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Sechzehntes Kapitel

An einer grasbewachsenen Seitenstraße Oaklands in Kalifornien lag die »Garage Jones & Ericson, Benzin und Reparaturen, Motor- und Fahrräder-Verleih, Bristow-Magneten, Vertretung für Oakland.«

Es war wohl die beste Garage in Oakland und Berkeley, in der Motorräder am raschesten repariert wurden; und jung verheiratete Besitzer von offenen kleinen Familienwagen schworen, Carl Ericson könne aus einer Konservenbüchse einen Vergaser machen und sei, selbst wenn man ihn um zwei Uhr früh wegen einer Reparatur heraushole, die Freundlichkeit selbst. In den neun Monaten seit seinem Eintritt in die Firma – Februar bis November 1909 – hatte er die Einnahmen im Geschäft des alten Jones verdoppelt.

Carl war überzeugt davon, daß er an nichts anderes dachte als an die Arbeit, an die Restaurants und Theater der Zivilisation. Kein Herumwandern mehr, ehe er zu Geld gekommen war! Er spielte vor sich den überzeugten Geschäftsmann. Fast schon ein Jahr hielt ihn dieses Spiel im Bann. Wenn er Kerzen reinigte, pfiff er vergnügt vor sich hin und sah zu den Eukalyptusbäumen und der sonnenbeschienenen Straße hinaus, ohne davonlaufen zu wollen. Aber gerade heute, gerade an diesem strahlenden Novembertag mit der herbstklaren Luft, dem hohen blauen Himmel und dem Glanz des Sonnenlichts auf dem zarten Laub der Pistaziensträucher, wollte er sich von der Arbeit fortstehlen und ganz allein für sich ein Fest feiern.

Er ging nach San Mateo, um zum erstenmal in seinem Leben eine Flugmaschine zu sehen!

November 1909. Blériot hatte den Ärmelkanal überflogen; McCurdy hatte im März 1909 in aller Ruhe sechzehn Meilen in seinem Biplan »Silberpfeil« geschafft; Paulhan war einundachtzig Meilen weit geflogen und zu der unglaublichen Höhe von hundertfünfzig Metern aufgestiegen, die jedoch von Orville Wrights hundertneunzig Metern bald in den Schatten gestellt wurden; Glenn Curtiss hatte in Reims den Gordon Bennett-Pokal gewonnen.

Kalifornien vergaß nicht, daß sein eigener Sohn Montgomery zu den ersten Pionieren gehörte; es versprach in der Aviatik führend zu werden. Los Angeles plante ein gewaltiges Meeting für den Januar. Nicht wenige Kuhweidenflieger nahmen leichtgläubige junge Reporter auf die Seite und vertrauten ihnen an, daß sie am nächsten Tag, in der nächsten Woche oder spätestens im nächsten Monat die Welt mit Aufstiegen in Apparaten, »gebaut nach völlig neuen und umwälzenden Prinzipien, an denen sie seit zehn Jahren arbeiteten«, überraschen würden. Manchmal arbeiteten sie auch erst seit acht Jahren daran. Aber immer erklärten sie, daß »das Modell, nach dem der Apparat gebaut werden wird, in Gegenwart einer Anzahl der hervorragendsten Männer des Distriktes tadellos funktioniert« hätte. Alle diese Maschinen hatten sehr viel mit den rätselhaften Eigenschaften von Kreiseln und Helikoptern zu tun.

Nun hatte Dr. Josiah Bagby, der bekannte Arzt und Schiffspetroleummotoren-Magnat San Franciscos, tatsächlich drei Original Blériot-Monoplane aus Frankreich mitgebracht, und dazu als Piloten den Blériotschüler und approbierten Flieger Carmeau; er experimentierte in San Mateo, nahe bei San Francisco, wo die Enkel der 49er Goldsucher Polo spielten. Man erzählte sich, daß er eine Pilotenschule eröffnen und Monoplane vom Typ Blériot für den amerikanischen Markt bauen werde.

In der Nacht war Carl eine Stunde wachgelegen und hatte sich die Wunder des Fliegens ausgemalt, die er zu sehen hoffte. Er stand früh auf, zog sich seine besten Kleider an und erklärte dem verdrossenen alten Jones, er gehe sich amüsieren – ob er sich betrinken oder heiraten werde, wisse er noch nicht.

Auf dem Weg durch San Mateo schob sich Carl seinen frechen grünen Hut aus der Stirn und suchte den Himmel nach Flugzeugen ab. Er sah nichts. Als er jedoch zum Flugfeld kam, begann er zu laufen; er erblickte zwei breite gewölbte Tragflächen, die an den Enden abgerundet waren wie Daumen und an einem zerbrechlichen Rahmengestell saßen. Eine Anzahl von Leuten umringte die Maschine. Ein Mann mit kurzem, krausem Bart und enganliegender, wollener Tobbogankappe saß im Rumpf, rechts und links von ihm spannten sich die Tragflächen. Er kratzte sich am Bart und gestikulierte. Ein Mechaniker warf den Propeller an, und der Motor mit dem offenen Auspuff begann mit einem Trrrrrrrr zu laufen, dessen Musik Carls Herz tanzen ließ. Schwarze Dämpfe wirbelten am Apparat entlang nach hinten. Die Zugluft zerrte am Haar zweier Männer, die auf der Erde hockten und den Schwanz festhielten. Sie ließen los. Der Monoplan lief über den Boden vorwärts, plötzlich war er in der Luft, einen halben Meter hoch, dann drei Meter hoch – er flog wirklich. Carl konnte sehen, wie der Flieger ruhig vor sich hinblickte und mit seinen Armen arbeitete, während die Maschine eine Wendung machte und in einiger Entfernung über einer Baumgruppe dahinflog.

Der erste Eindruck, den ein Aeroplan in der Luft auf ihn machte, hatte nichts mit Vögeln oder Libellen oder dem Wunder des Fliegens zu tun, denn ihn füllte ein ganz anderer Eindruck aus, dem er folgendermaßen Ausdruck verlieh:

»Ich – werd – Flieger – werden!«

Und etwas später: »Ja, grad das hab ich ja immer wollen.«

Er trat zu der Gruppe, die vor dem Hangar versammelt war. Dahinter hämmerten Arbeiter an Bretterhütten. Er erkannte den Besitzer, Dr. Bagby, nach den Bildern: ein hagerer, sechzig jähriger Mann mit fahlem Teint und einem grauen Schnurrbart, der einem Rattenschwanz glich; ein breitkrempiger, schwarzer bäurischer Schlapphut, der ganz hinten auf dem Kopf saß; ein grauer Sakkoanzug, der zu allen Zeiten solide, aber unmodern gewirkt hätte. Er sah aus wie ein Rechtsanwalt vom Lande, der zweimal der Staatslegislative angehört hat. Seine Schuhe waren schwarz, aber nicht geputzt und hatten keine Kappen – die bequemen Schuhe eines älteren Mannes. Er klopfte sich mit einem dünnen, verbundenen Zeigefinger auf die Zähne und sagte mit monoton klingender Stimme zu einem rundlichen, manierlichen und gut angezogenen jungen Mexikaner: »Na-a-a Tony, die Kerzen werden wohl besser sein; die Kerzen werden wohl besser sein. Was?« Bagby wandte sich zu den anderen um, staunte über sie, als versuchte er sich darauf zu besinnen, wer sie wären, und sagte langsam: »Die Kerzen werden wohl tadellos sein. Was?«

Der Monoplan kam zurück; eine Zeit lang schien er sich nicht zu bewegen, sah wie ein schwarzes, auf den weiten blauen Himmel gemaltes Zeichen aus, dann schwebte er mit den scharfen Umrissen einer Federzeichnung über ihnen, schließlich landete er und holperte über den ein wenig unebenen Boden.

Als der französische Flieger herauskroch, meinte Dr. Bagby, während seine traurige Miene sich aufhellte: »Die Kerzen haben besser funktioniert, Monsieur. Was? Ich hab nachgedacht. Vielleicht haben Sie auch zu wenig Luft gegeben.«

Während der Gnome-Motor abgewischt wurde, näherte sich Carl schüchtern Dr. Bagby. Er litt sehr unter dem Gefühl, nicht dazu zu gehören, ganz fremd zu sein, und zerbrach sich den Kopf darüber, ob er es jemals dahin bringen könnte, so vertraut mit dem Zauberer zu sein wie der rundliche junge Mexikaner, der »Tony« genannt wurde. Er sagte ein oder zweimal: »Äh«, und platzte dann heraus: »Ich möcht Flieger werden.«

»Jaja«, sagte Dr. Bagby freundlich, ohne Carl recht anzusehen, und beschäftigte sich mit dem Apparat. Er ging auf die andere Seite, zupfte an einer Drahtstrebe und schien sich erst dann darauf zu besinnen, daß jemand zu ihm gesprochen hatte. Er kehrte zu dem fieberhaft aufgeregten Carl zurück, wobei er sich seitlich vorwärtsbewegte und ununterbrochen den Monoplan anstarrte, der so tüchtig war, aber jetzt ganz ruhig und zahm, fast weiblich, wirkte. »Jaja. Flieger möchten Sie also werden. Sie möchten also – Sie möchten – (He, nichts anfassen da!) – Flieger werden. Jaja. Das wollen alle, mein Lieber. Alle wollen das. Na, vielleicht können sies werden … Eines Tages.«

»Ich meine jetzt. Gleich, sofort. Ich hab gehört, daß Sie eine Schule aufmachen. Ich möcht eintreten.«

»Mhm«, seufzte Dr. Bagby, klopfte sich auf die Zähne, klimperte mit einer schweren goldenen Uhrkette, stäubte etwas Zigarrenasche vom Rockaufschlag ab und sah mit einem Male Carl zerstreut an, der seinen Hut in den Händen herumdrehte, der so rote Backen hatte und so aufgeregt um sich blickte, daß er zwanzig und nicht vierundzwanzig Jahre alt zu sein schien. »Ja, ja, Sie möchten also eintreten. Tst. Aber das würde Sie fünfhundert Dollar kosten, wissen Sie.«

»Gut.«

»Schön, reden Sie mit Monsieur darüber, mit Monsieur Carmeau. Er ist ein sehr guter Flieger. Diplomierter Flieger. Ein Bekannter von Henry Farman. Er hat unter Blériot gelernt. Er ist hier der Boss. Ich bin bloß ein alter armseliger Kerl, der so herumsteht. Manchmal nimmt Monsieur mich zu einer kleinen Spazierfahrt in unserm Apparat mit; manchmal steigt er mit mir auf; aber er ist der Boss. Er ist der Boss, mein junger Freund; Sie werden mit ihm sprechen müssen.« Und Dr. Bagby ging, anscheinend am Leben verzweifelnd, davon.

Carl verzweifelte nicht am Leben. Er schwor, jetzt werde er Flieger werden, und wenn er nach Dayton oder Hammondsport oder nach Frankreich gehen müßte.

Er fuhr nach Oakland zurück und verkaufte seinen Anteil an der Garage um 1150 Dollar.

Vor Ende Januar war er als Schüler in Bagbys Flieger- und Monoplanbauschule aufgenommen.

Einem plötzlichen Impuls nachgebend, schrieb er Gertie Cowles von seinem großen Glück, zerriß aber den Brief gleich wieder. Dann teilte er seinem Vater voll Stolz mit, daß der verlorene Junge zu sich selbst heimgefunden hätte. Das war von all den flüchtigen Briefen, die er nach Hause schickte, der erste, bei dem er nicht das Gefühl hatte, er müsse sich rechtfertigen.


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