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Elftes Kapitel

In Carls Briefkasten lag eine Benachrichtigung des Präsidenten, die ihn in die Kanzlei beorderte. Verdrossen begab er sich in den Warteraum vor den Zimmern des Präsidenten und des Dekans. Er hatte den lebhaften Wunsch, dem rundlichen, wolligen Dr. S. Alcott Wood unverhohlen seine Meinung zu sagen.

Der Einfache Smith verließ eben das Wartezimmer. Er packte Carls Hand mit seiner Bauerntatze und brummte: »Leben Sie wohl, mein Junge.« Er sah durchaus nicht tapfer und ritterlich aus – sein runzliger, ziegelroter Hals stak wie immer in einem nicht allzu sauberen, blauen Flanellhemd, und der schmutzige Nagel seines Zeigefingers arbeitete an seinem großen Ohr herum. Carl begrüßte in ihm einen neuen König.

»Was wollen Sie mit ›Leben Sie wohl‹ sagen, Al?«

»Ich habe mich eben hier abgemeldet, Carl.«

»Wie sind Sie denn darauf gekommen. Hat man Sie herbestellt?«

»Nein, ich hab mich eben abgemeldet«, sagte der Einfache Smith. »Wie ich Schullehrer war, da hatt ich mal mit einem Schulausschuß von Farmern einen Streit darüber, ob die Kinder ein bißchen Botanik lernen sollen. Die Leute haben gemeint, wenn den Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht wird, ist das ganz genug. Ich bin damals mit meiner Sache ganz durchgekommen, aber ich hab mir geschworen, daß ich keinen Lehrer im Stich lasse, der sich ehrlich für das einsetzt, was er für richtig hält. Ich hab ganz andere Ansichten wie Frazer über die Sozialisten und alle die Sachen – wer mal hinterm Pflug gegangen ist wie ich, der weiß, daß der Mensch für seine Frau und für sich selber vorwärts kommen will und den Gewerkschaftsbonzen gönnt, daß sie auch mal richtig arbeiten. Aber ich glaub, er meints wirklich ehrlich, na, und da bin ich eben aufgestanden, und das bedeutet, daß ich mein Stipendium verliere. Die brauchen mich nicht erst rauszuschmeißen. Ich werd wohl nach Minnesota an die Universität … Wahrscheinlich kann ich dort nicht so billig leben wie hier, aber ein Vetter von mir hat einen Schuhladen, und vielleicht kann ich bei ihm ne Stellung kriegen … Junge, das war mutig von Ihnen, daß Sie aufgestanden sind … Ich freu mich, daß wir uns doch noch gefunden haben. Ich hab so ein Gefühl, als hätten Sie mich von irgend was befreit. Gott segne Sie.«

Dem Assistenten des Dekans erklärte Carl im Wartezimmer großartig: »Ericson, 1908. Bin zum Präsidenten bestellt.«

»Es ist verfügt worden, daß Sie statt dessen mit dem Dekan sprechen. Setzen Sie sich. Der Dekan ist im Augenblick beschäftigt.«

Eine halbe Stunde ließ man Carl warten. Es war ihm nicht angenehm, daß er mit dem Dekan sprechen sollte, der nicht ein ängstliches altes Schaf war wie S. Alcott Wood, sondern ein junger Streber mit gestutztem Schnurrbart; er trug eine goldene Kneiferkette hinter dem einen Ohr, hatte ein barsches Organ, wußte viele Daten und Tatsachen, tat so, als ob er sich ein wenig für Musik interessierte, und war im Ganzen keine sehr erfreuliche Erscheinung. Er hatte an der Universität von Chicago promoviert, worauf er sich in aufdringlicher Weise etwas zugute tat. Während seiner Studien hatte er gearbeitet, um sich »sein Brot zu verdienen« – und das ist aller Tradition und aller Romanliteratur zufolge der vollkommenste Weg dazu, sich edle Unabhängigkeit und Geschäftstüchtigkeit zu erwerben. Der Segen früher Armut wird tatsächlich im allgemeinen als diejenige Erziehung gepriesen, die einen am besten in den Stand setzt, so viel Reichtum zu erwerben, daß man seinen eigenen Kindern den Fluch früher Armut ersparen kann. Wenn man über George Washington und die Pfadfinder, über das professionelle Baseballspiel und die Y. M. C. A. böse Reden führte, würde man sich weniger Gefahren aussetzen, als wenn man zu behaupten wagte, sich während der Studien sein Brot zu verdienen, sei nicht notwendigerweise etwas Mannhafteres, als während der Studien zu spielen, zu träumen und zu lesen.

Schüchtern, ohne verallgemeinern zu wollen, berichtet der Chronist diesen Umstand aus dem Leben des Dekans; der tüchtige junge Mann hatte nichts von der Liebenswürdigkeit seines Vaters, eines freundlichen Landgeistlichen, dafür aber ein widerlich geschäftiges Wesen, eine unangenehme Bereitwilligkeit, sich um alles, was in seiner Nähe vorging, zu kümmern; das kam daher, daß er in den Tagen vor seiner Promotion ein Meister in allen kleinen Künsten des Geldverdienens geworden war; er hatte bescheidene und beschränkte wohlhabende Studenten unterrichtet und dabei tüchtig geschröpft, er hatte seine Jahrgangskollegen mit endlosem Gerede dazu gezwungen, bei der Wäscherin waschen zu lassen, deren Agent er war … Wenn der Dekan aus einer Tasse trank, streckte er den kleinen Finger weit ab, und auch in seiner Kleidung galt er gern für einen Mann von Welt.

Die halbe Stunde des Wartens lehrte Carl die Macht der Obrigkeit kennen. Und immer wieder sah er den Einfachen Smith vor sich, wie er im Laden seines Vetters sich mit seinen großen roten Händen abmühte, Damenschuhe »anzuprobieren«. Als er schließlich aufgefordert wurde, in die Kanzlei des Dekans zu kommen, stolperte er, an seinem weichen Filzhut herumzerrend, hinein.

Der Dekan saß mit dem Rücken zu Carl an einem Zylinderbureau und schrieb. Die glänzende Fläche seines schmalen, ein wenig kahlen Kopfes sah tüchtig und furchteinflößend aus. Ohne aufzublicken schnauzte der Dekan: »Setzen Sie sich, junger Mann.«

Carl setzte sich. Er zerdrückte seinen Hut in den Händen. Er starrte eine gerahmte Photographie an und scharrte ununterbrochen mit den Füßen, weil er sich Mühe gab, sie still zu halten.

Wieder mußte er warten.

Der Dekan musterte Carl über die Schulter. Die Feder hatte er noch nicht weggelegt. Die Finger seiner linken Hand klopften auf die Schreibtischplatte. Dann wandte er sich entschlossen mit seinem Drehstuhl um, als sei er jetzt willens, alles für immer zu ordnen.

»Also, junger Mann, sind Sie bereit, sich bei dem Präsidenten und dem Lehrkörper zu entschuldigen?«

»Entschuldigen? Wofür? Der Präsident hat gesagt, die, die protestieren wollen – –«

»Wir wollen alle Großtuerei beiseite lassen, Ericson, ja? Ich zweifle nicht im mindesten daran, daß Sie bereit sind, den Märtyrer zu spielen. Deshalb habe ich auch darum gebeten, daß man Sie mir überläßt, damit Präsident Wood nicht noch mehr Ärger hat. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir auf alles Posieren verzichten. Ich versichere Ihnen, daß es nicht den – –«

»Ich – –«

»– geringsten Eindruck auf mich macht, Ericson. Kommen wir direkt zur Sache. Sie wissen ganz genau, daß Sie im Fall des Mr. Frazer so viele Scherereien – –«

»Ich – –«

»– gemacht haben, wie Sie nur konnten. Und ich bin der Ansicht, ich bin tatsächlich der Ansicht, wir müssen von Ihnen eine schriftliche Entschuldigung und das Versprechen bekommen, daß Sie in Hinkunft etwas mehr denken, bevor Sie reden, sonst werden wir Sie eben bitten müssen, sich vom College abzumelden. Es tut mir leid, daß wir anscheinend nicht die Fähigkeit haben, dieses College so zu leiten, daß Sie damit einverstanden sein können, Ericson, aber da wir diese Fähigkeit nun einmal nicht haben, ja, da fürchte ich nun, wir müssen Sie eben bitten, unsere Unfähigkeit nicht noch zu vergrößern, indem Sie so viel Scherereien machen, wie Sie nur können. Einen Augenblick; wir wollen kein Theaterstück aufführen! Sie können Ihren Hut ruhig wieder aufheben. Es scheint mir gar keinen Eindruck zu machen, wenn Sie ihn hinunterwerfen, obwohl Sie das zweifellos höchst dramatisch, ja tatsächlich höchst dramatisch gemacht haben. Passen Sie mal auf. Ich kenne Sie, und ich kenne Ihren Typus, mein junger Freund, und ich habe nicht – –«

»Hören Sie mal. Warum bin ich denn als Sündenbock ausgesucht worden? Warum soll ich mich als einziger entschuldigen? Weil ich als erster aufgestanden bin? Wie der Prexy es verlangt hat?«

»O nein, keineswegs. Sagen wir, es ist deshalb, weil Sie, als Sie dort standen, anderen ganz schamlos Zeichen gegeben und Ihr Möglichstes dazu getan haben, Leute zu verführen, die nicht im geringsten den Wunsch hatten, sich an Ihrem Scherereienmachen zu beteiligen … Also, junger Mann, ich habe sehr viel zu tun; ich glaube nicht, daß ich noch sehr viel Zeit für Sie habe. Ich erwarte also Ihre schriftliche – –«

»Sagen Sie mal ernsthaft, Dekan.« Carl lachte plötzlich. »Kann ich noch eines sagen, bevor ich rausgeschmissen werd?«

»Selbstverständlich. Wir sind durchaus bestrebt, Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und stets – stets jedem Gelegenheit zu geben – –«

»Also für den Fall, daß ich mich abmelde und Sie nicht noch einmal sehe, wollt ich nur sagen, daß ich Ihre Kaltblütigkeit bewundere. Ich wollte, ich könnte vergessen, daß ich ein Sophomore bin, der mit einem Dekan spricht; dann könnt ich Ihnen nämlich sagen, daß ich nie gedacht hätte, daß jemand so mit mir reden kann, wie Sies getan haben, ohne daß ihm was passiert. Ich habe immer gemeint, ich würde so einem Menschen den Schädel einschlagen, aber Sie haben mich vollständig eingewickelt. Das ist wunderbar! Wirklich wahr, mir ist erst in diesem Augenblick eingefallen, daß es gar kein Gesetz gibt, das mich dazu zwingt, hier zu sitzen und das alles einzustecken. Sie haben mich vollständig hypnotisiert.«

»Sie wissen recht gut, daß ich Ihnen wahrheitsgemäß antworten könnte, ich bin es nicht gewohnt, daß Studenten mir gegenüber derartige Reden führen. Aber es macht mir Freude zu sehen, daß Sie Vernunft genug haben, sich nicht zu einer komischen Figur zu machen und sich einzubilden, daß Sie einen edlen Kampf um Freiheit fechten. Der Beschluß ist nun einmal vom Präsidenten und mir gefaßt, und ich kann Ihnen nicht mehr als diese eine Chance geben. Wenn ich Ihre Entschuldigung nicht bis heute nachmittag fünf Uhr in meinem Briefkasten finde, muß ich Sie bis auf weiteres vom Unterricht ausschließen und Ihre Relegierung beim Lehrkörper beantragen. Ich habe aber den Eindruck, mein Junge, daß Sie vielleicht, trotz aller Flausen, die Sie sich in den Kopf gesetzt haben, eine gewisse Portion Mut haben und ich möchte Ihnen ein Wort darüber sagen – –«

Der Dekan sagte ein Wort; er sagte sogar eine beträchtliche Anzahl höchst bewundernswerter Worte, welche schilderten, wie die Relegation auf Carls Freunde, seine Familie und – hier verstieg er sich fast zu Tränen – auf seine Mutter wirken müßte.

»Jetzt gehen Sie und denken Sie darüber nach; suchen Sie ohne jeden Egoismus Rat im Gebet, mein Junge, und lassen Sie vor fünf von sich hören.«

Nur – –

Der Grund dafür, daß Carl wirklich sehr lebhaft an seine Mutter dachte, daß ihm die Küche des Ericson-Häuschens ganz deutlich vor Augen stand und er sah, wie seine Mutter mit dem müden Gesicht den Arm ausstreckte, um die Weckuhr, die auf dem Regal über dem Wassereimer neben dem Knäuel Bindfaden stand, aufzuziehen, der Grund dafür, daß er ein sonderbar bedrückendes Gefühl im Magen hatte, war das Bewußtsein, daß er im Begriff stand, Plato zu verlassen, ohne eine Ahnung zu haben, wohin in aller Welt er ging.

Noch während Carl sich vor Augen hielt, er dürfe nicht gehen, er sei es »seinen Leuten« schuldig, zu Kreuze zu kriechen und da zu bleiben, stolperte er in die Bank und hob seine zweiundneunzig Dollar ab. Das schien eine große Summe zu sein. Während des Wartens rechnete er auf der Rückseite eines Formulars:

  92.00 von der Bank
  2.27 bei mir
ungefähr 0.10 zu Hause

macht 94.37
Schulden beim Schneider   1.45
Schulden beim Türken   0.25
Nach Mpls.   3.05
Nach Chi. wahrscheinl.   15 bis 18.00
Nach N. Y.   20 bis 30.00
Nach Europa (Zwischend.)   40.00

Im ganzen ungefähr   92.75

– damit käm ich nach Europa.

»Herrgott! Jetzt könnt ich, wenn ich will, nach Europa fahren, nach Europa! Und so zwei Dollar würden mir noch für Essen auf der Eisenbahn übrig bleiben. Aber ich müßt wohl auch was für Trinkgelder rechnen. Vielleicht kostet Zwischendeck nicht einmal ganz vierzig Dollar. Damit müßt ich – – Donnerwetter, ich hab so viel, daß ich jetzt auf jeden Fall damit anfangen kann, mir die Welt anzusehen.«

Er schwänzte sein Mittagessen und wanderte aufs Land hinaus, versuchte ins Klare darüber zu kommen, wie und wohin er gehen würde. Als er weit im Norden von Plato war, in einer mit Niederholz bestandenen Gegend, senkte sich wolkenschwer und kalt der Abend herab; abgestorbene Zweige ächzten schwermütig, die unfreundliche Luft drohte mit einem Regen, der niemals wirklich kam, und die Verlassenheit des Landes schien alle Möglichkeiten der Zukunft in traurige Nebel zu hüllen … Er sehnte sich nach dem behaglichen Lampenlicht seines Zimmers, nach dem Türken und der Bande mit ihren roten Sweatern, wollte mit ihnen Negerlieder singen; und die ganze Frazeraffaire sollte ein böser Traum sein, der bald vergessen wäre. Die Welt außerhalb Platos würde jedoch ganz diesen lauernden Wäldern und trübseligen Sümpfen gleichen.

Er kehrte um. Trost konnte er nur finden, wenn er Hirn und Herz ganz leer machte. Verdrossen, stumpf sah er den Sonnenuntergang, sah er die bauchigen Wolkenhaufen, die einen Augenblick lang dem Grand Cañon glichen. Er mußte das Grand Cañon sehen. Und er würde es auch sehen! … Er hatte sich umgewandt. Sein klammes Herz wurde wärmer. Allmählich, ganz langsam begriff er, daß er frei genug war, um nach der Freiheit der Jugend zu greifen.

In einer Vision sah er sich, den Pionieren gleich, deren geistiger Abkömmling er war, Amerika durchwandern. Wie schön das Panorama war, das diesen Amerikaner in der ersten Generation begeisterte, können nur die ermessen, die den Duft unserer braunen Erde gerochen haben, nicht aber die sich huldvoll gebärdenden Götter aus dem Ausland, die herüberkommen, um Geld zusammenzuscharren, indem sie über unsere lasterhafte Gewohnheit, Geld zusammenzuscharren, Vorträge halten und dann nach Europa zurückkehren, um zu berichten, Amerika sei ein Land irischer Politiker, jüdischer Theaterunternehmer und millionenschwerer Bergwerksbesitzer, die sich durch die stereotype Phrase »kalkuliere, daß …« auszeichnen und ausnahmslos in unfreundlichen Hotels oder in armseligen Hütten auf hoffnungslosen Präriestrichen hausen. So war das Amerika nicht, von dem Carl bewundernd träumte – –

Städte voll ragender Türme; lohgelbe Wüsten im Südwesten, und der fleckenlose, kornblumenblaue Himmel über grünen Sträuchern und leuchtenden Hügeln; die schweigenden Wälder des Nordwestens; chinesische Golddrachen in San Francisco; alte Obstgärten in Neuengland; die ölig schimmernde Fläche des Golfs von Mexiko, über die Viehdampfer nach Rio hinunterfahren; eine verschneite Blockhütte unter feierlichen Kiefern in den Bergen des Nordens. In der Ferne, in der Ferne, in der Ferne, jenseits des Horizonts, unter größern Sternen, wo Männer scherzend zu Pferde sitzen und Frauen lächeln. Er wiederholte Namen, die den Amerikaner bezaubern: Shenandoah, Santa Ynez, das Little Big Horn, Baton Rouge, die Great Smokies, Rappahanok, Cheyenne, Monongahela, Androscoggin; Cañon und Bayou; Broadway und El Camino Real …

Er eilte nach Plato zurück und lief in sein Zimmer. Er hätte gern bei Professor Frazer einen Besuch gemacht, aber er wagte es nicht. Professor Frazer hatte sich aus einem freundlichen, Tee trinkenden Herrn in einen Propheten verwandelt, den er verehrte. Der Türke wartete auf ihn. Die Entschuldigungen, die der Türke dafür vorbrachte, daß er Frazer nicht unterstützt hatte, schnitt Carl mit der fürchterlichen, kurz angebundenen Höflichkeit eines entfremdeten Freundes ab, und als er seine Kleider in zwei alte Koffer zu packen begann, erklärte er: »Ist ja schon gut – ob du in der Kapelle aufgestanden bist oder nicht, ist deine Sache.« Er suchte eifrig im hintersten Winkel des Wandschrankes nach einem Schuh, der gar nicht da war, weil er die beschämt traurige Miene nicht sehen wollte, die der Türke bekam, als er ihm seine Bücher und seinen geliebten Hockeyschläger zurückließ. Er dehnte das Suchen noch aus, weil ihm einfiel, es sei nun elf Uhr, der Zug nach dem Norden gehe um Mitternacht, der nach Minneapolis um zwei Uhr früh, er würde also gut daran tun, sich vor seiner Abreise schlüssig darüber zu werden, wohin er reisen wollte. Schön, Minneapolis und Chicago. Weiter – das wollte er noch abwarten. Es hatte Zeit – er konnte ja jetzt in die weite Welt hinaus, wohin er wollte …

Vergnügt tauchte er aus dem Wandschrank wieder auf.

Während der Türke schmachtete, schrieb Carl kurze aufrichtige Briefe an Gertie, an den Bankier, bei dem er angestellt war, und an Bennie Rusk, den er mit den Worten »Freund Ben« ansprach. Dann saß er plötzlich da und schrieb einen langen, muntern Brief an Bone Stillman, der als Mann, der etwas gewagt hatte, aus toten Gebieten der Erinnerung wieder auftauchte. Seiner Mutter – die er in Gedanken sehnsüchtig seine Mammi nannte – schrieb er ganz offen. An seinen Vater zu schreiben, war ihm nicht möglich. Mit raschen Faustschlägen klebte er Marken auf die Briefe, und dann warf er einen Blick auf den Türken. Er war fröhlich, reif und sachlich, zu allem bereit. »In einer halben Stunde hau ich ab«, rief er lachend.

»Herrgott!« seufzte der Türke. »Mir ist so, als wär ich an allem schuld. Ach richtig. Hier ist ein Brief, ich hab vergessen, ihn dir zu geben. Heute nachmittag gekommen.«

Der Brief war von Gertie:

 

Lieber Carl, ich habe gehört, daß du wirklich nicht aufhörst, dich für den Frazer einzusetzen und ich muß Dir sagen, Carl, ich finde, Du könntest auch ein bißchen auf andere Leute Rücksicht nehmen und müßtest nicht so egoistisch sein – –

 

Ohne weiter zu lesen, zerriß Carl wütend den Brief. Dann dachte er: »Armes Ding; sie meint es sicher ganz gut«, und machte ihr zum Abschied in Gedanken eine Verbeugung.

Sicherlich war sein Herz nicht ganz leer von der Milch der Menschenliebe, wenn er auch seit einiger Zeit zu einem harten Klotz geworden war. Trotzdem muß man ihm den Vorwurf machen, daß er die ungeschickten Versuche des Türken, Frieden zu schließen, mit eisiger Kälte zurückwies. Höflich – Höflichkeit zwischen diesen beiden! – lehnte er das Anerbieten des Türken, ihm beim Transport der Koffer zum Bahnhof behilflich zu sein, ab. Das war wie ein Schlag ins Gesicht.

»Leb wohl. Machs gut«, sagte er, als er die schweren Koffer aufnahm, und, ohne einen Blick hinter sich zu werfen, aus dem Zimmer ging.

Rechtzeitige Selbstbesinnung rettete ihn vor dem Verbrechen des Pharisäertums. In der Dunkelheit des Treppenhauses empfand er mit einem Male wieder, was für ein guter Kamerad der Türke gewesen war. Er ließ die Koffer fallen, ohne sich darum zu kümmern, was aus ihnen wurde, lief ins Zimmer zurück, wo der Türke noch immer auf die Tür starrte, und rief:

»Hör mal, Alter, ich war – – Du Kamel, willst du mich die beiden Dinger allein zum Bahnhof schleppen lassen?«

Lachend, einander versprechend, daß sie schreiben würden, eilten sie zusammen fort.

Der Zug nach Minneapolis fuhr aus, und Carl gab sich Mühe, ein alltägliches Gesicht zu zeigen. Keiner der verschlafenen Passagiere sah, daß er in das Goldene Vlies gehüllt war und unter dem Arm die Leier des Odysseus trug. Er war lediglich ein junger Mann, der unterwegs in den Zug stieg.


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