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Neunundzwanzigstes Kapitel

Als Carl am frühen Abend wieder zu Hause war, teilte ihm sein Wirt mit, daß eine Miss Gertrude Cowles angerufen, aber ihre Nummer nicht hinterlassen habe. Der Blick des Wirts gab Carl zu verstehen, daß es seine eigene Schuld wäre, wenn er Freundinnen hätte, die so dumm wären, ihre Nummer nicht zu hinterlassen. Carl rächte sich, indem er zum Telephonieren in die Drogerie an der Ecke ging und dem Wirt keine Gelegenheit zum Lauschen gab.

»Hallo?« sagte Gertie am Telephon. »Ach hallo, Carl; ich habe nur angerufen, um dir zu sagen, daß Adelaide heute abend hier ist, und wenn du nichts Besseres zu tun hast, dachte ich, willst du vielleicht herkommen.«

Carl hatte etwas Besseres zu tun. Er hätte den ganzen Abend dazu verwenden können, über Ruth und Phil Dunleavy und ihr ganzes Milieu nachzudenken, aber er ging zu Gertie.

Sie alle waren da – Gertie und Adelaide, Ray und seine Mutter und eine Miss Greene, irgend ein Mädchen aus Minneapolis; alle spielten Puff und erklärten, Karten zu spielen, schicke sich am Sonntag nicht, aber Puff sei »etwas anderes«. Als dies gesagt wurde, blinzelte Ray Carl zu.

Es war eigentlich recht gemütlich und behaglich. Carl fühlte sich wieder zu Hause. Adelaide erzählte komische Geschichten von der Schule, an der sie die Haushaltskunde studierte.

Als die andern sich zu verabschieden begannen, sagte Gertie zu Carl: »Geh noch nicht, ich will dir einen Brief von Ben Rusk vorlesen, den ich gestern gekriegt habe. Eine Menge Neuigkeiten von zu Hause. Joe Jordan ist verlobt!«

Man ließ sie allein. Gertie blickte ihn zutraulich an. Er wurde steif, taute aber bald wieder auf, als Gertie ihm den Brief aus Joralemon vorgelesen hatte und verträumt sagte: »Ich kann sie alle sehn, wie sie Schlitten fahren. Manchmal wünsche ich mich dorthin zurück. Wirklich, Carl. Obwohl hier das Meer ist und die Berge, wünschst du dir nicht manchmal, es wäre August, und du wärst daheim auf irgend einer bewaldeten Klippe über dem See?«

»Ja!« rief er. »Ich bin jetzt schon so lange fort, daß ich nie nach irgend etwas Bestimmtem Heimweh hab, aber trotzdem würd ich gern die Seen sehen. Und manchmal fehlen mir die Prärien. Du lieber Gott! Es wird ja wohl doch nicht lange dauern, bis ich wieder auf und davon geh – –«

»Aber Carl, du willst doch nicht sagen, daß du dein Geschäft aufgeben willst, wo es doch so gut geht. Und beim Fliegen hast du doch gezeigt, Carl, was du leisten kannst, wenn du bei einer Sache bleibst und nicht bloß herumvagabundierst, wie du es früher getan hast. Wir wollen doch, daß du Erfolge hast.«

Seine Antwort war ziemlich schwach: »Na ja. Ich werd wohl schon Erfolg haben, aber ich kann nicht recht einsehen, wozu man Erfolg haben soll, wenn man sein ganzes Leben in einer schmutzigen Großstadtstraße steckt.«

»Das ist richtig, Carl, aber tust du der Großstadt nicht Unrecht? Bist du schon einmal im Metropolitan Museum gewesen, oder bei einem Orchesterkonzert in der Carnegie-Hall?«

Carl war fest überzeugt davon, daß Gertie ihm weit überlegen sei; daß sie weit mehr von New York habe als er. Er mußte einmal mit ihr in ein Konzert gehen und sich von ihr erklären lassen, was das mit der ganzen Musik wäre.

Daß Gertie, obwohl sie häufig von Konzerten und Bildern sprach, nicht sehr viel davon zu wissen schien, wurde ihm nie ganz klar. Sie war eine feststehende Tatsache für ihn, war es seit zwanzig Jahren. Er konnte nur in oberflächlichen Streit mit ihr geraten, weil er ihre fundamentalen Eigenschaften kannte, und mit diesen, dessen war er sicher, mußte jedermann zufrieden sein. Seine Gedanken an Ruth und Olive waren köstliche Überraschungen; sein Eindruck von Gertie war unerschütterlich wie die Rockies.

 

Carl wußte nicht recht, ob man junge Damen von der Upper West Side nach kurzer Bekanntschaft zu einem Theaterbesuch einladen könne, aber er versuchte es und verabredete sich mit Ruth und Olive, mit Walter Mac-Monnies (der auf seinem Weg von Afrika nach San Diego in New York war), mit Charley Forbes vom Chronicle und, als Garde, der Allerweltsdame, die er bei Ruth kennen gelernt hatte, einer Mrs. Tirrell.

Als er Ruth abholte, erwartete er, das gleiche fröhliche Mädchen vorzufinden, das sie bei der Teegesellschaft gewesen war. Er erstarb jedoch in Ehrfurcht; er sah eine grande dame in schwarzem Samt vor sich, die um vieles würdevoller und scheinbar um einige Zentimeter größer war und überdies schlechte Laune hatte. Als sie abfuhren, erklärte sie:

»Es tut mir leid, daß ich so scheußlich schlechter Stimmung bin. Ich konnte nicht ein einziges anständiges Paar weiße Handschuhe finden, und beim Anziehn habe ich mir an dem Kleid, das ich eigentlich tragen wollte, die alte spanische Spitze zerrissen, und meine ganze Familie, mit der mich Gott zweifellos zu meiner Prüfung gesegnet hat, war ununterbrochen vor meiner Tür und brüllte Fragen wegen Wäsche und ähnlicher ekelhafter Dinge zu mir herein.«

Von den Vorgängen auf der Bühne sah Carl nicht viel. Er ließ die Blicke nicht von Ruths Augen und lauschte ihren geflüsterten Bemerkungen. Sie behauptete, die Anwesenheit von zwei Fliegern und einem Journalisten mache sie unsicher. In Wirklichkeit arbeitete sie schwer daran, MacMonnies, einen schüchternen, breitschultrigen jungen Mann, der der Meinung war, er dürfe nie den Mund auftun, von seiner Verlegenheit zu befreien.

Carl hatte zum Souper ins Ritz gehn wollen, aber Ruth und Olive überredeten ihn zum damaligen Café Rector; sie waren nie in einem Broadwaycafé gewesen, wie sie sagten, und wollten die berühmten Schauspieler ungeschminkt sehn.

Als sie am Tisch saßen, gelang es Carl, Ruth wieder in eine angeregte Unterhaltung zu ziehen.

Er fragte: »Würden Sie lieber eine vollkommene Dame sein, deren ausschweifendste Zerstreuung blaue Schüsselchen mit Kaninchen sind, oder würden Sie lieber sein wie Ihre Bergsteigerin, an einem Tag freundschaftlich mit Anarchisten verkehren und am nächsten irgendwo über den Wolken spazieren.«

»Ach, ich weiß nicht. Sehn Sie, ich bin durchaus nicht in einen Harem eingesperrt, und gesellschaftlich bin ich eine große Null, aber trotzdem hat man mich dazu erzogen, Dinge, die nicht ›dem Leben unserer lieben Königin gleichen‹, für unmöglich zu halten, und ich bin fest davon überzeugt, daß Vater der Meinung ist, arme Leute sind bloß deshalb arm, weil sie dumm sind und sich keine Mühe geben, reich zu werden. Aber ich habe gelesen; und ich habe etwas entdeckt – Ihnen kommt es vielleicht albern vor, es so zu nennen, aber für mich war es die größte Entdeckung meines Lebens: daß die Menschen einfach Menschen sind, alle – daß der kleinste bescheidene Bureauangestellte ein Held und der Held ein Niemand sein kann – na und so weiter. Finden Sie das auch?«

»Ich weiß es sogar. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens mit Männern gearbeitet, die schmutzige Fingernägel hatten, und bin dahinter gekommen, daß der einzige Unterschied zwischen ihnen und den Leuten, die saubere Fingernägel haben, ein Nagelreiniger ist. Der kostet in der Eckdrogerie zehn Cent. Das ist mein voller Ernst. Ich erinnere mich an einen Koch, mit dem ich mich auf meiner Fahrt nach Panama – –«

(»Panama! da würde ich ja so gern einmal hin!«)

»– sehr viel unterhalten habe, und der war ebenso gebildet wie die feinsten Leute, die ich kennen gelernt habe.«

»Ja, aber finden Sie im allgemeinen sehr viel – also, Höflichkeit und Ähnliches unter Mechanikern? Ebenso viel wie bei den Leuten, die sich selbst als ›die besseren Schichten‹ bezeichnen?«

»Nein.«

»Nein? Wieso, ich dachte – was Sie eben gesagt haben –«

»Ja, aber um Himmels willen, wozu sollten die Leute denn versuchen aufzusteigen, wenn sie schon alles hätten, was die Reichen haben? Wenn man in jeder Sekunde nur einen Schritt vor der Dampfwalze ist, kann man nicht so liebenswürdig sein wie ein Mann, der nichts zu tun hat. Deshalb muß man sich die Dinge nehmen. Wenn ich ein organisierter Arbeiter wäre, würde ich allen diesen Schriftstellern und Collegeleuten und so weiter, die ihr Verständnis zeigen wollen, nicht trauen, nicht eine Minute lang. Sie meinen es recht gut, aber sie können ja doch nicht begreifen, was es für einen wirklichen Arbeiter heißt, jeden Wintermorgen in seinem ungeheizten Loch um fünf Uhr aufstehn zu müssen; oder, wenn die Frau krank ist, untätig zusehn zu müssen, weil er sich keinen Doktor leisten kann.«

So redeten sie, der Junge und das Mädchen, und zerbrachen sich beide den Kopf darüber, wie die Welt denn wirklich wäre.

»Ich möchte dahinter kommen, was wir mit dem Leben anfangen können!« sagte sie. »Arbeiten, um müde zu werden, und dann ausruhen, um wieder mit der Arbeit anzufangen, ist bestimmt nicht alles. Aber mich verwirrt das Ganze.« Sie seufzte. »Meine Fürsorgearbeit – ich fing damit an, weil ich mich langweilte, aber jedenfalls wurde mir dabei klar, wie viele Menschen hungern. Und trotzdem tun wir nichts als reden und reden und reden – wenn Olive zu mir kommt, sitzen wir manchmal die halbe Nacht auf, und wenn wir uns nicht über unsere neuen Negligés unterhalten und über die herrlichen Teekleider, die wir uns anschaffen wollen, sobald wir verheiratet sind, ja, dann retten wir die Armen und halten uns für weiß Gott wie fortgeschritten, aber hat es denn auch nur den geringsten Sinn, bloß zu reden?«

»Ich weiß nicht. Aber eines weiß ich: ich will nicht bloß stur mit allem zufrieden sein, und davor kann mich das Reden auf jeden Fall bewahren. Sagen Sie, Miss Winslow, angenommen, ich mache einmal den Vorschlag, daß wir brav und ernst reden und uns den Sozialismus und Besteuerungsfragen und diesen – was war das nur? – ach ja, Syndikalismus vornehmen und wirklich studieren, würden Sie darauf eingehen? Sich gegenseitig zum Nachdenken bringen?«

»Nur zu gern.«

»Denkt Dunleavy viel nach?«

Sie zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe und zögerte. »O ja – nein, ich glaube nicht. Oder wenn, so meistens über seine Geige. Er hat in Yale sehr viel gespielt.«

So wurde Carl dazu ermuntert, patzig zu werden; er sagte in einem Ton, der Phil Dunleavy endgültig erledigte: »Ich glaube nicht, daß viel mit ihm los ist. Ziemlich oberflächlich, würde ich sagen.«

Ihre Augenbrauen waren noch höher gestiegen. »Finden Sie? Das tut mir leid.«

»Warum tut Ihnen das leid?«

»Ach, wir waren immer recht gut befreundet. Olive und Phil und ich liefen schon als Achtjährige miteinander Rollschuh.«

»Aber – –«

»Und wahrscheinlich werde ich – Phil – heiraten – ziemlich bald.« Sie wandte sich einigermaßen plötzlich mit einer Frage an Charley Forbes.

Verloren, schon war die Spielgefährtin verloren, und das war ein Verlust, der ihm das ganze Leben verekelte. Er hätte sich prügeln können, beschimpfte sich als plumpen Mechaniker. Er mußte sich sehr zusammennehmen, um Olive zuhören zu können. Es dauerte einige Minuten, bis er zu Ruth sagen konnte:

»Verzeihn Sie mir – im Namen unseres Ordens. Mr. Dunleavy hat sich ziemlich schlecht gegen mich benommen, und jetzt habe ich mich ebenso schlecht benommen – gegen Sie! Und ohne seine Entschuldigung für mich zu haben. Denn er wollte Sie natürlich vor einem wilden Flieger, der weiß Gott woher ist, beschützen.«

»Es ist nichts zu verzeihn, und Phil war wirklich ungezogen. Außerdem kommen Sie sicher nicht weiß Gott woher.«

Nahezu brüsk bat Carl: »Machen Sie einen langen Spaziergang auf den Pallisaden mit mir. Am nächsten Sonnabend, wenn Sie können und das Wetter schön ist … Sie haben gesagt, Sie möchten gern durchbrennen, und wenn Sie wollen, können wir vor dem Dinner wieder zurück sein.«

»Ja – lassen Sie mich etwas nachdenken. Oh, ich würde es wirklich gern tun. Ich wollte immer gerade so etwas – es ist eigentlich kaum zu glauben: ich habe die Pallisaden direkt vor der Nase, und doch habe ich sie eigentlich nie gesehn, höchstens auf ganz kurzen Spaziergängen, wenn ich bei einer Freundin von mir, Laura Needham, bin, in Winklehust oben auf den Pallisaden. Mit etwas Wilderem als dem Central Park wäre meine Mutter nie einverstanden gewesen, und die Gewohnheit – – Olive konnte ich nie zu Forschungsreisen überreden. Aber schickt es sich, so lange Spaziergänge mit einem jungen Mann zu machen, und wenn er noch so nett ist?«

»Nein, aber – –«

»Ich weiß. Sie wollen sagen: ›Wer bestimmt, was schicklich ist?‹ Die Antwort heißt natürlich nur: ›Man.‹ Aber Man ist so allgegenwärtig. Man – – Aber ja, ja, ja, ich komme mit! Sie müssen mich aber zur Dinnerzeit wieder zurückbringen, nicht wahr? Wollen Sie mich gegen zwei abholen? … Und können Sie – – Ob ein Falke, der immer hoch oben in der stürmischen Luft fliegt, begreifen kann, wie mutig eine kleine Taube aus der Zweiundneunzigsten Straße sich vorkommt, wenn sie auf den Pallisaden spazieren geht?«


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