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Dreizehntes Kapitel

An einem Maitag, als der Frühling in vollem Glanze stand und die Judasbäume die Hänge des Blue Ridge in ein jubelndes Rot tauchten, kroch ein junger Tramp namens Carl Ericson in Roanoke in Virginia aus dem Gestänge eines Güterwagens.

»Hm!« brummte der junge Tramp. »Die Berge da gefallen mir. Hier werd ich wohl eine Zeitlang bleiben. Virginia! Plantagen und Bürgerkriegsgeschichte und Richmond und so weiter. Und ich bin hier!«

Ein zerlumpter alter Tramp steckte verschlafen den Kopf aus einem Holzhaufen in der Nähe der Bahnstrecke heraus und begrüßte den Rekruten mit einem Gähnen: »Hallo, Slim. Wie schauts?«

»Ganz gut. Wie gehts denn da weiter, Billy?«

»Rechts der Weg dort, und dann gradeaus.«

»Schönen Dank«, sagte Slim – vormals Ericson. »Wie ist denn das übrigens mit Arbeit in dem – –«

»Mit was

»Arbeit.«

»Arbeit? Du suchst – – Jetzt haust du aber ab. Los. Mach dich dünne. Los jetzt; steh da nicht rum. Du bist kein anständiger Tramp. Du bist einer von denen, von den gottsverdammten Arbeitern, die uns das Gewerbe versauen.« Der Veteran sah Carl vorwurfsvoll an, aber bei dem Gedanken daran, wie bitter er sich in dem jungen Kameraden getäuscht hatte, kam auch ein wenig Traurigkeit in seinen Blick, und sein zerraufter Kopf verschwand langsam im Holz.

Carl grinste und machte sich auf den Weg. Er ging in vier Restaurants. Mittags eilte er bereits, mit einer weißen Jacke bekleidet, im Speisesaal des Waskahominie Hotels, das sich durch »weiße Bedienung« auszeichnete, geschäftig als Kellner herum.

Nach zwei Tagen war er der Zechgefährte eines Gastes im Waskahominie – Parker Heyes, eines von Cape Charles bis nach Shockeysville berühmten Schauspielers, der jetzt in Roanoke ernste Rollen spielte, und zwar bei der Großen Ryley Zeltschau, »Spielt Unter Dem Zelttuch Bei Regen Und Sonnenschein. Fünfundzwanzig Cent. Separierte Plätze Für Farbige. Beste Zeltschau Der Welt. Nur Diese Woche.«

Als Parker Heye von der Vorstellung zurückkam, begleitete ihn Carl in sein Zimmer und lauschte dort voll Gläubigkeit den Erzählungen des Komödianten: wie eifersüchtig der Direktor Ryley, der ja selbst auch auftrete, auf sein Können sei, wie Heye in einem Ensemble in Newport News »alle an die Wand gespielt« habe, und so weiter.

»Hörn Sie mal«, schwatzte Heye drauflos, »Sie sind ein patenter Junge, Sie sehn gut aus, Sie haben Bildung. Warum versuchen Sie eigentlich nicht, ein Engagement zu kriegen? Ich werd Ryley von Ihnen erzählen. Der zweite Jugendliche geht am Sonnabend, und bis dahin ist eigentlich keine Zeit, jemand aus Norfolk herzuholen.«

»Herrgott! Das wär großartig!« rief Carl, der wie alle Menschen seit der Vertreibung aus dem Paradies (außer Calvin und Richard Mansfield) insgeheim dem Glauben huldigte, er habe das Zeug zu einem gewaltigen Schauspieler in sich.

»Na, ich will mal sehn, was ich für Sie tun kann«, sagte Heye beim Abschied, abwechselnd mit den Hosenträgern schnalzend und sich am Kinn kratzend. Parker Heye hatte zwar Rock und Schuhe ausgezogen, und in seinem Nacken stand ein Gestrüpp von Haaren – aber seine Gesellschaft war trotzdem angenehmer als die der drei schweizer Kellner, die in dem heißen Zimmer unter dem Dach schnarchten; die Tür stand halb auf, und gegenüber lag, gleichfalls mit halboffener Tür, der Raum, wo die schwarzen Zimmermädchen sich schnaufend in ihrem unruhigen Schlaf wälzten. Während Carl die Kleider, die ihm in der Hitze am Leib klebten, ablegte, betrachtete er finster, angeekelt die Nase rümpfend, die nicht gerade lieblichen Gestalten der schlafenden Kellner. Er war der Aristokrat unter den Proletariern, der jetzt zu seinen Eigenen Leuten – von der Großen Ryley Zeltschau – zurückkehrte.

Als zweiter Jugendlicher der Zeltschau bekam Carl nur zwölf Dollar in der Woche, doch Mr. Ryley machte ihm Versprechungen, die an Glanz und Pracht nicht hinter dem Beryll des Orients zurückstanden, und erlaubte ihm, das Beispiel zweier Kapellenmitglieder zu befolgen und sich in dem Garderobenzelt hinter der Bühne, dessen Boden zertretenes Heu bedeckte, ein Feldbett aufzuschlagen. Dort bereitete Carl sich auch sein Frühstück auf einem Spirituskocher. Die Leinwand knarrte die ganze Nacht; Neger und kleine Jungen steckten neugierig die Köpfe zwischen Zeltwand und Boden herein. Aber es lohnte – er reiste wieder herum; die Vormittage waren, abgesehen von den einstündigen Proben, frei; er stieg zu den Hochlandwiesen Virginias und Kentuckys empor, die inmitten von Fichten und Lorbeer und Rhododendron lagen; seine Wanderungen führten ihn zu lehmverschmierten Blockhütten, aus denen Negerkinder schüchtern heraussahen, zu Bergschluchten, in denen der blutrote Hartriegel leuchtete, und zu freundlich dahinplätschernden Flüssen. Einmal saß er eine Stunde lang auf dem Easter Knob und blickte zu einem fernen Paß hin, dessen verschwommene Bläue sich in seinen Träumen in den Ozean verwandelte. Ein ander Mal hörte er davon erzählen, daß hinten in den Bergen heimliche Schnapsbrennereien wären. Er unterhielt sich mit bärtigen deutsch-amerikanischen Wiedertäuferbrüdern und deren Frauen, die große, breitkrempige Hüte trugen; und als der Zufall ihn mit einem Veteranen der Konföderierten zusammenführte, lauschte er dessen Erzählung von der Verteidigung Richmonds, konstatierte mit Wonne, daß die Grauen Jungens wirklich existierten und nicht bloß in Geschichtsbüchern vorkamen.

Von allen diesen Entdeckungen schrieb er seiner Mutter; er dachte daran, wie wohl der abgearbeiteten, verbrauchten Frau die Sonne des Südens tun würde! Und er schickte ihr die ersten fünf Dollar, die er sich ersparte.

Sowie Carl jedoch Schauspieler geworden war, begegnete ihm Parker Heye mit eifersüchtiger Mißgunst; der Komödiant konnte sich nicht genug tun an Verachtung, wenn er ihn, inmitten der in der Männergarderobe zusammengedrängten kleinen Schauspieler, vor einem Fichtenbrett, das über zwei Sägeböcke gelegt war, im Schein eines flackernden Petroleumlichts in die Geheimnisse des Schminkens einweihte. Carl haßte schließlich Heye und sein schmutziges Gesicht, seine hellen großen Augen und gelben Zähne und die Haarfranse, die ihm in die Stirn hing, sein schwarzes, unweigerlich schief sitzendes Schleifchen, seinen schäbigen blauen Anzug, seine geckenhaft geschnittenen Knöpfstiefel mit den »Nashornkappen«. Heye höhnte immer wieder: »Schminken Sie sich nicht so stark … Mensch, Sie sollen nur ein bißchen Rouge auf die Lippen legen. Was meinen Sie denn, was Sie sind? Eine blödsinnige Venus mit knallrotem Mund? … Versuchen Sie doch mal so über die Bühne zu gehen, als ob Sie nur ein Holzbein hätten … Es ist ja üblich zu schlafen, wenn man eine stumme Rolle hat, aber schnarchen dürfen Sie nicht! … Ah, Sie sind schon ein blendender Schauspieler! Wenn ich denke, daß ich Ihre Geschichte vom College gefressen habe! … Schminken Sie sich die Augenbrauen nicht so stark, Sie Dummkopf … Ich möchte bloß wissen, warum Sie eigentlich Schauspieler werden wollten – –!«

Der Große Ryley war in allem derselben Meinung wie Heye und wunderte sich mit ihm darüber, daß er überhaupt einen Versuch mit einem Dilettanten gemacht hatte. Die Garderobe war für Carl eine von Heustaub erfüllte Hölle. Aber in »Der Witwe Scherflein«, in »Alabama Nell«, »Des Schmugglers Tochter« und »Des Verbrechers Rache« zu spielen, machte ihm viel mehr Freude als seinerzeit, in dem nun fast ganz vergessenen Plato, sich einzelne Stellen von Shakespeare herauszusuchen. Die Berghütte, in der er in »Des Schmugglers Tochter« sehr laut sein Gewehr abfeuerte, war ganz echt; und wenn der alte Gebirgler rief: »Süh sollän mir nücht mein Mödel stählän!« stand Carl das Wasser in den Augen, schwor er – felsenfest davon überzeugt, daß in dem Hohlweg hinter dem rückwärtigen Vorhang seine bärtigen Feinde lauerten – mit echter Glut, er werde das Mädchen beschützen.

»Des Verbrechers Rache« war sein Lieblingsstück, weil er darin einen jungen Millionär zu spielen und einen (altgekauften) Frack zu tragen hatte. Er hielt einen Haufen brüllender Banditen in Schach, die in einer Spielhölle hinter einem umgestürzten Tisch kauerten. Mit einer Hand strich er der Naiven, Miss Evelyn L'Ewysse, beherzt über das liebliche Haar, in der anderen hielt er eine Pistole, und unterdessen scherzte er furchtlos und unerschrocken, zur nicht endenwollenden Begeisterung des Publikums, vor allem der wiehernden Neger, deren Gesichter im unruhigen Licht der heruntergeschraubten Azetylenlampen zu einem einzigen gelbschwarzen, mit dem Weiß der Augäpfel getupften Streifen wurden.

Solange die Leute, voll Achtung vor der Zeltkunst, vor ihm saßen, konnte Carl sie lieben; aber selbst den winzigsten Negerjungen in zerlumpten Hosen machte die Neugier dreist, sobald die Schauspieler sich außerhalb des Theaterzeltes zeigten, und vollends wurde Carl aus der Fassung gebracht durch das Geglotze und Gekicher, das anhob, sowie er auf der Straße stehen blieb oder in eine Drogerie ging, um sich einen Banana Split zu Gemüte zu führen. Er kam in Wut, so oft ein gut angezogenes Mädchen ihn neugierig musterte. Das allgemeine Geglotze verwirrte ihn so sehr, daß ihn selbst das stolze Gefühl, von Chicago zu kommen und etwas von Automobilmotoren zu verstehen, nicht vor einer gewissen Schwäche in den Knien bewahren konnte, wenn er an der grinsenden, automobilfahrenden Aristokratie vorüberstolzieren wollte. Dann pflegte er in das Theaterzelt zurückzukehren, die wenigen geschmacklos aufgeputzten Vorhänge und Dekorationen zu hassen – das mit schmutzigem Weiß gefleckte Stückchen Grün, das abwechselnd eine Wiese mit Gänseblümchen darstellte, einen Berghang und den Teil des Central Parks gegenüber der Wohnung des Falschmünzermillionärs in der Fünften Avenue, der, wie wir alle wissen, zu Beratungen mit seinen Spießgesellen stets auf die Straße herauskommt. Mit besonderer Herzlichkeit haßte Carl den bleichsüchtigen, hellgefirnisten, zusammenklappbaren Gartenstuhl, der einmal als Sitzgelegenheit in der Schmugglerkneipe diente und dann, mit einem baumwollenen Leopardenfell zugedeckt, als Fauteuil in dem luxuriösen Salon der Mrs. Van Antwerp. Der Gartenstuhl spielte jedoch eine Rolle bei den Liebesszenen, die er mit Miss Evelyne L'Ewysse studierte.

Es fiel ihm nicht leicht, so zu tun, als merkte er nichts davon, daß fünfzig kleine Jungen gleichzeitig mit den Lippen schnalzten, wenn er einen Zentimeter vor Miss L'Ewysses Mund die Luft küßte. Doch er lernte die Kunst. Ja, er begann sogar diesen Sicherheitszentimeter kleiner zu machen.

Miss Evelyn L'Ewysse (die von Haus aus Lena Ludwig hieß und künftige Erbin eines der besten Delikatessenläden in Newport News war) schwelgte in Liebesszenen auf der Bühne und im Leben. Carl sah sich, mit einem gewissen Gefühl des Unbehagens, immer wieder von ihr angezogen. Sie lächelte ihm in den Kulissen zu, glättete ihr zartes blondes Haar mit einem Blick auf ihn und teilte ihm im Vertrauen mit, sie hätte die Höhere Schule absolviert, wäre viel, ach viel bessere Ensembles gewohnt und spielte nur aus purem Mutwillen im Zelt.

Eines Abends, als er bemerkt hatte, daß Miss Evelyn ihm ihre Hand schweigend und widerspruchslos überließ, lockte er sie während einer langen Pause aus dem Zelt heraus und küßte sie zitternd. Ihre Finger packten aufgeregt seine Schultern und zerrten an seinem Ärmel, während sie den Kuß erwiderte. Sie murmelte: »Ach, das hätten Sie nicht tun sollen.« Aber später küßte sie ihn, so oft sie allein waren, und erzählte ihm unter zutraulichem Kichern von Parker Heyes plumpen Versuchen, sie zu gewinnen.

Den ganzen Tag wartete er auf diese Zusammenkünfte. Doch beständig mahnte ihn die Abenteurermoral – und das ist nichts anderes als das innere Gebot praktischer Anständigkeit – daß das nichts für ihn sei; daß er nicht liebeln dürfe, wo er nicht liebe; daß dieses gutmütige gewöhnliche Geschöpf zu nett zum Herumspielen und zu abgeschmackt zum Lieben sei. Nur – – Und dann atmete er wieder rascher, wenn er daran dachte, wie weich ihre Schultern beim Streicheln waren. Es war jetzt Sommer, sie wanderten wieder in Virginia umher und bereisten die Ostküste. Der in der Prärie geborene Carl war in die nächste Nähe des offenen Atlantic gekommen, wenn er ihn auch noch nicht gesehn hatte. Über den endlosen ebenen Kartoffelfeldern – ihre eintönige Fläche war von Fichtenhainen unterbrochen, in deren drückend schwülen Schatten Negerhütten standen – hing unbarmherzig die Hitze. Stets erfüllte ein schaler Menschengeruch das Theaterzelt.

In dem Städtchen Nankiwoc ließ das Hotel viel zu wünschen übrig, Evelyn L'Ewysse erklärte, es sei ihr »schon reichlich über, eine Operettenmahlzeit zu essen, wo der Fraß in Vogelbadenäpfen um den Teller herumsteht – ein bißchen Rüben und ein Klecks Spinat und eine gebratene Schabe. Und noch eine Nacht auf einem Bett schlafen, das wie ein Bratrost ist, nein – danke – vielmals

Eve und Mrs. Lubley, eine alte Frau, die bei der Truppe in aller Freundlichkeit das Amt einer inoffiziellen Anstandsdame versah, ahmten das Beispiel Carls und der beiden Musikanten nach, sie schliefen in dem Garderobenzelt, dessen größere Hälfte den weiblichen Mitgliedern der Truppe zur Verfügung stand.

Tag um Tag sagte sich Carl, er dürfe nicht weiter gehen, aber es gab keinen Abend, an dem er nicht, wenn er sich von Eve getrennt hatte, die Gegenwart der Anstandsdame und der beiden Musikanten verfluchte, die immer schauerlich lange wach blieben und bis Mitternacht redeten.

Eine heiße Juninacht. Die ganze Truppe war zu einem Ball eingeladen; die beiden Musikanten gingen mit; die Anstandsdame, eine muntere alte Person, die schon viele Tourneen mit Burlesken hinter sich hatte, folgte gleichfalls vergnügt der Einladung. Carl und Eve blieben »zu Hause«. Zu diesem Entschluß war nicht mehr als ein Blick zwischen ihnen notwendig gewesen.

Sie saßen vor dem stillen Zelt auf einem Garderobenkoffer. Was für eine Nacht es war, ob die Sterne strahlten oder Wolken den Himmel verfinsterten, wußte Carl nicht; er wußte nur, daß es drückend schwül war, und daß Eve im Dunkel in seinen Armen lag. Er küßte sie auf den feuchten, heißen Hals. Er plapperte in unzusammenhängenden Sätzen von den Mitgliedern der Truppe, aber jedes Wort, das er sprach, bedeutete, daß er vor Erregung außer sich war, weil ihr weicher Leib sich an den seinen schmiegte.

Mit unsicherer Stimme sagte er schließlich: »Herrjesus! ist das heiß, Eve! Ich werd dieses verfluchte Hemd mit dem steifen Kragen ausziehen und ein weiches nehmen. S–sag mal, w–warum ziehst du nicht einen Kimono an oder so was? Das wär doch viel kühler.«

»Ach, ich weiß nicht, ob ich soll – –« Sie erschrak, die bacchantische Tollheit flößte ihr Scheu ein. »M–meinst du, daß das ginge?«

»Warum denn nicht? Man kann doch von niemand verlangen, daß er vor Hitze erstickt – in so einer Nacht. Außerdem kommen die nicht vor vier Uhr früh zurück. Und du mußt sehen, daß dir kühler wird. Also.«

Und er wußte – und war sicher, sie wisse es gleichfalls – daß alles, was er sagte, geheuchelt war. Aber sie stand auf, strich ihm durchs Haar und meinte: »Ich würd mirs ja wirklich gern bequem machen. Wenn dus für richtig hältst – – Ich werd mir auf jeden Fall was Leichteres anziehen.«

Sie ging. Carl konnte hören, wie es in der Frauenabteilung des Garderobenzelts raschelte. Fieberheiß lauschte er darauf, und fieberheiß zog er sich ein anderes, am Halse offenes Hemd an. Er lief hinaus, um keinen Augenblick zu versäumen … Sie war noch nicht da.

Die Aufregung hatte ihn so in ihrem Bann, daß er die leise Mahnung einer Stimme in seinem Innern nicht hörte, einer Stimme, geboren in Sonnenuntergängen über glühenden Schneefeldern und genährt in der Stille von Henry Frazers Haus, die ihn beschwor: »Sachte! Halt!« Eine lautere Stimme hämmerte wie das Klopfen seiner Halsschlagader: »Sie kommt!«

In der Dunkelheit war zu hören, wie ihre leichte Gewandung über das lange Gras strich. Er sprang auf. Dann hielt er sie in den Armen, beugte ihren Kopf zurück. Ein warmer Schauer durchlief ihn, als er merkte, daß nur die dünne Seide, die sich so weich und warm angriff, seine tastende Hand von ihrer glatten Haut trennte. Sie setzte sich auf seine Knie und legte ihren Kopf mit dem offenen Haar an seine nackte Brust. Er fühlte, daß sie auf ihn wartete.

Plötzlich konnte, wollte er nicht weiter.

»Liebling, wir dürfen nicht!« murmelte er.

»Ach Carl!« schluchzte sie, mit den Lippen seinen Mund verschließend.

Er wollte nur den Kuß abwarten, um dem Ganzen ein Ende zu machen.

Vielleicht hemmten ihn provinzielle Vorurteile über Ritterlichkeit. Vielleicht aber war er auch schon so weit, daß er ein wenig Selbstbeherrschung besaß. Auf jeden Fall hatte er sich auf eine Sekunde unterbrochen, um zu denken, und der Wein der Liebe war schal geworden. Wenn sie ihn nur schon los gelassen hätte. Außerdem kitzelte ihn ihr Haar im Ohr. Er wartete geduldig, bis sie mit dem Kuß fertig wäre.

Ihr Mund löste sich mit einem Ruck von dem seinen; sie sagte in anklagendem Ton: »Du willst mich ja gar nicht küssen!«

»Paß einmal auf: ich will dich schon küssen – Herrgott – –« Für einen Augenblick zog er sie enger an sich; dann redete er kühl weiter: »Aber wenn wir zu weit gehen, wird es uns beiden gehörig leid tun. Das ist nicht bloß feige Vorsichtigkeit. Das ist – – Ach, du weißt doch.«

»Ach ja, ja, ja, wir dürfen nicht zu weit gehen, Carl. Aber können wir nicht ganz einfach so sitzen bleiben? Ich bin so müde, mein Herz! Ich muß jemand haben, dem bißchen was an mir liegt. Das ist doch nicht schlecht? Du sollst mich in deine Arme nehmen und ganz, ganz eng an dich halten und trösten. Ich möchte getröstet werden. Wir brauchen doch gar nicht weiter zu gehen, nicht wahr?«

»Ach du lieber Gott! Eve, hör doch zu: begreifst du denn nicht, daß wir Schluß machen müssen, wenn wir nicht weiter gehen wollen? Ich habs sowieso schwer genug – –« Er sprang auf und zündete sich mit zitternder Hand eine Zigarette an. Dann streichelte er ihr Haar und bat: »Bitte geh, Eve. Ich hab mich nicht sehr gut in der Hand, fürcht ich. Bitte. Du machst mich – –«

»O ja, ja, freilich! Gib nur mir die Schuld! Natürlich! Ich bin schuld daran, daß du mir gesagt hast, ich soll den Kimono anziehen. Ich führ dein weißes Unschuldseelchen in Versuchung … Daß dus nie wieder wagst, mit mir zu sprechen! Du – du –«

Sie lief wütend davon.

Mit zwei Schritten holte Carl sie ein. »Hör mal, Kind«, sagte er ernst, »wenn du so davongehst, wird uns beiden nachher hundeelend sein … Weißt du noch, wie glücklich wir waren, wie wir zu der alten Pflanzung in Powhasset hinausgefahren sind?«

»Du lieber Himmel! Könnt ihr Männer denn nie was Originelles sagen? ›Weißt du noch?‹ Natürlich weiß ich noch! Was meinst du denn, warum ich immer den kleinen Lorbeerzweig trage, den du für mich gepflückt hast, warum ich ihn hier, hier an meiner Brust trage? Und dabei hab ich gemeint, es wird dich freuen, wenn ich ihn da hintu, wo keine Schminke hinkommt, und du – dir ist das ganz egal – und wir haben unser Picknick gegessen, und ich hab die ganze Zeit gesungen, beim Herrichten von den belegten Broten, und dann hab ich die Grapefruit im Körbchen versteckt, als Überraschung für dich –«

»Ach, Eve, Liebling, ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut, wie schrecklich leid es mir tut, daß ich angefangen hab! Es ist meine Schuld. Aber kannst du denn nicht einsehen, daß ich Schluß machen muß, bevors zu spät ist, grade deshalb? Seien wir doch wieder Kameraden.«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Hand tastete nach seiner, streichelte sie, zog sie an ihre Brust. Sie schwankte, wollte sich an ihn pressen. Er machte seine Hand frei und floh in sein Zelt.

Der bitterste Hohn für ihn war wohl, daß er tun mußte, was in Büchern gepriesen und in Klubs verlacht wird: die Rolle des jungfräulichen Galahad spielen, der vor der Liebe davonläuft. Er machte sich selbst darüber lustig, daß er den ehrlichen Wunsch hatte, sich anständig gegen Eve zu benehmen. Und zwischendurch lauschte er immerzu gespannt auf ihre Bewegungen jenseits der trennenden Leinwand. Als die Musikanten lärmend vom Tanz nach Hause kamen, wurde ihm leichter ums Herz.

Am nächsten Tag gab sie sich besondere Mühe, kühl gegen ihn zu sein. Er warb nicht um ihre Freundschaft. Er verließ die Große Riley Schau und wanderte weiter – wohin, war ihm gleichgültig, wenn er nur unterwegs war.


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