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Zweiunddreißigstes Kapitel

Carl hatte Weihnachtseinladungen von dem Piloten Titherington in Devonshire, von einem reichen Amateurflieger in Pasadena, von seinem Vater in Joralemon und von Gertie in New York, aber er hatte keine Einladung, die er annehmen konnte. VanZile hatte freundlich gefragt: »Fahren Sie über Weihnachten aufs Land?«

»Ja«, hatte Carl gelogen.

Wieder sah er sich als entthronten Fürsten, wieder mußte er daran denken, daß er noch vor einem Jahr, als er nach Südamerika fuhr, um mit Tony Bean Schauflüge zu veranstalten, der Löwe einer Weihnachtsveranstaltung an Bord gewesen war und an seinem Mechaniker Martin Dockerill einen Freund und Sklaven besessen hatte.

Den größten Teil des Heiligen Abends verbrachte er allein in seinem Zimmer. Er stöberte in alten Briefen herum, blätterte in Fliegerzeitschriften mit Bildern von Falke Ericson und dachte darüber nach, ob er nicht in diese verlorene Welt zurückkehren sollte. Josiah Bagby jr., der Sohn des exzentrischen Arztes, in dessen Schule Carl fliegen gelernt hatte, machte an der Palm Beach Versuche mit Hydroplanen und Bombenflugzeugen und beschwor Carl, er, der ruhigste und verläßlichste Pilot Amerikas, solle mit ihm zusammen arbeiten. In dem langweiligen stillen Zimmer hörte Carl mit einemmal die Musik eines gleichmäßig laufenden Motors, der ihn im Flugzeug über eine blaue Meeresbucht trug. Carls Antwort auf diesen verführerischen Traum lautete: »Quatsch! Ich kann den Touricar jetzt nicht gut im Stich lassen, und außerdem weiß ich nicht einmal, ob ich schon wieder die nötige Ruhe zum Fliegen hab. Außerdem, Ruth – –«

Immer dachte er an Ruth, sehnte er sich danach, mit ihr zu tanzen, zu lachen, zu spielen. Seit Tagen quälte ihn eine Frage: hätte er ihr ein Weihnachtsgeschenk schicken dürfen?

Um zehn Uhr abends ging er zu Bett – am Heiligen Abend, als in allen Straßen fröhliche Leute unterwegs waren, als von der anderen Seite der Straße die Töne eines Klaviers herüberklangen – er hörte irgendwo in der Nähe »O Tannenbaum, O Tannenbaum« auf deutsch singen …

Dann schlief er neun Stunden, erwachte mit dem seligen Gefühl, nicht ins Bureau gehn zu müssen, und sang im Bad »Die Ufer des Saskatchewan«. Als er nach seinem Frühstück wieder nach Hause kam, fand er einen Brief von Ruth vor:

 

Lieber Spielgefährte, – auf unserem Spaziergang sagten Sie, ich würde einen guten Spielkameraden abgeben, aber ich wäre wohl ein sehr armseliger, wenn ich Ihnen nicht ganz besonders Fröhliche Weihnachten wünschen würde und ein Neues Jahr, das Ihnen alles Liebe bringen soll, wonach es Sie verlangt. Es sollte mich sehr freuen, wenn Sie diesen Brief nicht am Weihnachtstage selbst bekommen: das könnte nämlich bedeuten, daß Sie irgendwo in einem entzückenden Landhaus sind und sich glänzend unterhalten. Sollten Sie aber doch zufällig in der Stadt sein, dann wird es Sie sicherlich freuen, wenn Ihr Spielkamerad Ihnen von seinem Hinterhof ein frohes Fest wünscht. Und noch eines: geben Sie bitte dem Touricar ein Paar warme Pantöffelchen von

Ruth Gaylord Winslow

 

»– alles Liebe, wonach es mich verlangt!« wiederholte Carl. »Ruth, Liebe, weißt du, wonach es mich am meisten verlangt? … Halt! Großartig! Ich lauf rasch hinaus und schick ihr alle Blumen, die es auf der ganzen Welt gibt.« Er war auch schon aus dem Haus draußen und eilte zur Untergrundbahn. »Was sie wohl von Dunleavy gekriegt hat? … Das ist mir ganz egal. Herrjesus, bin ich glücklich! Ich von hier fort und fliegen? Nicht daran zu denken!«

Den Abend des Weihnachtstages verbrachte er höchst feierlich im California Exiles Club.

 

In den beiden Wochen nach Weihnachten ging Carl zweimal zu Ruth. Das eine Mal erklärte sie, sie habe genug vom modernen Leben, Sozialismus und Atheismus seien Greuel für sie, die Welt brauche die höfische Steifheit der mittelvictorianischen Tage – und sie selbst: ihr Umgang in der letzten Zeit habe einen schlechten Einfluß auf sie ausgeübt. Sie redete ununterbrochen in dieser Art und sagte zu ihm weder »Carl« noch »Mr. Ericson«, bis er ganz entsetzt heimging.

Bei seinem nächsten Besuch empfing ihn eine muntere Ruth, die ihn in die Bibliothek hinaufführte und sich dort vergnügt und ganz unvictorianisch mit ihm unterhielt. Carl war am Nachmittag zum Kaffee gekommen, und um halb elf – das war der letzte Termin, den er sich gesetzt hatte – saßen beide bequem in großen Sesseln und aßen Pralinés. Um dreiviertel elf kam Ruths Vater vom Klub nach Hause. Carl sah ihn an diesem Abend zum erstenmal. Er war ein beleibter, ein wenig nüchterner, freundlicher Mann – einer jener Väter, die den Verehrern ihrer Töchter Zigarren anbieten und sie ganz unverbindlich ermutigen.

 

Man muß schon eine sehr angenehme und modulationsfähige Stimme haben, um ein fünfzehn Minuten währendes Telephongespräch erträglich, und Jugend, um es überhaupt möglich zu machen. Ruth besaß beides. Eine Viertelstunde lang sprach sie mit Carl über die Frage, ob sie am nächsten Sonnabend – dem ersten im Februar 1913 – wie Phil wünschte, zu Marion Brownes Ball im Delmonico gehn oder, wie Carl es wollte, in den Westchester Bergen Ski laufen sollte. Carl trug den Sieg davon.

 

»Ach, ist das heute schön, es ist so schön wie – wie – wie die Glasur auf einer Geburtstagstorte!« rief Ruth, als sie mit den Füßen in die Bindung ihrer Skier fuhr und sich für ihre erste Lektion vorbereitete. »Diese Bretter sehn jetzt, wo ich sie anhabe, so schrecklich lang und unlenkbar aus. Wie zwei Meter lange Tischmesser, und meine albernen Füße wie Orangenkerne in der Mitte von den Messern!«

Die Skier waren wirklich unlenkbar.

Ein Brett stellte sich auf das andere, und Ruth versuchte, ihr eigenes Gewicht in die Höhe zu heben. Als sie einen Hügel hinunterglitt, spreizten die Skier sich auseinander und wollten durchaus nach ganz verschiedenen Richtungen. Ruth fiel zwischen beiden hin und pflügte mit ihrer hübschen Nase die feuchte Schneekruste auf. Carl, der auf gehorsam parallelen Skiern einherfuhr, hob sie auf und klopfte ihr den Schnee vom Pelzjakett und von der Nase. Sie lachte.

Fallend, wieder aufstehend, endlich die Freuden des Abfahrens und des Marschierens auf diesen gigantischen Schlittschuhen über ebene Strecken lernend, begleitete sie ihn von Hügel zu Hügel, bis sie zu einer Senkung inmitten eines Farmguts kamen, von wo ein Bachlauf tiefer in den Wald hineinführte. Der Nachmittag verging; schwärzliche Wolken zogen aus dem Osten auf, aber die tiefstehende Sonne tauchte alles in letzten roten Glanz. Ein Kaninchen hüpfte neben ihnen fort, Carl folgte seinen Spuren und erklärte ihr die Hieroglyphen des Waldes – Fährten von Kaninchen, Eichhörnchen, Feldmäusen und Hauskatzen im Schnee.

Die untergehende Sonne war jetzt hinter Wolken versteckt; die Luft war scharf; im Wald herrschte unheimliche Stille. Das Knacken der Zweige, die sich in der Kälte zusammenzogen, klang wie das feierliche Ticken einer Uhr des Waldlandes.

»Ich weiß ganz genau, da hinten schleichen Indianer«, sagte sie, »und Wölfe und Räuber; und vielleicht kommt auch ein Trapper in einem roten Rock.«

»Und vielleicht ein berittener Polizist und ein verirrtes Mädchen.«

»Mit diesen Worten«, erklärte Ruth, »öffnete der wackere junge Mann seinen Rucksack und breitete vor den bewundernden Augen des hungrigen Mädchens – damit bin ich gemeint, vor allem mit dem Wort ›hungrig‹ – die Wunder seines Rucksackes aus, von denen sie inmitten aller Gefahren des Nachmittags die Augen nicht hatte lassen können.«

Carl wußte es nicht, aber sein ganzes Leben lang hatte er sich ein Mädchen gewünscht, das, ohne an einer entschuldigenden Erklärung herumzustottern, eine Geschichte zu erzählen beginnen könnte, in der sie selbst und er die Helden wären. Unverzüglich setzte er ihre Erzählung fort:

»Und aus dem Rucksack holte der wackere junge Held, dessen neue Norfolkjacke sie gar nicht genug bewundern konnte – also, aus dem Rucksack holte er zwei blaugefrorene harte Eier und eine Thermosflasche mit Tee, den ich wahrscheinlich zu zuckern vergessen hab.«

»Und dann erstach sie ihn und ging rasch nach Hause«, schloß Ruth die Geschichte … »Machen Sie keine leichtsinnigen Witze über das Essen. Wenn es nur ein hartes Ei gibt, sind Sie ein Kind des Todes! Ich sollte natürlich so tun, als ob ich nicht mehr essen könnte als ein Vögelchen, aber in Wirklichkeit wäre ich jetzt imstande, eine englische Hammelkeule, vier Nierenpasteten und zwei heiße Würste zu verschlingen, und nachher noch eine Portion Plumpudding und eine Schachtel Pralinés.«

»Wenn das eine Geschichte wäre«, sagte Carl, dürre Zweige von dem angefrorenen Schnee befreiend und in der Mitte einer kleinen Lichtung sammelnd, »würde der junge Held aus Joralemon das Großstadtmädel daran erinnern, daß man nur in Gottes Freier Natur Appetit bekommen kann, und dann würde der Autor sagen: ›Noch nie hatte etwas so gut geschmeckt wie diese im sprudelnden Bächlein gefangenen und über den glimmenden Kohlen am Spieß gebratenen Forellen. Sie betrachtete den hünenhaft gewachsenen jungen Mann, der da so geschickt den Imbiß bereitete, und verglich ihn im Geiste mit den verweichlichten Laffen von der Fünften Avenue …‹ Jetzt aber, Weib, reiß lieber ein paar Zweige von diesem Strauch ab, damit wir etwas für das Feuer haben.«

Ruth sammelte Zweige, während Carl an den Baumwurzeln nach trockenem Laub suchte, und fuhr mit der Geschichte fort: »›Ja‹, sagte das schöne Mädchen aus den Wäldern, auf das grausame Geheiß des unerbittlich strengen und finstern Mannes gehorsam den armen, geduldigen Rücken beugend … Darf ich etwas einflechten, das in aller Höflichkeit zeigt, wie sehr die unglückselige junge Dame diese himmlische Schneelandschaft bewundert, obwohl sie so abscheulich schlecht behandelt wird?«

»Ja, aber vor den Wirkungen der freien Natur auf den Appetit habe ich Sie schon gewarnt. Sie brauchen nur zuzusehn, wenn ein Börsenmakler in einem Restaurant am Broadway ein vierzehn Pfund schweres Beefsteak ißt und dazu drei Kannen Kaffee trinkt und vier schwarze Zigarren raucht, und dann wird Ihnen klar sein, daß der verweichlichte Stadtmensch manchmal auch einen ganz schönen Appetit hat!«

»Mein lieber Freund«, jammerte sie, »ganz abgesehn davon, wie unfein das Ganze ist – Sie wissen doch, daß kein Mensch zugeben will, daß ihn das Essen wirklich interessiert – also davon ganz abgesehn, ich bin so hungrig, daß ich, wenn noch mehr von Essen geredet wird, in eine Ecke gehn und zu heulen anfangen muß. Sie wissen doch, wie diese schönen deutschen Weihnachtsgeschichten immer anfangen: ›Der Weihnachtsabend hatte sich herabgesenkt, tiefer Schnee lag auf dem Boden. Durch den Wald kam ein armes Mädchen, das weinte bitterlich.‹ Und zwar weinte sie so bitterlich, weil es ihr in der Seele wehtat, daß ihr das Geheimnis des schönen, schönen Essens, das im Rucksack des Helden verborgen war, nicht enthüllt wurde. Und jetzt Schluß mit allen eingebildeten Menüs. Reden wir über Nidschinsky und die großen Dirigenten, bis Sie fertig sind – –«

»Fertig!« rief er, neben einer Pyramide aus Laub, Zweigen und Ästen knieend, die er aufgebaut hatte. Er zündete ein Streichholz an und setzte das Laub in Brand. Bald warf das Feuer einen rosigen Schimmer über den Schnee. »Übrigens«, sagte er, während er mit klammen Fingern die Riemen seines Rucksackes öffnete, »ich fürchte, wir werden viel später nach Hause kommen, als wir vorhatten.«

»Ja, dann werde ich wohl im Zug einschlafen und bei jeder Station aufwachen und jammern und Sie ganz verrückt machen, und Mason wird ganz unglücklich und unzufrieden sein, wenn ich zu spät nach Hause komme, aber jetzt im Augenblick ist mir das alles egal. Ganz egal! Jetzt haben wir unser schönes Abendfeuer! Carl, wissen Sie denn, daß ich mit meinen vierundzwanzig Jahren (jetzt sind es fast schon fünfundzwanzig!) noch nie so wie heute im Dunklen draußen war, nicht einmal mit Phil? Aber Angst habe ich doch nicht – ich bin sehr glücklich.«

»Sie haben Vertrauen zu mir, nicht wahr?«

»Das wissen Sie ja … Aber wenn ich mir eigentlich klar mache, daß ich Sie in Wirklichkeit kaum kenne – –«

Er hatte aus dem Rucksack alle möglichen schönen Dinge zum Essen herausgeholt; bald saßen sie auf einem Holzklotz, den er zum Feuer geschleift hatte, und schlangen schamlos. Jetzt begann allmählich Schnee zu fallen. Carl rollte einen zweiten Klotz heran, um das Feuer ein wenig vor dem Wind zu schützen, und legte ihn in einem rechten Winkel zum ersten.

»Bei Mrs. Needham sagten Sie, daß es schön wäre, wenn wir ein altes Farmhaus hätten. Bauen wir uns doch hier eines her.«

Sie war augenblicklich dabei. Sie legte Zweige in den Winkel zwischen den beiden Holzstücken und erklärte: »Hier ist mein Zimmer mit niedriger Balkendecke und einer großen offenen Feuerstelle.«

»Dann ist hier mein Zimmer mit einer Werkbank und einem wunderbaren drei Meter langen Bett.«

»Und hier, vor meinem Zimmer«, sagte Ruth, »muß ich eine große gemauerte Terrasse haben, auf der überall Töpfe mit Heliotrop stehen.«

»Es tut mir sehr leid, mein Kind, aber eine Terrasse können Sie nicht kriegen. Haben Sie denn ganz vergessen, daß jeder einzelne Ziegel zweihundert Meilen weit durch diese Wildnis herangeschafft werden muß?«

»Das ist mir ganz egal. Wenn Sie wirklich etwas für mich übrig hätten, würden Sie die Ziegel, wenn es nicht anders geht, auf Ihrem Rücken herschleppen.«

»Na schön, ich werd mir das überlegen, aber – – Ach sehn Sie, ich werde mir vor meinem Zimmer so was Ähnliches wie eine Veranda bauen, aber aus Holz, und darauf stelle ich Feldbetten mit Pferdedecken, und wenn Sie morgens aufwachen, können Sie die Berge im ersten Sonnenschein sehn.«

»Wunderbar, dann verzichte ich auf meine Terrasse.«

»Ernsthaft, Ruth, würden Sie nicht gern so ein Häuschen irgendwo in den Wäldern haben?«

»Das wäre himmlisch! Mindestens eine Zeitlang.«

»Ich war einmal oben in den Hohen Sierras in Kalifornien, und dort fand ich eine Felsenklippe mit Bäumen – man hatte den Blick dreihundert Meter hinunter auf einen klaren grünen Bergsee. Nichts war zu hören außer dem Rascheln des Laubes. Auf der andern Seite sah man eine Bergspitze im ewigen Eis, und darüber segelte stundenlang ein Adler. Und man roch die Fichtennadeln und saß da – wie würde Ihnen das gefallen?«

»Ach, ich kann gar nicht sagen, wie schön ich das fände!«

»Dann müssen Sie auch einmal hin.«

»Wenn Sie Präsident der VanZile Company sind, müssen Sie mir einen Touricar geben, in dem ich reisen kann, und vielleicht nehme ich Sie dann auch mit.«

»Gut! Ich werde Chauffeur und Koch und alles sein.« Voll Jubel über das Versprechen, das sie ihm damit gegeben hatte, sagte er rasch, um seine Aufregung zu verbergen: »Sogar ein armseliger ungebildeter Mechaniker wie ich begeistert sich bei einer solchen Aussicht.«

»Sie sind doch gar kein ungebildeter Mechaniker. Es reizt mich immer so, wenn Sie den Bescheidenen spielen. In Wirklichkeit sind Sie ein berühmter Mann, und ich bin ein armseliges kleines Balg. Zum Beispiel die Art, wie Sie über Sozialismus reden, wenn Sie lebhaft werden und sich gehn lassen. Ich war immer der Meinung, daß Flieger und alle Helden ziemlich langweilig sind.«

»Na ja. Aber wir werden gehn müssen. Es ist jetzt nach sieben; und wenn wir um neun in der Stadt sein wollen, müssen wir unbedingt den Zug um acht Uhr neun kriegen.«

»Ja, dann werden wir wohl gehn müssen. Obwohl wir unser Haus noch gar nicht fertig gebaut haben.«

»Hat es Ihnen wirklich Freude gemacht?« Er säuberte die letzten Teller mit Schnee und packte sie in den Rucksack. »Wissen Sie«, sagte er vorsichtig, »ich hab immer gedacht, daß ein Mädel – Sie sagen, Sie gehören nicht zur Gesellschaft, aber ich mein ein solches Mädel wie Sie – ich hab immer gedacht, mit so einem Mädel kann man nur spielen, wenn man ein reicher Mann ist, und das bin ich jetzt, wo mein bißchen Geld im Touricar steckt, ganz entschieden nicht. Trotzdem haben wir einen wunderschönen Tag verbracht, und es hat weniger gekostet als drei gute Theaterplätze.«

»Ich weiß. Phil sagt immer, er ist zu arm, um wirklich etwas vom Leben zu haben, und dabei hat er, ganz abgesehn von seinem Gehalt und der Rente, die ihm sein Vater gibt, fünfzehntausend Dollar, die ihm seine Großmutter hinterlassen hat; und manchmal macht er mich ganz wütend – selbst wenn ich von der Taktlosigkeit absehe, die darin steckt – indem er ziemlich deutlich zu verstehn gibt, daß ich von einem Ausgehn mit ihm nur etwas habe, wenn er einen Haufen Geld ausgibt. Die meisten von meinen Freunden, Mädchen sowohl wie Männer, denken so. Sie kommen nie auf den Gedanken, daß sie der idiotischen Stadt den Rücken drehen könnten, wenn sie ganz einfach Menschen wären, wie wir beide es heute gewesen sind … Phil sagte mir einmal, daß kein Mann – verstehen Sie wohl, kein einziger – heiraten kann, wenn er nicht mindestens ein Einkommen von fünfzehntausend Dollar im Jahr hat. Er hat es ganz einfach bewiesen.«

»Bewiesen? Das versteh ich nicht.«

»Phil sagte, daß man unmöglich in der West Side leben kann – daß sowohl er wie ich in der West Side leben, zählt natürlich nicht – und daß die billigste anständige Wohnung in der Nähe der Fünften Avenue viertausend Dollar im Jahr kostet; und dann kann man natürlich nicht mit weniger als zwei Wagen, vier Mädchen und einem Chauffeur auskommen. Das ist ganz unmöglich!«

»Natürlich. So eine Vorstellung. Nur drei Mädchen. Da kann man sich ja gleich begraben lassen.«

Der Rucksack war jetzt fertig gepackt. Er schwang ihn auf den Rücken und machte sich daran, das Feuer auszutreten, aber er ließ ihn noch einmal fallen und sah Ruth ins Gesicht. »Ruth, Sie werden sich nicht fest entschließen, Phil zu heiraten, bevor Sie sich innerlich wirklich entschieden haben, ja? Und bis dahin werden Sie noch ein bißchen mit mir spielen, ja? Können wir nicht noch ein paar – –«

Sie lachte nervös und versuchte, seinem Blick stand zu halten. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, Phil wird sich nicht dazu herablassen, ernsthaft an mich zu denken, bevor er seine Fünfzehntausend im Jahr hat, und das wird wohl noch einige Zeit dauern, wenn man bedenkt, daß er zu gut erzogen ist, um schwer zu arbeiten.«

»Aber allen Ernstes, Sie werden – – Ach, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich darf Ihr Spielgefährte sein, genau so sehr wie Phil, solange wir noch – –«

»Carl, ich habe noch nie in meinem Leben mit einem Menschen so gespielt wie mit Ihnen. An Ihnen gemessen, erscheinen mir die meisten Männer sehr langweilig und lächerlich. Das macht mir Angst. Ich sollte Sie vielleicht nicht so leicht über den Zaun kommen lassen«.

»Sie werden sich von Phil noch eine Zeitlang nicht einsperren lassen?«

»Nein … Müssen wir nicht gehn?«

»Ich danke Ihnen dafür, daß ich zu Ihnen kommen durfte. Das Feuer ist aus. Gehn wir.«

Nach dem Erlöschen des Feuers war es stockfinster. »Wohin müssen wir denn?« fragte sie ängstlich; »ich komme mir ganz verloren vor. Ich kann nichts sehn. Ich bin ganz blind.«

An dem Ton ihrer Worte hörte er, daß er plötzlich wieder ein Fremder für sie war.

Hastig sagte er in beruhigendem Ton: »Warten Sie ruhig noch einen Augenblick! Passen Sie auf. Wir gehn auf die große Eiche zu, dort oben auf dem Hang, dann über die Schonung und halten uns rechts. Sobald sich Ihre Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt haben, werden Sie die Eiche sehn. Denken Sie daran, daß ich schon als Kind jedes Jahr im Herbst gejagt habe, und kommen Sie ruhig in die Finsternis. Und machen Sie sich keine Gedanken.«

»Jetzt kann ich gerade den Baum erkennen.«

»Gut. Gehn wir auf ihn zu.«

»Ich will meine Skier selbst tragen.«

»Nein, Sie geben bloß auf Ihre Füße acht.« Seine Stimme klang freundlich, ruhig, nicht allzu vertraulich. »Versuchen Sie nicht, Ihren Augen zu folgen. Ihre Füße müssen den Weg finden. Die Augen würden Sie im Dunkeln irreführen«.

Der Rückweg war schwer. Mit dem Rucksack und den zwei Paar Skiern belastet, konnte er sie nicht an der Hand führen. Es schneite noch immer, wenn auch nicht sehr heftig, und als sie ins Freie hinauskamen, fiel der Wind über sie her. Einmal rutschte Ruth aus, über einen Stein oder eine vereiste Stelle, und schlug schwer zu Boden. Bevor er die Skier abwerfen konnte, richtete sie sich wieder auf und sagte trocken:

»Ja, es hat weh getan, und ich weiß, daß es Ihnen leid tut, und Sie können gar nichts machen.«

Carl grinste und antwortete nichts. Sowie er aber eine Hand frei machen konnte, klopfte er ihr leicht auf die Schulter.

Als sie wieder stark bergauf gehn mußten, taumelte sie nahezu, so erfroren und so müde war sie, und so schwer war der Schnee an ihren Sohlen. Hinter der Höhe aber war ein Licht zu sehen.

»Gleich da oben ist die Straße«, rief er munter.

»Ach, ich kann nicht – – Ja, es geht schon – –«

Er ließ die Skier fallen, legte einen Arm unter ihre Schultern und den anderen unter ihre Knie und war auch schon halb auf der Höhe, bevor sie rufen konnte: »Ach nein, bitte, tragen Sie mich nicht!« Auf der Straße stellte er sie auf ihre Füße.

Sie bekamen ihren Zug gerade noch. Die Wärme und die Weichheit der Plüschsitze waren etwas Köstliches.

Ruth rieb sich mit einem rührenden, zutraulichen Lächeln die Hände. Ihre Schultern neigten sich ihm zu. Ihr ganzes Wesen schien sich ihm zuzuneigen. Er nahm ihre rechte Hand in die seine und murmelte: »Meine Hand ist ein Haus, in dem Ihre sich wärmen kann.« Ihre Finger krümmten sich und blieben zufrieden liegen, Wie ein verschlafenes Kätzchen blickte sie auf die beiden Hände hinunter. »Ein kleines braunes Haus!« sagte sie.


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