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Neuntes Kapitel

Sie waren fort. Carl litt unter einem geradezu Übelkeit erregenden Schamgefühl – es war die Qual eines praktischen und nüchternen Menschen, der sich niemals den Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben glaubt und plötzlich von einem gewissenhaften Freund darauf aufmerksam gemacht wird, daß man ihn beobachtet und kritisiert, daß man seine Schwärmereien als Lächerlichkeiten und seine vom Herzen diktierten Versuche, Freundschaft zu schließen, als Unverschämtheit gewertet hat.

Hunderte von Menschen schienen im Zimmer zu sein, die einander in die Rippen stießen und gierig darauf warteten, daß er etwas Idiotisches tue; er kam sich vor wie ein Hansnarr, der nach reichlicher Reklame vorgeführt wird. Er marschierte auf und nieder, wurde schamrot, brach kampflustig los: »Ach Quatsch! Ich werd ihnen schon zeigen!« und jammerte schließlich: »Frazer werd ich wohl nicht helfen, aber es macht mich so verdammt wütend, wenn niemand zu ihm hält – und er lehrt doch Sachen, die hier so gebraucht werden. Herrjeh! mit der Zeit komm ich dahinter, daß das doch ein ziemlich armseliges College ist. Er ist der erste Lehrer, von dem ich wirklich was hab, und – – Ach, zum Teufel! Was muß ich mich denn in das ganze Zeug einmischen, bis jetzt ist mirs doch ganz gut gegangen? Und wenns ihm nicht helfen kann – –«

Er merkte, daß seine rechte Hand Gerties Brief in der Tasche zerdrückte. Er drehte das Kuvert zwischen den Fingern hin und her, aber da er auf diese Weise von seinem Inhalt wenig erfuhr, öffnete er es:

 

Lieber Carl, bei Adelaide war eine Gesellschaft, auf der wir uns einfach blendend amüsiert haben. Sie hat ein so hübsches Kleid angehabt. Sie hat schrecklich mit Joe Jordan poussiert, aber Du wirst es gemein von mir finden, daß ich Dir das erzähle, weil Du sie viel lieber hast als mich und alle anderen.

Aber ich habe Dir ja noch gar nicht das Neueste erzählt. Joe hat in St. Hilary eine Position in der Mühle angenommen, und bevor er fortgeht, will Semina eine Gesellschaft für ihn geben. Ich wollte, Du könntest dabei sein. Du wirst wohl inzwischen gut tanzen gelernt haben, natürlich gehst Du in Plato zu einer Menge Gesellschaften, wo es doch so viele hübsche Mädchen gibt und vergißt mich ganz.

Ach lieber Carl, Ray schreibt mir, Du bist für den verrückten Professor Frazer. Ich weiß, dazu muß sehr viel Mut gehören und ich bewundere Dich ungeheuer deswegen, auch wenn Ray es nicht tut. Aber, mein lieber Carl, wenn es zu nichts gut ist, dann wirst Du Dich hoffentlich nicht bei allen Leuten damit ins Gerede bringen, ohne daß es zu etwas gut ist, nicht wahr Carl?

Ich vertraue ganz fest darauf, daß Du es sehr weit bringst und hoffe, Du wirst nicht Deine ganze Laufbahn ruinieren, wenn es sowieso schon zu spät und zu nichts gut ist.

Wir alle erwarten so viel von Dir – wir warten! Du bist unser Ritter, und Du wirst nicht vergessen, daß Du Deine Rüstung blank halten mußt, und auch nicht vergessen

die Deine, wie immer,
Gertie

 

»Mm!« bemerkte Carl. »Was das mit dem Ritter und der Rüstung soll, kapier ich nicht recht. Ich würd ja fein aussehen, was, mit einem Waschkessel und noch ein paar Tonnen altem Eisen auf dem Leib. Mmm. ›Vertraue ganz fest darauf, daß Du es sehr weit bringst –‹ Ach, ich darf die Leute wohl nicht enttäuschen. Außerdem weiß ich wirklich nicht, wie ich Frazer helfen könnte. Keine Ahnung.«

Die Frazer-Angelegenheit schien ihm sehr fern, sehr überspannt zu sein.

Zwei von der Bande kamen lärmend herein und schlugen eine Partie Poker, ein Pfennig Einsatz, vor, aber der Gedanke an Karten war ihm widerlich. Er überließ ihnen das Zimmer – einer rauchte die beste Pfeife des Türken, die dieser leichtsinnigerweise ganz offen hatte liegen lassen – ging hinunter und schlenderte zum Collegegarten.

Im Konferenzzimmer des Lehrgebäudes war Licht, obwohl es kein »erster und dritter Donnerstag« war – an diesen Tagen fanden die regelmäßigen Zusammenkünfte des Lehrkörpers statt. Es handelte sich also um eine Sonderkonferenz, und daraus folgte – –

Augenblicklich lief Carl, ohne irgendwelche Pläne zu machen, zur Hinterseite des Gebäudes, klomm an einer Regenröhre hinauf (dazu summte er »Nur vor dem Kampfe, Mutter«), öffnete mit seinem großen Taschenmesser, einem sogenannten Knicker, das Fenster eines Hörsaales (dabei ging er zur Melodie »Vorwärts, christliche Soldaten« über), kletterte hinein, schlich auf den Zehenspitzen durch das Zimmer, blieb einige Male stehen, um zu lauschen, tastete sich an den Wänden entlang, um die Tür zu finden, machte diese ganz leise auf, hockte sich im Flur ruhig nieder, zog die Schuhe aus, brummte: »Autsch, ist das kalt an den Füßen«, schlüpfte in einen andern Hörsaal, der an der Vorderfront des Gebäudes lag, zog die Schuhe wieder an, stieg zum Fenster hinaus, ging auf einem dreißig Zentimeter breitem Sims zu einem Fenster des Konferenzzimmers und sah hinein.

Von den elf Mitgliedern des Lehrkörpers fehlte nur Frazer; Präsident S. Alcott Wood führte den Vorsitz in der Versammlung, und der Griechisch-Professor hielt eine Ansprache, in deren Verlauf er des öfteren auf ein in rotes Leder gebundenes Notizbuch verwies.

»Mhm! Bericht über die Vorlesung von Frazer«, murmelte Carl, sich an den rauhen Steinflächen festhaltend. Ein Windstoß kam um die Ecke des Gebäudes. Er schwankte, klammerte sich noch fester an und warf einen Blick hinunter. Nichts zu sehen. Er war zwölf bis dreizehn Meter hoch über dem Boden. »Beinah runtergefallen«, bemerkte er. »Herr Gott! sind meine Hände kalt!« Als er wieder durch das Fenster hineinschaute, zeigte der Griechisch-Professor direkt auf das Fenster, die ganze Versammlung fuhr auf, wandte sich um und starrte heraus. Ein junger Dozent lief zur Tür.

»Der will mir den Weg abschneiden. Verf-flucht«, sagte Carl. »Am Fenster im Mathematiksaal werden sie auf mich warten. Hurra! Jetzt ist was los.«

Er bewegte sich vorsichtig auf dem Sims entlang, bis er ungefähr zur Mitte zwischen den beiden Fenstern kam, und dort wartete er, sich platt an die Mauer drückend.

Noch einmal blickte er von dem hohen, windigen, schmalen Sims hinunter. »Das wär ja ein netter Sturz … Meine Hände sind kalt … Ich könnt ausrutschen. Komisch, trotzdem hab ich eigentlich nicht viel Angst … Nanu! Wo hab ich denn schon mal genau dasselbe getan? Ach ja!« Er sah den kleinen Carl, der sich mit Gertie im Walde verlaufen hatte und von Bone Stillman am Fenster erwischt wurde. Als er das unrasierte Männergesicht Bones mit der teigigen Visage des jungen Professors verglich, mußte er lachen. »Sieht fast so aus, als ob ich wieder dort war und noch einmal dasselbe täte. Aber sone Angst wie damals hab ich nicht. Wahrscheinlich werd ich doch ein bißchen älter. Hal-lo! Da ist ja unser lieber spanischer Inquisitor und steckt den Schädel zum Fenster heraus.«

Das Fenster des Mathematiksaals, der unmittelbar neben dem Konferenzzimmer lag, war geöffnet worden. Der junge Professor, der Jagd auf Carl machte, würzte die Nacht mit heftigen, in ziemlich pädagogischem Ton geäußerten Worten. »Na, mein Lieber! Jetzt haben wir Sie. Sie können ganz ruhig herkommen und sich in Ihr Schicksal ergeben!«

Carl schwieg.

Die Stimme sagte laut: »Da draußen ist jemand. Ich will mal feststellen, wer es ist.« Carl bemerkte, daß ein Kopf zum Fenster herausgesteckt wurde, und hörte dann die leise gesprochenen Worte: »Ich kann ihn nicht sehen.« Der Dozent rief wieder laut: »Aha, ich sehe Sie. Sie verschwenden bloß Ihre Zeit, mein Lieber. Sie können jetzt ganz ruhig herkommen. Ich lasse Sie so lange da draußen, bis Sie es tun.« Leise: »Laufen Sie ins Konferenzzimmer zurück und sehen Sie zu, ob Sie ihn von der Seite kriegen können. Das ist ganz sicher einer von den schleicherischen Frazeranhängern.«

Carl muckste nicht und gab keinen Laut von sich. Er warf einen Blick auf den Sims über ihm. Es war zu hoch. Er versuchte, den Boden in der verwirrenden Dunkelheit unten zu erkennen. Es sah aus, als wäre er viele Meilen hoch in der Luft. Er wußte nicht, was er tun sollte. Allein wie ein gefährtenloser Falke stand er da auf dem Sims an der Mauer, deren Steine kalt gegen sein Kreuz und seine ausgebreiteten Arme drückten. Er schwankte ein wenig; begriff mit einem zitternden Gefühl der Übelkeit, was geschehen mußte, wenn er zu heftig schwankte … Es fiel ihm ein, daß der Boden unter ihm gepflastert war. Aber er dachte nicht daran, sich zu ergeben.

Vom Fenster des Mathematiksaals hörte er: »Lassen Sie ihn nicht aus den Augen. Ich steige hinaus und hole ihn.«

Die Schultern des jungen Professors schoben sich zum Fenster heraus. Carl drehte vorsichtig den Kopf und wurde gewahr, daß sich jetzt auch aus dem Fenster des Konferenzzimmers eine Gestalt herausbeugte.

»Von beiden Seiten haben sie mich! Verfluchte Zucht! Na, wenn sie mich reinholen, werd ich wenigstens das Vergnügen haben, ihnen zu sagen, was ich mir über sie denke.«

Der Dozent hatte seine Wanderung auf dem Sims begonnen. Er kam sehr langsam vorwärts. Schließlich blieb er stehen und beklagte sich bei jemand, der im Mathematiksaal war: »Der verfluchte Sims scheint vereist zu sein.«

Carl flüsterte: »Vorsicht! Sie rutschen!«

In wildem Entsetzen glitt der Professor durch das Fenster zurück. Seine Absätze verschwanden und augenblicklich eilte Carl, sich seitlich über den Sims schiebend, am Fenster vorüber. Als der Professor in kühnem Wagemut seinen Kopf wieder in die Nachtluft hinaussteckte und nach links blickte, wo seiner Vermutung nach Carl anständigerweise noch sein sollte, kroch Carl rasch nach rechts. Er kam zum Ende des Gebäudes, tastete nach der Regenröhre und glitt, die Hände mit seinen Jackenenden schützend, daran hinunter. Als er ungefähr in der Mitte war, rutschte der Stoff weg, und seine Hände rieben sich an dem gerieften Zinkblech auf. »Ganz ordentliche Rutschpartie«, murmelte er, als er unten anlangte und sich sacht die brennenden Handflächen blies.

Er ging fort – durchaus nicht wie der tragische Held einer nächtlichen Rutschpartie, sondern wie ein praktisch denkender junger Mann, der in einer geschäftlichen Angelegenheit von nicht übermäßiger Wichtigkeit jemand aufsuchen will. Hin und wieder putzte er zerstreut seinen linken Ärmel oder seine Weste, ganz so, als hätte er den Wunsch, bei dieser Gelegenheit nett und sauber auszusehen.

Er marschierte in die Telephonzelle der Eckdrogerie und rief Professor Frazer an.

»Hallo? Professor Frazer? Hier ist einer von Ihren Hörern im modernen Drama. Ich hab eben erfahren – ich war zufällig im Lehrgebäude, und da bin ich zufällig dahinter gekommen, daß Professor Drood vor dem Lehrkörper – Sonderkonferenz! – über Ihre letzte Vorlesung berichtet. Ich hab son Riecher, daß Sie dabei den Kürzern ziehen. Ich möcht mich nicht einmischen, aber ich bin schrecklich unruhig; ich dachte, es ist vielleicht richtiger, wenn Sie Bescheid wissen … Wer? Ach, bloß einer von ihren Hörern … War mir ein Vergnügen. Ach, hören Sie, Professor, v-viel Glück, 'n Abend.«

Unverzüglich, sogar ohne die Entschuldigung, daß ein böser Geist aus der Bande es vorgeschlagen hätte, begab er sich zum Haus des Griechisch-Professors und band sowohl die Vorder- wie die Hintertür fest zu. Der Zaun, der Haus und Garten umgab, war sehr hoch und stark und überdies oben mit scharfen Eisenspitzen versehen; der Professor war ein kleiner, überaus würdevoller Mann. Carl tat es sehr leid, daß er nicht bleiben konnte, um das Schauspiel zu genießen, wie der Professor an den Knoten herumarbeitete und schließlich über den Zaun stieg. Doch er hatte eine andere Aufgabe.

Er ging zum Haus Professor Frazers. Auf dem Bürgersteig davor blieb er stehen. Seine Schultern reckten sich, seine Haken schlugen aneinander, er hob den Arm zu einem feierlichen Salut.

Er hatte der Vornehmheit Henry Frazers salutiert. Er hatte seiner eigenen Seele salutiert. Er rief: »Ich werd genau so lang zu ihm halten wie der Türke oder sonst wer. Omega Chi und der Trainer werden mich nicht einschüchtern – die ganze Affenblase miteinander nicht. Ich – – Ach, ich glaub wirklich, sie können mich nicht einschüchtern.«


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