. Sie passierten das Tor, als Diana erwiderte:

»Das dacht' ich von Ihnen zu erfahren, Sie reisten ja noch zusammen.«

»Seitdem erhielt ich nur einmal einen Brief. Sie nicht?«

»Ich hörte nichts,« sagte ruhig Diana.

– Sie lügt, dachte der Russe.

– Was schreibt Eduard an Sergjewitsch? dachte Diana, aber sie sagte allgemein:

»Er schien doch recht desperat, am letzten Tage?«

»Im Zuge fand ich ihn ruhig. Man sprach Politik. Bei glücklicher Leitung könnte er manches leisten. Wille und Vorstellung sind gut.«

»Zweifellos,« sagte Diana. »Vortrefflicher Charakter.« Sie merkte nicht, daß sie für diese drei Worte Eduards Tonfall annahm, aber Kyrill dachte: – Ja, so schnarren diese Leute, wenn sie lügen! Ali, ich will fort!

Er blieb an einer Ecke stehen. Sie sagte: »Vielleicht sehn wir uns einmal, bei Scherer?« Und dabei dachte sie: – Jetzt müßte er mitkommen und den ganzen Abend Cello spielen! Aber sie forderte ihn nicht einmal auf sie zu besuchen.

»Vielleicht,« sagte er kalt. Sie stand versonnen, sie hörte ihn nicht und sagte freundlich: »Dann spielen Sie mit ihm die Sonate aus dem Palazzo Tiepoletto …«

»Da würden Sie wieder die Tagesstunde kritisieren. Sie wünschen ja abends Notturni!« Sie erwachte von dem spöttischen Ton.

»Adieu,« sagte sie und grüßte so, daß er die Hand nicht einmal heben konnte.

Zu Hause fand sie ihren Bruder, wartend. Er hatte sie nach der Rückkehr einmal aufgesucht, sich vom Vater erzählen lassen, selbst geschwiegen, und wie er ging, gesagt, vielleicht reiste er bald fort. Sie war's zufrieden und im Grunde nicht sehr erfreut ihn heute zu finden, da sie mit sich allein ins Reine kommen wollte.

»Verzeih! Stör' ich? Habe mir erlaubt – Zigarette – Vielleicht riecht sie dir zu stark – Ein bißchen Opium – Aber die Fenster –«

– Warum spricht er so viel und so unsicher? dachte Diana. Sie sagte sitzend: »Nimm doch Platz.«

»Ich gehe, wenn du gestattest.«

»Du bist unruhig.«

»Ein wenig.«

»Brauchst du mich?«

»Ja.«

»Geld?«

»Gewiß.«

Diana war es eigentlich lieb, daß er sie bat statt unbekannter Freunde, aber da er es nach zwei Jahren zum ersten Male tat, schloß sie auf große Schwierigkeiten, auf eine Krisis, sie sagte:

»Ja natürlich. Was ich habe.«

Er blieb stehn: »Danke. Aber es ist ziemlich viel.«

»Nun?«

»Viertausend.«

Sie hatte die Kühle wiedererlangt, stand auf, ging zum offenen Fenster. Nun sprach sie wie ein junger Mann:

»Es ist notwendig?«

»Dringend.«

»Bald?«

»Sofort.«

»Hm. Ich habe im ganzen fünf auf der Bank. Morgen könntest du vier beheben.«

»Morgen ist Sonntag, Banken geschlossen.«

»Also Montag.«

»Da ist es zu spät.«

»Ja, was läßt sich da tun?«

»Inzwischen borgen.«

»Nein!«

Es kam so kalt, daß er erschrak, denn es klang unwiderruflich. Er sagte:

»Nun – dann vorläufig gutsagen.«

»Bitte.«

Sie ging zum Tische, schrieb, dann sagte sie: »Bitte um den Namen.«

»Den – möcht' ich selber einsetzen.«

Sie drehte sich langsam nach ihm um. Wie er da stand, elegant, schön und bleich, mißfiel ihr diese ganze Existenz. Und doch stieg ein Stück Neid in ihr auf um dies völlig Geheimnisvolle seines Lebens, das scheinbar in gefurchten Bahnen lief. Sie wandte sich zurück, schrieb zu Ende, signierte, übergab es ihm in offenem Kuvert:

»Mehr hab' ich nicht, weißt du, ich werde nämlich meine Stellung aufgeben.«

Es war, als hörte er das gar nicht mehr. Er dankte nur noch, er ging. Sie klingelte.

»Mary, mach' mir Tee. Nein, bring' mir Früchte!«

»Es gibt ja nichts. Orangen sind aus und Erdbeeren noch nicht da.«

»Doch! Unten im Blumenladen steht ein Erdbeerstock!«

»Ja, die!«

»Gewiß die! Geh hinunter!«

– Warum ist niemand, der sie mir hinstellt? dachte sie eigensinnig. Was ist das für ein Tag! Untergrund in ein heißes Bureau, gleichgültige Briefe, Ärger mit der Registratur. Lunch im Bureau zwischen peinlichen Leuten, von denen einer schnalzte. Eine Notiz von Scherer, er bäte sehr höflich um die neue Aufstellung. »Mit Gruß der Ihre …« Der meine? Sehnsüchtiger Blick nach der Bibliothek. Widerstand gegen Diademe. Ein Bauer, Anarchist und Cellospieler, der mich höhnt, weil ich ihm an einem Abend in Venedig den Johann Sebastian verärgert habe. Ein Bruder, der vier Fünftel meiner Ersparnis verspielt. Eine Dienerin, der die ersten Erdbeeren für mich zu gut sind. Und doch, Diana! Eine Sekunde lang sahst du eine große Hand mit Meer und Schiffen spielen. Es war zwar nur Merkur, aber doch immerhin ein Gott! Nein, es muß etwas anderes angefangen werden …

Als sie den kleinen Strauch liebreich in Händen hielt, trug sie ihn langsam auf den Tisch, fühlte die Reife der Früchte, nickte, brach langsam die reifste. Gregor fiel ihr ein, und wie sie immer in umgekehrter Folge frühstückten. Sie grub die Zähne hinein, sie schlürfte die Frucht. Dann noch eine. Dann setzte sie sich und schrieb:

 

»Heute vor zwei Jahren schritt durch das Portal Ihres Geschäftshauses Paula Linke, einer Annonce folgend. Sie lasen meine Berichte, lieber Herr Scherer, Sie suchten, holten mich, Sie entdeckten Diana Wassilko.

Daß damals mein Blick grade auf diese Annonce gelenkt wurde, war nicht Ihre Kunst noch die meine. Aber Ihr Verdienst war es, die Fremde so rasch zu erkennen. Alles, was mir dann auf meinen Reisen in Ihrem Dienst an Dingen und Menschen begegnete, danke ich somit Ihnen, nächst dem Schicksal.

Vor allem Ihre eigene Gestalt, Ihre Lehre, Ihre Freundschaft. Erhalten Sie mir, was ich nicht löse, wenn ich Sie heute bitte, das Unternehmen verlassen zu dürfen, das mich schnell ersetzen wird. In neue Bewegung drängt es mich, ich drehe den Globus. Bis 1. Juni hoffe ich alles geordnet übergeben zu können.

In hundert Lagen des Lebens wird mein Auge freundlich zurückblicken auf das weiße Bureau, auf den runden Eßtisch und auf Excelsior.

Diana«

 

Sie überlas, sie kuvertierte. Als sie das Siegel ergriff, läutete das Telephon am Schreibtisch.

»Hier Scherer. Guten Abend.«

»Diesen Augenblick schloß ich einen Brief an Sie.«

»An mich? Ein Novum. Ich besitze nur eine Karte.«

»Und was gibt es denn?«

»Da kommt eben telephonische Nachricht, Fürst Heinrich ist heut vier Uhr fünfzehn verschieden. Ich dachte, vielleicht interessiert es Sie …«


 << zurück weiter >>