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Zweites Kapitel

Von dem Wässerchen wanderten sie nahezu zwei Meilen über die dunklen Kieshänge im Eisenbahneinschnitt und dann weiter auf dem hohen Brückengerüst über den Joralemonfluß, wo Gertie mit Schmeicheleien von Balken zu Balken gelockt werden mußte. Nur einmal blieben sie stehen: auf einer Lichtung zeigte sich eine Taschenratte. Gertie vergaß schließlich sogar ihre Altersüberlegenheit, als Carl das zitternde Pfeifen der Taschenratten nachahmte und das Tier wie hypnotisiert auf seinem frisch aufgeworfenen Erdhäufchen sitzen blieb. Carl pirschte sich an sein Wild heran. Es kam wie immer, die Taschenratte verschwand in dem Augenblick, als Carl die Hand ausstreckte, in ihrem Loch: aber es sah wirklich so aus, als hätte er sie um ein Haar gefangen, und Gertie sprang vor Aufregung von einem Bein auf das andere, während Carl stolzen Schritts mit geschultertem Säbelstock zurückkehrte.

Gertie war müde. Ihr, dem Mädchen aus Minneapolis, hatten weder die Eisenbahnschwellen noch der Durchlaß großen Eindruck gemacht, aber neben dem Mann, der Taschenratten fangen konnte, ging sie voll Stolz einher, bis Carl fragte:

»Kriegst du schrecklichen Hunger? Es ist bald Abendbrotzeit.«

»Ja, ich bin wirklich hungrig«, antwortete sie voll Vertrauen.

»Ich werd ein paar 'Toffeln stibitzen gehn. Ich glaub, da drüben muß irgendwo ein Farmhaus sein. Hinter der sumpfigen Stelle seh ich einen Schornstein. Du bleibst hier.«

»Ich trau mich nicht allein zu bleiben. Ich will lieber nach Haus gehn. Ich hab Angst.«

»Komm. Ich geb schon acht, daß dir nichts passiert.«

Sie umgingen ein Moor, das mitten im Walde lag. Carl legte den linken Arm um sie und hielt mit der rechten Hand den Säbel fest. Noch glühte das letzte Rot der sinkenden Sonne am Himmel, muntere Schwarzdrosseln wiegten sich auf dem Schilf, aber aus dem Gebüsch, das auf dem Waldboden wuchs, kroch die Dämmerung hervor, und Gertie wurde von panischer Angst gepackt. Sie wollte augenblicklich nach Hause laufen. Sie sah, wie die Dunkelheit nach ihnen griff. Ihre Mutter würde sie bestimmt durchhauen, weil sie so lange wegblieb. Sie entdeckte, daß ihr Röckchen einen Schmutzfleck bekommen hatte, und daß am Schuh ein Knopf fehlte. Ihr war kalt, und schließlich, wenn sie das Abendessen zu Hause versäumte, würde sie um die Teezwiebäcke und den Honig kommen. Gerties wohlerzogener kleiner Magen kannte seine Rechte und bestand auf ihnen.

»Ich hätte nicht mitkommen sollen!« jammerte sie. »Ich hätt es nicht tun sollen. Glaubst du, daß Mamma schrecklich böse sein wird? Du wirst es ihr doch erklären? Du wirst, ja?«

Als Offizier vom Dienst hatte Carl die Pflicht, die geschwärzten Baumstümpfe zu beobachten, die das Unterholz durchsetzten. Und da war etwas, drüben im Wald, etwas, das hinter den Bäumen gespensterhaft weiß aufleuchtete. Vielleicht hatte das Etwas sich nicht bewegt; vielleicht war es wirklich nur ein Baumstumpf – –

Aber er antwortete ihr ganz laut, damit versteckte Räuber es hören könnten: »Ich kenn einen großen starken Mann, gleich da drüben, der ist ein Freund von mir; er ist Bremser bei der M. & D. und läßt mich im Häuschen mitfahren, so oft ich will, und der ist jetzt direkt hinter uns. (Das hab ich jetzt nur so gesagt, Gertie; ich werd deiner Mutter schon alles erklären.) Er ist der größte Mensch, den es gibt!« Dann fuhr er in etwas ruhigerem Tone fort: »Ach Herr Jesus! Gertie, wein nicht! Bitte! Ich werd schon achtgeben auf dich, und wenn du gar kein Abendbrot kriegst, werden wir uns ein paar 'Toffeln stibitzen und braten.« Er schluckte. Es war ihm ein fürchterlicher Gedanke, zum Holzschuppen und zum Hühnerhof zurückzukehren, aber trotzdem sagte er nachgiebig: »Weißt du, vielleicht sollten wir jetzt aufhören und nicht weiter unser-Glück-suchen gehn –«

Ein langer Klagelaut durchschnitt die Luft. Die Kinder schrien wie aus einer Kehle auf und rannten weinend darauf los; besinnungslos vor Angst stolperten sie über den dunklen Waldboden vorwärts. Carl spürte ein eisiges Kribbeln im Rücken. Aber er schwang in wilder Tapferkeit seinen Stock und war, weil er für sie zu sorgen hatte, gefaßt genug, um sich darauf zu besinnen, daß der Klagelaut der Ruf der Rohrdommel gewesen sein mußte.

»Das war nichts weiter wie ein Vogel, Gertie; der tut uns nichts. Hab ich schon oft und oft gehört.«

Trotzdem zitterte er noch, als sie an den Rand der Lichtung hinter dem Sumpf kamen, auf der der Farmhof lag. Es war grau-dunkel. Sie konnten nur die Umrisse einer Scheune und einer Farmershütte erkennen; beide waren für Carl neu. Sie bei der Hand haltend, flüsterte er:

»In der Scheune müssen ein paar 'Toffeln oder Rüben sein. Ich werd mich hineinschleichen und nachsehn. Du bleibst hier am Maisverschlag stehn und legst das Ohr zwischen die Latten. Sieh mal – so.«

Er verließ sie. Ihr furchtsames Weinen hob ihn über seine Jahre hinaus. Er ging auf den Zehenspitzen zum Scheunentor, und dabei erblickte er ein Licht im Farmhaus. Er reckte sich, um den Riegel des breiten Tors zu erreichen, und zog den hölzernen Dorn heraus. Der Riegel löste sich lärmend von der Krampe. Das Tor ging mit ächzendem Knarrlaut auf und schlug gegen die Scheunenwand.

Gelähmt lauschte er in das Schweigen auf der Lichtung und wartete. Im Haus wurden Schritte hörbar. Die Tür öffnete sich. Ein riesiger Farmer mit wirrem Haar und schwarzem Bart hielt eine Lampe in die Höhe und sah um sich. Es war der »Schwarze Deutsche«.

Der Schwarze Deutsche war eine lebendige Fabel. Er betrank sich oft und fuhr, auf die Pferde einschlagend und deutsch vor sich hinfluchend, des Nachts an Carls Haus vorüber. Einmal hatte er den Schullehrer verprügelt, weil sein Sohn geschlagen worden war. Freunde hatte er nicht.

»Du lieber Himmel, du lieber Himmel, wenn ich nur zu Haus wäre!« schluchzte Carl; aber augenblicklich setzte er sich in Bewegung, um Gertie schleunigst zu Hilfe zu kommen.

Der Schwarze Deutsche setzte die Lampe ab. »Wer ist da! Ich seh dich! Verflucht noch einmal!« brüllte er, eilte heraus und packte eine Mistgabel, die im Düngerhaufen stak.

Carl rannte zu Gertie und keuchte: »Er ist hinter uns her!« und zerrte sie in die Haselsträucher hinter dem Maisbehälter. Während er mit seinen landgewohnten Füßen einen Weg ins Innere des Waldes suchte und auch fand, hörte er, wie der Schwarze Deutsche, mit seiner Mistgabel auf das Strauchwerk einschlagend, schrie:

»Verstecken, ja! Ich weiß, wo du steckst. Hah

Carl schleppte die Kleine weiter, bis er den Weg verloren hatte. Nichts war zu sehn. Sie konnten nur durch das Gebüsch kriechen, das Gertie mit boshaften Fingern ins Gesicht stach und an ihren stolzen Volants riß. Er hob sie über gestürzte Baumstämme, machte sie von Zweigen frei, und immer wieder sprach er ihr, so oft es sein eigenes Schluchzen erlaubte, Mut zu: er versuchte, sie davon zu überzeugen, daß ihre unglaubliche Bedrängnis nicht das Ende der Welt bedeute, und piepste tapfer:

»Wir sind jetzt beinah schon auf der Straße, Gertie; wirklich, beinah auf der Straße. Ich kann ihn gar nicht mehr hören. Ich hab keine Angst vor ihm – der würde sich ja gar nicht trauen, uns was zu tun, sonst könnt ihm was passieren von meinem Pa.«

»Oh! Ich hör ihn! Er kommt! Ach bitte, hilf mir, Carl!«

»Herrjeh! lauf rasch! … Ach, ich hör ihn nicht. Ich hab keine Angst vor ihm!«

Endlich kamen sie auf einen grasbewachsenen Fahrweg im Wald und legten sich atemlos auf den Boden. Oben konnten sie einen Streifen des Sternenhimmels sehn; die ganze Welt war in der undurchdringlichen Herbstnacht dunkel und still. Carl sagte nichts. Er suchte festzustellen, wo sie waren – wohin diese Straße sie bringen könnte. Sie konnte tiefer in den Wald hineinführen, den er nicht so gut kannte wie die nähere Umgebung des Durchlasses, und im Gebüsch hatten sie sich so oft gewendet, daß er weder wußte, wo die große Landstraße, noch wo die Bahnstrecke lag.

Er half ihr auf, und sie stapften Hand in Hand weiter, bis sie sagte:

»Ich bin schrecklich müde. Es ist schrecklich kalt. Mir tun die Füße schrecklich weh. Lieber Carl, ach, bitte, führ mich jetzt nach Haus. Ich will zu meiner Mamma. Vielleicht wird sie mich jetzt gar nicht mehr durchhauen. Es ist so dunkel – ohhhhh – –« Die nächsten Worte brachte sie nur stammelnd und abgerissen heraus. »Da! An der Straße! Er lauert uns auf!« Sie sank zu Boden, versteckte das Gesicht im Arm und stöhnte: »Hilf mir! Er soll mir nichts tun.«

Carl marschierte mit wuchtigen Schritten vor. Gleich vorn an der Straße hockte etwas Formloses. Er zitterte und fror am ganzen Leib vor Angst. Seinen Stock-Säbel hatte er verloren, aber er bückte sich, tappte umher, bis er einen andern Stock fand, und piepste der schattenhaften Gestalt zu:

»Ich hab keine A-a-angst vor dir! Geh dort weg, du!«

Die Gestalt gab keine Antwort.

»Ich weiß, wer du bist!« Vor Angst brüllend lief Carl vor, schwang wütend seinen Stock und schrie: »Rühr mich nicht an!« Das Holz fuhr mit einem albernen, tonlosen Knacken auf die Gestalt herunter – einen harmlosen Steinblock an der Straßenseite. »Das ist ja bloß ein Stück Fels, Gertie! Herr Jesus, bin ich froh! Es ist bloß ein Stück Fels! … Ach, ich hab ja die ganze Zeit gewußt, daß es nur ein Stück Fels ist! Ben Rusk kriegt immer Angst, wenn er im Wald einen Baumstumpf sieht, und glaubt jedesmal, es ist ein Räuber.«

So vor sich hinredend, ging Carl zu ihr zurück, hob sie wieder auf, ließ sich auf die Wange küssen und ging mit ihr weiter.

»Mir ist so kalt«, klagte Gertie von Zeit zu Zeit, bis er ihr vorschlug:

»Ich werd mal probieren und ein Feuer machen. Vielleicht sollten wir überhaupt ein richtiges Lager machen. Ich hab noch ein Streichholz, das ich aus der Küche gemaust hab. Vielleicht kann ich ein Feuer machen, und dann bleiben wir besser dabei.«

»Kannst du ein richtiges Lagerfeuer machen? Wie ein Indianer?«

»Mhm.«

»Also machen wir eins … Aber lieber möcht ich nach Haus. Mir ist kalt, und ich wünsch mir, wir hätten ein paar Teezwiebäcke – –«

Die kleine Miss Gertrude Cowles, die überall, wohin sie kam, das gute Mädchen war, besaß eine allzu große Portion Selbstzufriedenheit; doch sie setzte wohl Vertrauen in Carls Heldentum, und als sie davon sprach, daß sie fror, schien sie es für ganz selbstverständlich zu halten, er werde augenblicklich dafür sorgen, daß ihr wärmer würde. Carl hatte allerdings niemals von den romantischen Männern gehört, die in den Romanen schönen, aber frierenden Damen ihren Rock anbieten; nichtsdestoweniger zog er seine Jacke aus und hüllte sie darin ein, obwohl ihm die jetzt nur vom Hemd geschützten Schultern vor Kälte weh taten.

»Ich kann ganz, ganz weit weg dort drüben ein Wasser hören. Dort werden wir Lager machen«, entschied er.

Sie krochen durch das Strauchwerk, wobei Carl führte und tastend den Weg suchte. Am Wasser fand er einen langen Grasstreifen; ohne etwas zu sagen, sammelte er mit zitternden Händen Laub, Zweige und trockene Äste und baute daraus eine Pyramide, wie er es von den älteren, walderfahrenen Jungen gelernt hatte.

Es war still; kein Lüftchen regte sich; aber in Carls Erinnerung lebte jedes Wort über Wildjagden in den Wäldern des Nordens, das ihm jemals zu Ohren gekommen war: er malte sich aus, was alles geschehen mochte, wenn das einzige Streichholz, das er besaß, versagte, und konnte so überaus interessante Ängste produzieren. Gertie mußte sich mit ausgebreiteter Jacke neben ihn knien, und er zögerte einige Male, bevor er sich entschloß, das Hölzchen anzustreichen. Es flackerte auf; das Laub fing Feuer; die angehäuften Zweige brannten augenblicklich mit großen Flammen.

Er schluchzte: »Herr Jesus, wenn das nicht Feuer gefaßt hätte …« Hin und wieder verkündete er laut: »Ich hab keine Angst gehabt«, um es sich selbst einzureden, und warf mit großartiger Gebärde Zweige in das Feuer.

Gerties Hochachtung vor dem Heldentum schien doch nicht allzu groß zu sein; sie seufzte: »Ich bin hungrig, und – –«

»In der zweiten Klasse hat uns der Lehrer eine Geschichte erzählt von einem Polarforscher, und der war in einem Schneesturm draußen – –«

»– und ich möcht, wir hätten ein paar Teezwiebäcke«, schloß Gertie freundlich, aber fest.

»Ich werd ein paar Haselnüsse pflücken.«

Er verließ sie und gab ihr den Auftrag, auf das Feuer achtzugeben. Als er wegkroch und das Lager im Rücken hatte, plagte ihn grauenhafte Angst, denn nun hatte er niemand zu beschützen. Kaum war er einige Meter vorwärts gekommen, da sah er, keine zweihundert Meter weit, jenseits des Bächleins das kleine Viereck eines erleuchteten Fensters in der Dunkelheit hängen.

Einen furchtbaren Augenblick lang war Carl überzeugt, es müsse das Fenster des Schwarzen Deutschen sein. Das war zu viel für sein erschöpftes Kindergemüt. Aber um den Hof des Schwarzen Deutschen herum gab es keinen Bach. Obwohl er gar nicht die Absicht hatte, sich näher an das unbekannte Licht heran zu wagen, knurrte er: »Wenn ich will, tu ichs auch!« und humpelte vorwärts.

Er mußte über das Wasser, über das fremde Wasser, dessen Übergangssteine er nicht kannte. Langsam und zitternd zog er sich Schuhe und Strümpfe aus und versuchte mit widerstrebenden Zehen, ob das Wasser kalt sei. Es war kalt.

»Verf–flucht!« schimpfte er großmächtig. Er stieg hinein und watete hinüber.

Er suchte sich einen Stein und hielt ihn bereit, um eine Waffe gegen den Hund zu haben, der ganz bestimmt kommen und nach ihm schnappen mußte, während er auf den Zehenspitzen über die Rodung ging. Seine nassen Beine taten ihm weh vor Kälte. Die Tatsache, daß er sich in ein fremdes Grundstück eingeschlichen hatte, vertiefte noch sein Gefühl der Verlorenheit. Aber tapfer taumelte er weiter, auf die kleine Blockhütte zu, die sich jetzt deutlicher vom Himmel abhob. Es schien ein Haus zu sein, das er noch nie gesehen hatte. Als er hinkam, stand er eine volle Minute still und wagte nicht, sich zu rühren. Doch von der anderen Seite des Wassers kam Gerties klagender Ruf:

»Carl, ach Carl, wo bist du?«

Er mußte sich beeilen. Er kroch die Hüttenwand entlang, um zum Fenster zu gelangen. Das war aber so hoch, daß er nicht hineinsehn konnte. Er suchte nach etwas, worauf er sich stellen könnte, und fand schließlich ein kurzes Brett, das er an die Hüttenwand lehnte.

Eine Sekunde lang blickte er durch das verstaubte Fenster hinein und sprang schleunigst wieder hinunter.

Ganz allein war in der Hütte gerade der Mann, der noch mehr gefürchtet und noch mehr von Fabeln umsponnen war als der Schwarze Deutsche – Bone Stillmann, der Mann, der nicht an Gott glaubte.

Bone Stillman las Robert G. Ingersoll und sagte, was er dachte. Im übrigen bildete er keine Gefahr für den Gemeindefrieden; er war ein alleinstehender alter Junggeselle, der seine Farm bewirtschaftete. Es hieß, er sei Matrose oder Polizist, Collegeprofessor oder Priester, Falschmünzer oder Defraudant gewesen. Positiv wußte man nur, daß er vor drei Jahren aufgetaucht war und diese Farm erworben hatte. Er war ein grauköpfiger Mann von fünfundfünfzig Jahren mit langem, nikotinfleckigem grauem Schnurrbart und trug stets am Hals offene blaue Flanellhemden. Für Carl, der da an der Hütte stand, war Bone Stillman der Inbegriff alles Dämonischen.

Gertie rief wieder. Carl stieg noch einmal auf sein Brett, um die Hütte auszukundschaften, und überlegte sich, was er anfangen sollte.

Bone saß lesend an einem Kiefernholztisch, auf dem noch das Geschirr vom Abendessen stand. Vor ihm lag ein schön gebauter englischer Setter. Der Hund schlief. In der Hütte herrschte eine beängstigende Stille und Einsamkeit.

Während Carl hineinsah, ließ Bone das Buch sinken und sagte: »Na, Bob, was hältst du von der Einzelsteuer, ha?«

Carl blickte sich argwöhnisch um … Außer Bone war niemand in der Hütte … Man erzählte sich, daß der Teufel in eigener Person ihm ab und zu Besuche mache … Über Carl lag der Bann eines Alpdrucks. Der Hund hob den Kopf, reckte sich, blinzelte, klopfte mit dem Schwanz auf den Boden, stand auf, legte die Schnauze auf Bones Knie, und der einsame Mann sprach vor sich hin:

»Der Mensch sagt da in seinem Buch, daß die Stadt der natürlichste Ort ist, wo man leben soll – die Urstämme beweisen, daß der Mensch von Natur aus ein Herdentier ist. Was meinst du dazu, was, Bob? … Ein miserables Land ist das. Gedacht wird hier überhaupt nicht. Warum im Namen der sieben frommen Schwestern hab ich überhaupt Farmer werden wollen, was?

Reißen wir aus, Bob.

Ich bin kein Atheist. Ich bin Agnostiker.

Einsam, Bob? Komm rüber, Karl Marx, und unterhalt dich mit seinem Schnurrbart. Der ist liberal. Dem ist ganz egal, was du sagst. Er – – Ach, halt die Schnauze! Du bist schon eine verflucht armselige Gesellschaft. Sag doch was!«

Carl, der sich noch immer nicht regte, war um so entsetzter, weil von Gertie nichts zu hören war, nicht einmal ein schluchzendes Rufen. Alles Mögliche konnte ihr zugestoßen sein. Während er sich dazu zu bringen suchte, an die Fensterscheibe zu klopfen, ging Stillman, den Hund streichelnd und sich die Pfeife stopfend, im Blockhäuschen hin und her. Dabei kam er aus Carls Gesichtsfeld, auf die Seite des Raums, an der das Fenster war.

Eine riesige Hand riß es auf und packte Carl am Haar. Zwei entsetzte Gesichter starrten einander auf eine Entfernung von fünfzehn Zentimetern an.

»Ich hab dich gesehn. Bist hergekommen, um mich zu piesacken!« brüllte Bone Stillman.

»Ach, Mister, ach bitte, Mister, das ist nicht wahr. Ich und Gertie, wir haben uns im Wald verirrt – wir – autsch! Ach bitte, lassen Sie mich los!«

»Nanu, du bist ja bloß son kleiner Bengel! Komm mal her.«

Der hagere Arm Bone Stillmans zerrte Carl am Hemdkragen durch das Fenster herein.

»Verirrt, so? Wo ist denn das andere – Gertie, was?«

»Die ist drüben im Wald.«

»Armes kleines Luder! Na wart mal, ich geh meine Laterne anzünden.«

Die schwankende Laterne zog freundliche, stets wechselnde Lichtkreise, und jetzt hatte Carl keine Angst mehr vor dem gefährlichen Gebiet des Farmhofs. Er saß huckepack auf Bone Stillman und betrachtete zufrieden den ehrerbietig wedelnden Schweif des Hundes, der neben ihnen einherlief. Als sie zum Feuer kamen, fanden sie Gertie schlafend vor. Stillman hob sie auf, um sie in die Hütte zu tragen; dabei wurde sie kaum wach, sie schmiegte ihr weiches Haar unter sein Kinn und schloß die Augen.

Während Stillman die beiden hineinführte, sagte er vergnügt: »Ich werd einspannen und euch in die Ortschaft zurückbringen, ihr jungen Tropenwanderer! Vorher müßt ihr aber eigentlich was essen. Was gibt man Kindern zum Essen?«

Der Hund leckte Carl die Hand, und Carl hatte seine Angst davor, daß der Teufel erscheinen könnte, fast schon ganz vergessen. In einschmeichelndem und freundlichem Ton antwortete er: »Porridge und Fleisch und Kartoffeln – nur mag ich Kartoffeln nicht, und – Pastete

»Tut mir leid, Pastete hab ich nicht, aber wie wärs mit Speck und Eiern?« Stillman schürte sein Kanonenöfchen schnitt Speck und unterhielt sich weiter mit den Kindern, die schüchtern auf der über sein Bett gebreiteten Büffelhautdecke saßen. »Habt ihr im Wald Angst gehabt?«

»Jawohl.«

»Ihr dürft nie ver – – Zum – – Verflixtes Ei! Du darfst eins nie vergessen, mein Söhnchen: nichts, was nicht in dir drin ist, kann dir was tun. Es kann dir die Zehen abfressen, aber bis zu dir selber kanns nicht kommen. Niemand außer dir selber kann dir was tun. Ich muß mal sehn, daß ich dir das klar mache, alter Junge, wenn ich kann …

Da ist euer Futter. Kommt her und greift zu. Ziemlich schläfrig, was? Ich werd euch eine Geschichte erzählen. Soll ich euch erzählen, wie Napoleon mit der Theorie vom Gottesgnadentum aufgeräumt hat, oder wie ich mit Charlie Weems die Insel Tiburon erforscht hab? Also – –«

Von all dem, was Bone Stillman sagte, behielt Carl allerdings kein einziges Wort im Gedächtnis, aber es ist durchaus möglich, daß die Art des alten Einzelgängers, ihn wie einen erwachsenen Freund zu behandeln, unter den ungreifbaren Kräften, die ihn später aus Joralemon in die große Welt hinaustrieben, eine der mächtigsten war. Dem schulverhafteten Kind, dem junge Damen beibrachten, daß die böseste Ruchlosigkeit ein Flüstern in der Schule und die größte Tugend ein stumpf-stilles Verhalten sei, diesem Kind wurde hier zum ersten Male eine vernünftige Grundlage für den Gedanken geliefert, daß es nicht immer ein Klippschüler bleiben müsse.

Der Mann im Flanellhemd, der Tabak kaute, der ein schlechtes Englisch sprach und Flüche in seine Reden mischte, erzog Carl fünfzehn Minuten lang im Sinne von Fröbel und Maria Montessori.

Carls Erinnerung an Bones Gespräche verschwimmt und geht darin über, daß er irgendwo auf einem Leiterwagen, in Büffelhäute gehüllt, neben Gertie saß, daß er dann aufwachte, als der Wagen stehn blieb und Bone eine Gruppe von Männern anrief, die mit Laternen nach der fehlenden Gertie suchten. Scheinbar in der nächsten Sekunde wurde er vor seinem Haus heruntergehoben, seine Mutter, die eine Schürze um hatte, küßte ihn und schluchzte: »Ach mein Junge!« Er schmiegte den Kopf an ihre Schulter und sagte:

»Mir ist kalt. Aber ich geh nach San Francisco.«


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