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Neununddreißigstes Kapitel

Die anscheinend nicht unerfreuliche Entwicklung, welche das Touricargeschäft im Spätfrühling des Jahres 1914 nahm, war das Resultat eines unökonomischen Energieeinsatzes von Seiten Carls. Er verfolgte selbst brieflich jeden Amateurflieger, jeden automobilisierten Großwildjäger, auf dessen Spur er kommen konnte. Er schenkte sich nie einen Nachmittag. Van Zile hatte alles Interesse an der Angelegenheit verloren. So oft Carl daran dachte, wie sehr die Entwicklung des Touricar-Geschäfts auf ihn gestellt war, machte er sich Sorgen über die Zukunft und beugte sich noch angestrengter über seinen Schreibtisch.

Gegen Ende Mai litt er einige Tage lang an Kopfschmerzen, Schlaffheit und Übelkeiten. Ruth log er vor: »Ich werd wohl beim Lunch was gegessen haben, was nicht mehr ganz frisch war. Du weißt ja, was man in den Gasthäusern kriegt.« Er gab jedoch zu, daß er sich eigentlich krank fühlte. Obwohl er keinen andern Wunsch hatte, als sich irgendwohin zu verkriechen, sich niederzulegen und ruhig zu sterben, ging er weiter ins Bureau.

Unmittelbar nach einem Sonntagsbruncheon, bei dem er sehr still war und elend aussah, legte er sich mit Typhus zu Bett.

Sechs Wochen lang war er krank. Täglich schien er mehr von der Jungenhaftigkeit zu verlieren, die ihn sein ganzes Leben lang hatte in der Sonne tanzen lassen. Dieser Verlust erschien Ruth wie ein hämischer Kobold, der dem Gespenst des Todes aufwartete. Stets an seinem Bett bleibend, nur hin und wieder die müden Augen mit Borwasser kühlend und an sein Lager zurückeilend, klagte sie um ihren verlorenen Jungen, während sie ihre Angst verbarg, dafür sorgte, daß ihre Blusen immer frisch, ihr Haar wohlfrisiert war, und den harten Mann, der so furchtbar still in seinem Bett lag, bemutterte … Er wurde nicht täglich rasiert; unter seinen hohlen Wangen wuchs ein heller Bart … Selbst wenn er nicht im Delirium lag, selbst wenn er verhältnismäßig bei Kräften war, sagte er niemals, bloß um der Jugend willen und des Zusammenseins mit ihr, etwas munter Törichtes.

Im Verlauf seiner Rekonvaleszenz war Carl so voll müden Sanftmuts, daß sie hoffte, der kleine Junge, den sie liebte, werde in ihm wieder zu neuem Leben erwachen. Aber die Schwingen des Falken schienen gebrochen. Zum erstenmal hatte Carl Angst vor dem Leben. Er saß da und machte sich Sorgen. Überlegte, was für Möglichkeiten der Touricar noch hatte, was für Stellungen er bekommen könnte, wenn es mit dem Touricar aus sein sollte. Er blieb gern den ganzen Tag müßig am Fenster sitzen, die Blicke auf einen schmalen, blutroten Streifen in der Decke gerichtet, die über seine Knie gebreitet war, über diesen Streifen ununterbrochen hinunter und hinauf, hinunter und hinauf fahrend, ganze Viertelstunden lang, während sie ihm Kipling und London und Conrad vorlas, um wieder den Lebensmut in ihm zu entfachen.

Ein süßer Tropfen war in ihrem Becher der Bitternis. Als Spielgefährten im Wald hätten sie nicht zu solcher Vertrautheit kommen können wie in diesen stillen traulichen Stunden.

Er begann ihr zuzusehn wie ein ernstes Kind, wenn sie im Zimmer umherging; und so fand sie wieder etwas von dem kleinen Jungen Carl. Doch es war nicht mehr der gleiche freche Junge, dessen Ungezogenheiten sie geliebt hatte. Aber das brave Kind, das dessen Stelle einnahm, vertraute ihr so sehr, baute so sehr auf sie …

Sobald Carls Kräfte es gestatteten, fuhren sie auf drei Wochen nach Point Pleasant an der Jersey-Küste, wo ihn die Fichtenwälder und die Seeluft von seiner Schwäche heilten. Einmal schwammen sie sogar, und Carl lernte zwei neue Tänze, die sonderbarerweise »Fox Trot« und »Lu Lu Fado« hießen. Ihr Hotel glich einer großen Scheune: Veranden, weiße Flanellkleider und hübsche junge Juden, die aufgeregt mit jungen Jüdinnen plauderten. Aber der Tanzsaal hatte einen guten glatten Boden, und Ruth war so lange ohne Musik und Freude gewesen, daß sie jeden Abend tanzte und mit einem rätselhaften jungen Mann, der sich durch einen Harvard-Akzent, jüdische Gesichtszüge, schöne braune Augen und eine Schildpattbrille auszeichnete, einen freundlichen Flirt begann, während Carl, ein zufriedenes Mauerblümchen, zusah.

Erholt und frisch kamen sie in die Stadt zurück, und augenblicklich schmiedete Carl sich wieder an seinen Bureautisch, als hätten Krankheit und Erholung ihm nicht das mindeste von den Schönheiten des Spielens gezeigt.

Ruth hatte das Tanzen und Flirten in Point Pleasant nicht ernst genommen, aber als sie in diesem Sommer Tag um Tag in der halbverfinsterten Wohnung saß und unter der Hitze litt, mußte sie manchmal weinen, wenn sie an die mondbeschienene Promenade am Meer, an die Lichtreflexe auf dem Parkettboden des Tanzsaals, an das Scharren der von der Musik berauschten Füße dachte.

Die Wohnung war heiß und stickig. Die Sommerhitze drückte unbarmherzig auf sie, und die unablässig summenden Fliegen machten sie halb wahnsinnig. Sie saß müde auf einer Stuhlkante, haßte alles, die Hitze, die zudringlichen Fliegen, den Schweiß auf ihrer Stirn, die Feuchtigkeit ihrer Hände, und nahm immer wieder ein kaltes Bad, um frisch zu sein, wenn Carl heimkam, der müde Mann, den sie bemuttern mußte und den sie als Einziges auf der ganzen Welt nicht haßte.

Selbst an den nicht seltenen kühleren Tagen, wenn die Straßen und die Wohnung erträglich wurden, war es Ruth ziemlich gleichgültig, ob sie ausging oder jemand zu ihr kam. Außer den Dunleavys und wenigen andern waren alle, die sie kannte, außerhalb der Stadt, und Olives fröhliches, oberflächliches Geschwätz konnte sie nicht mehr hören. Mit Phil war es etwas besser. Er kam hin und wieder zum Tee, starrte die Bilder an den Wänden an und tat rätselhafte Äußerungen über völlig gleichgültige Dinge.

Das ist nicht die Geschichte Ruth Winslows, sondern die Geschichte Carl Ericsons, aber Ruths böse Tage gehören mit dazu, denn ihre Unzufriedenheit bedeutete für ihn ebenso viel wie für sie. Wenn er in seinem heißen, dumpfen Bureau saß, wußte er ganz genau, daß Ruth in der Wohnung lebendig begraben war. Er schlug ihr vor, sie solle verreisen, aber sie weigerte sich, ihn zu verlassen. Er bemühte sich um eine weitere Ferienwoche für sie beide, aber er konnte nicht fort und begriff allmählich, daß er nun ganz und gar ein Gefangener des Geschäftes war.

Die Touricar Company hatte bis jetzt noch niemals ihre eigenen Kosten getragen. Wie lange konnte sich der alte VanZile mit den Millionen begnügen, welche die Zukunft – vielleicht – bringen würde?

Carl nahm sich sogar Arbeit mit nach Hause, obwohl er um Ruths willen lieber frei gewesen wäre. Es war wirklich um ihretwillen; er selbst wäre ja auch ganz gern frei gewesen, aber er war in den Fängen der unaufhörlichen Überanstrengung. Es freute ihn, wenn sie ihn hin und wieder an den Abenden allein ließ und in den Peace Waters Country Club ging, um mit Phil und Olive Dunleavy an einem Tanzvergnügen teilzunehmen. Wenn sie heimkam und ihn noch immer bei seinen Berechnungen antraf, hatte sie ein schlechtes Gewissen, aber er summte Walzermelodien vor sich hin, während sie einen dünnen blauseidenen Schlafrock anlegte und ihr Haar aufmachte.

»Ich kann diesen scheußlichen Kerker nicht mehr ertragen«, schrie sie ihm schließlich eines Abends zu, als er nicht mit ihr zur Eröffnung eines Dachgartens gehn wollte.

Er knurrte zurück: »Brauchst du ja auch gar nicht. Warum gehst du denn nicht mit deinem widerlichen Phil und Olive? Ich hab ja so was natürlich gar nicht notwendig!«

»Hör einmal, mein lieber Freund, jetzt hast du es aber lang genug ausgenützt, daß du krank warst. Ich werde nicht bis in alle Ewigkeit die Krankenschwester spielen.« Sie schlug die Tür zu ihrem Schlafzimmer hinter sich zu.

Etwas später stolzierte sie höchst würdevoll wieder heraus und verließ die Wohnung. Er tat, als sähe er sie nicht. Aber sobald die Fahrstuhltür ins Schloß gefallen war, fehlte ihm Ruth. Sie kam sehr betrübt nach Hause – und fand einen ebenso betrübten Carl vor. Dann, als sie sich den Versöhnungskuß gegeben hatten, machten sie miteinander aus, daß sie sich nach jedem Streit noch vor dem Schlafengehn wieder aussöhnen würden, was immer auch zum Streit geführt hätte, wer auch daran schuld sein mochte … Aber die nächsten beiden Tage waren sie so unangenehm höflich zueinander und hatten so offenbare Angst vor einem Streit, daß der Streit unbedingt kommen mußte.

Carl war noch nicht ganz einen Monat wieder an der Arbeit, aber er hoffte, der Touricar verspreche doch wenigstens so viel Erfolg, daß er nicht mehr an den Abenden arbeiten müßte. Er mietete einen VanZile Wagen, schmiedete Pläne für Weekendausflüge, hoffte, sie könnten – –

Da explodierte die ganze Welt.

Gerade in dem Augenblick, als die Erfindung des Dämmerschlafs daraufhinzuweisen schien, daß die Welt zur Zivilisation gelangen könnte, stürzten sich die Mächte in einen Krieg, dessen Gründe noch kein Mensch erforschen konnte. Carl las am Morgen des 5. August 1914 die Zeitungsüberschriften in dem Wahn, nicht »Nachrichten« zu lesen, sondern Geschichte.

Zehntausend Bücher berichten vom Weltkrieg, schildern, wie bitter Europa darunter litt; dieses Buch soll berichten, daß Carl wie die meisten in Amerika den Krieg nicht begriff, selbst als die Rekruten des Kaisers mit deutschen und amerikanischen Fahnen den Broadway entlang marschierten, selbst als sein eigenes Geschäft davon bedroht wurde. Der Krieg war zu viel für seine Einbildungskraft.

Jeden Mittag kaufte er ein halbes Dutzend Extraausgaben und eilte zu den Nachrichtentafeln des Times- und des Herald-Gebäudes. Wenn er Schlagzeilen sah wie: »Russen marschieren in Preußen ein«, »Japan wird am Krieg teilnehmen«, »Flugzeuge und U-Boote greifen englischen Kreuzer an«, redete er sich ein, er sei eine Figur in einem jener phantastischen Weltkriegsromane.

»Unsinn!«, sagte er, »ich träume. So einen Krieg kann es gar nicht geben. Dazu sind wir viel zu zivilisiert. Ich kann beweisen, daß das Ganze unmöglich ist.«

In diesem Rätsel verwirrte Carl nichts so sehr wie die Frage des Sozialismus. Es war für ihn eine feststehende Tatsache gewesen, daß das Bündnis der französischen und der deutschen sozialistischen Arbeiter einen Krieg zwischen den beiden Nationen völlig unmöglich machte – und sein Wissen erwies sich als Ahnungslosigkeit, sein Glaube als Torheit. Er kaufte sich ein oder zwei sozialistische Zeitungen, um eine Erklärung zu suchen, und fand bei den Theoretikern und den Führern der Partei nur noch mehr Verwirrung. Auch sie begriffen nicht, wie das alles zustande gekommen war, und standen klagend inmitten der Trümmer des internationalen Sozialismus. Wenn deren Glaube verfinstert war, um wieviel mehr mußte es Carls unbestimmtes, ungeleitetes, optimistisches Träumen von einer Weltbrüderschaft sein.

Zwei Möglichkeiten standen ihm offen – den Sozialismus als Irrtum über Bord zu werfen, oder zu ihm zu halten als zu einer Lehre, die logisch war, sich aber bis jetzt noch nicht durchgesetzt hatte. Er beschloß, zu ihm zu halten; er konnte sich nicht vorstellen, daß er sich dem unsagbar pessimistischen Glauben auszuliefern vermöchte, die ganze Menschheit bestehe aus tierischen Dummköpfen, denen es unmöglich sei, nach dieser großen Sünde zu bereuen und sich vom Morden abzuwenden. Und was für andere Mittel gab es? Freilich, der Sozialismus hatte den Krieg nicht verhindert, aber die Monarchie und die Bureaukratie, die bürgerlichen Friedensbewegungen und die Kirche hatten es auch nicht getan.

 

Während eine ganze Welt im Krieg stand, dachte Carl vor allem an sein eigenes Geschäft. Er bildete keine Ausnahme. Die Presse war voll bestürzter Fragen, was mit Amerika geschehen würde. Zwei Wochen lang schien die Automobilbranche, abgesehen von einer großen Steigerung der Erzeugung von Kriegslastwagen, völlig darniederzuliegen. VanZile ließ Carl zu sich kommen und sprach pessimistisch über die Zukunft des Touricar – nun, da jeder Luxus bedroht war.

Doch der Mittelwesten versprach eine glänzende Ernte und Wohlhabenheit. Der Osten folgte; und langsam auch der Süden, obwohl die Ausfuhr für seine Baumwollernte versperrt war. Nach wenigen Wochen gingen alle Typen von Automobilen gut, ganz besonders teure Wagen. Es zeigte sich, daß das Automobil nicht mehr bloßer Luxus war. Das Geschäft versprach sogar mehr denn je, so rasch wurden die Wagen der kriegführenden Nationen zerstört.

Doch VanZile hatte einmal die Möglichkeit erwogen, der Sicherheit halber seine Beteiligung am Touricar zurückzuziehen, und schien sie auch weiter zu erwägen. Carl las sein Schicksal in VanZiles zerstreutem Wesen, und wenn VanZile sich zurückzog, mußte Carls Anteil wertlos werden. Aber er klammerte sich mit dem erschrockenen Trotz eines Jungen und mit der stillen Härte eines Mannes an seine Arbeit. Nie war die Furcht weit von ihm. Im Flugzeug hatte er niemals große Angst gehabt, er konnte, ganz allein, durch eigene Anstrengung gegen den Wind kämpfen, aber wie sollte er einen Weltkrieg oder eine Weltindustrie steuern?

Er suchte seine Besorgnisse vor Ruth zu verbergen, aber sie erriet sie. Eines Abends sagte sie: »Manchmal glaube ich, wir beide sind etwas Ungewöhnliches, weil wir wirklich frei sein wollen, und dann kommt so etwas wie dieser Krieg, und unser Butterbrot und unsere kleinen Kuchen sind in Gefahr, und da merke ich, daß wir gar nicht frei sind; daß wir genau dasselbe sind wie alle andern Gefangenen, darauf angewiesen, wieviel uns die Arbeit einbringt und wie schnell die Untergrundbahn fährt. Ach Liebling, wir dürfen nicht ganz darauf verzichten, ein wenig töricht zu sein, so ernst jetzt auch alles wird.« Sie stand ganz nahe bei ihm und legte ihren Kopf an seine Schulter.

»Freilich dürfen wir das nicht. Wir müssen nur um so mehr zueinander halten, wenn die Welt einen Anlauf nimmt und auf uns los geht.«

»Das wollen wir auch!«

Der Kriegswahnsinn dauerte weiter, und Carl bewegte sich, was seine Geschäfte betrafen, am Rande eines Abgrundes, aber mit der Zeit gewöhnte er sich daran. Der alte Carl erwachte in ihm zu neuem Leben und sagte lachend: »Laß doch das verfluchte blöde Geschäft zum Teufel gehn, wenn es will.«

Aber es wollte nicht zum Teufel gehn.

Es schleppte sich dahin, und Carl wurde nervös, dann munter sorglos, und schließlich wieder nervös, bis der Wechsel zwischen Niedergeschlagenheit und Galgenhumor ihn anekelte und Ruth sich den Kopf darüber zerbrach, ob er ein Bureausklave oder ein Freibeuter wäre. Da er beides auf einmal war, konnte er keines recht überzeugend sein. Sie machte ihm sein Schwanken zum Vorwurf, er gab Antworten; die Spannung zwischen ihnen wuchs …

Zu allen anderen Schwierigkeiten tauchte zum Entsetzen Ruths jetzt noch der muntere, aber sehr vulgäre Martin Dockerill, Carls früherer Mechaniker, auf.

Martin Dockerill war ebenso hager und scheu wie früher, er schrieb noch immer seiner Tante in Fall River Postkarten und hatte eine Schwäche für Operettenchoristinnen, aber er spielte (wenigstens in der Öffentlichkeit) nicht mehr Mundharmonika, weil er so wohlhabend geworden war, daß er ein gewisses Dekorum wahren mußte.

Weder er noch Carl kamen auf den Gedanken, daß Martin nicht »jederzeit«, so oft er kommen wollte, »willkommen« war, daß Ruth sich nicht freute, wenn er von betrunkenen Abenteuern und seinen Gedanken über die Verwendung des Automobils in der Kriegführung erzählte. Weil Ruth lächelte, meinte Martin, sie interessiere sich für seine Theorien über die Luftaufklärung im Krieg ebenso sehr wie Carl.

Ruth wußte längst, daß Carls Leben zum größten Teil mit Dingen ausgefüllt gewesen war, die ganz außerhalb ihrer Sphäre lagen, aber sie hatte es gewußt, ohne es auch wirklich zu empfinden. Seine Gespräche mit Martin machten ihr klar, wie zufrieden er auch ohne sie mit seinem Leben gewesen war. Sie begann zu fürchten, daß er das Fliegen wieder aufnehmen könnte.

So kam es zu ihren ersten ernsthaften Streitigkeiten; es waren nicht viele, und nach ein oder zwei Tagen hatten sie sie wieder vergessen; aber mindestens drei hitzige Auseinandersetzungen waren darunter, bei denen beide glaubten, damit sei »alles aus«. Sie stritten immer über das eine, wovor sie schon vorher Angst empfunden hatten, über die Notwendigkeit des Streitens.

Und immer wieder kam Martin Dockerill als ausgezeichneter Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten.

Ruth hatte nichts gegen Martins Derbheit einzuwenden, aber als der frühere Mechaniker dahinter kam, daß er mehr Geld verdiente als Carl, und diesen in ihrer Gegenwart fragte, ob er nicht einen kleinen Pump bei ihm aufnehmen möchte, da haßte sie Martin, ohne sich einen Grund dafür nennen zu wollen. Es wurde ihr unmöglich, etwas anderes in ihm zu sehn als einen Bauernlümmel, einen emporgekommenen Dienstboten, dessen Freundschaft mit Carl lediglich darauf hinwies, daß ihr Mann gleichfalls ein »Outsider« sei. Fest davon überzeugt, höchst vornehm und zurückhaltend zu sein, fragte sie Carl, ob es denn keine Möglichkeit gebe, Martin taktvoll darauf aufmerksam zu machen, daß es völlig genügen würde, wenn er alle vierzehn Tage einmal und nicht jede Woche zwei- bis dreimal käme. Carl ärgerte sich. Sie sagte wütend, was sie sich wirklich dachte, und zog sich für den Abend zu Tante Emma zurück. Bei ihrer Rückkunft erwartete sie einen Carl vorzufinden, der ebenso reuevoll wäre wie sie selbst. Unglückseligerweise galten demselben Carl, der erklärt hatte, es sei purer Egoismus, seine Religion oder sein Vaterland für etwas Heiliges zu halten, seine Freunde als heilig. Er ging im Wohnzimmer auf und ab und wartete auf einen Kampf – und seine Erwartung erfüllte sich auch.

In der Meinung, nichts weiter als furchtlos offen zu sein, übertrieben sie in der Erinnerung alles, worunter sie gelitten zu haben glaubten. Ruth wies darauf hin, daß Carl für Florence Crewden ebenso wenig übrig hätte, wie sie für Martin. Sie klagte ihn von neuem des Schwankens an, spottete über Walter MacMonnies (den sie in Wirklichkeit gern hatte), über Gertie Cowles (die sie gar nicht kannte) und sogar, wenn auch zaudernd, über Carls ländliche Verwandte.

Und Carl war ebenso unangenehm. Nach ihrem letzten Angriff nannte er sie eine degenerierte New Yorkerin und schlug die Tür zu seinem Schlafzimmer hinter sich zu. Ihr Gelübde, nicht zu Bett zu gehn, ohne vorher jeden Streit geschlichtet zu haben, war gebrochen.

Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück kam, war er bereits fort.

Am Abend waren sie wieder von gefährlicher Höflichkeit. Martin Dockerill kam, und Carl sprach absichtlich von den Schönheiten eines Vagabundierens, das für sie offensichtlich völlig unmöglich war. »Ich weiß nicht«, sagte er, »aber am schönsten ist es doch, wenn man morgens hinter irgend einem Holzstapel aufwacht und dann zur Bahn geht und schwarz irgend wohin fährt; man hat keine Ahnung, wo man eigentlich ist, und alle Eisenbahner und Polypen sind hinter einem her. Das nenn ich Leben!«

Als Martin gegangen war, warf Carl einen Blick auf Ruth. Sie nahm eine steife Haltung ein und tat so, als wäre sie ganz in eine Zeitschrift vertieft. Er nahm aus dem Durcheinander von Papieren und Briefen, das er immer in der Brusttasche seines Rockes mit sich herumführte, eine aus einer Zeitung herausgeschnittene Kriegskarte hervor und zog Linien darauf. Dann holte er aus seinem Zimmer ein dünnes Büchlein, das er sich an diesem Tag gekauft hatte. Er las gespannt darin. Ruth gelang es, zu sehn, daß das Buch den Titel Flugzeuge und Luftaufklärung bei den europäischen Heeren trug.

Sie sprang auf und rief: »Falke! Warum liest du das?«

»Warum soll ichs denn nicht lesen?«

»Du denkst doch nicht daran – – Du – –«

»O nein, ich werd wohl nicht die Traute haben, mich jetzt zu melden. Du hast mir ja schon zu verstehn gegeben, daß ich ein Schlappschwanz bin.«

»Aber warum schließt du mich so von deinen Gedanken aus? Warum tust du das?«

»Du guter Gott! Sollen wir denn mit dem Ganzen noch einmal anfangen? Wir haben das ja schon oft genug durchgekaut, und ich hab wirklich keine Lust mehr, dir zu sagen, daß es nicht wahr ist.«

»Ich bitte sehr um Entschuldigung, Falke. Vielen Dank dafür, daß du mir klargemacht hast, daß ich nichts anderes bin als eine dumme kleine Durchschnittsfrau.«

»Ich danke dir dafür, daß du mir gezeigt hast, daß ich plump und brutal bin. Das hast du ja schon oft genug getan. Daß ich die Fliegerei aufgegeben hab, hat natürlich nichts zu sagen.«

»Ach, werd nicht tragisch. Oder wenn es schon sein muß, dann vergiß nicht, mir zu sagen, daß ich dir dein Leben ruiniert habe.«

»Bitte. Ich werde nichts mehr sagen, Ruth.«

»Sieh mich nicht so an, Falke. So hart. So beobachtend … Kannst du denn nicht begreifen – – Hast du gar kein Verständnis? Kannst du nicht begreifen, wie schwer es für mich ist, nach dem gestrigen Abend zu dir zu kommen und zu versuchen – –«

»Sehr nett von dir«, sagte er finster.

Mit einem Ach-Schrei lief sie in ihr Schlafzimmer.

Er konnte sie schluchzen hören, er fühlte, wie ihr Schmerz ihn hinüberzog. Aber diesmal sollte kein Frauenarm seinen Groll betäuben. Er hatte ganz entschieden keine Lust, zu ihr hinüberzugehn. Es war ja so müßig, sich zu versöhnen und zu streiten, sich wieder zu versöhnen und zu streiten. Es brachte ihn ganz aus der Fassung, daß ihr Weinen nebenan so deutlich forderte, er solle kommen und Frieden schließen. Er knurrte: »Verflucht!«, riß seinen Mantel vom Haken und ging aus der Wohnung – um elf Uhr an einem kalten Novemberabend.


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