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Zwanzigstes Kapitel

Das große Belmont Park Aeromeeting, das im Oktober 1910 New Yorks Interesse für die Aviatik wachrief, näherte sich seinem Ende. Der tüchtige neue amerikanische Flieger, Falke Ericson, war im Geschwindigkeitswettbewerb zwar nur Sechster geworden, aber im Dauerflug hatte er den ersten Preis errungen; Stunde um Stunde hatte er, ruhig und sicher wie ein Eisenbahnzug, seine Kreise um die Pylonen gezogen, ohne sensationelle Kunststücke zu machen; er hatte sich die Zeit vertrieben, indem er bei jeder Tour eine dicke Frau ins Auge faßte, die sich mit ihrem hellen, fliederfarbenen Mantel aus der dunklen Masse der Menschen unten abhob. Als er – als Sieger bejubelt – landete, wandten sich ihm tausend Köpfe gleichzeitig, wie von einem Hebel bewegt, zu; die geröteten Gesichter blinkten in dem gleichen Oktobersonnenschein, der zu den Zeiten, da ein einsamer Carl vor einem Spatzen Ausdauerproben ablegte, Oscar Ericsons Hinterhof in Joralemon erfüllt hatte. Der gleiche schüchterne Carl wollte jetzt den Zeitungsleuten entrinnen, die auf ihn zugelaufen kamen. Er hasste ihre unaufhörlichen Fragen – es waren immer dieselben: »Haben Sie gefroren? Hätten Sie noch länger fliegen können?«

Doch es war ihm nicht entgangen, daß ganz New York sich an der Fliegerei berauschte – oder besser an Nachrichten über die Fliegerei. Die Zeitungen hatten auf den ersten Seiten seinen Namen und die der andern Flieger gebracht. Als Carl sah, daß in Leitartikeln, Interviews und Bilderunterschriften von ihm als einem Übermenschen, einem Gott gesprochen wurde, sagte er sich, halb verschämt, halb ehrfürchtig lächelnd: »Herrjeh! Das ist ja kaum zu glauben – ich bin das!« Wenn er die Barrieren entlang schritt, hörte er die Leute einander zuraunen: »Sieh mal, das ist Falke Ericson!« Er hörte seine Fliegerkameraden vorsichtig prophezeien und Laien laut erklären, er sei der kommende Langstreckenflieger. Er wurde dem Bürgermeister von New York, zwei Kabinettsmitgliedern und einer größeren Anzahl von Senatoren, Schriftstellern, Bankpräsidenten, Generälen und Gesellschaftsputen vorgestellt. Vor diesen Leuten – und ihren Fragen – flüchtete er sich regelmäßig, um seinem Freund Hank Odell von der Bagby Schule zu helfen, der sich am Meeting beteiligt, aber schon am ersten Tage Unglück gehabt hatte und seitdem, ununterbrochen pfeifend, an seiner Maschine arbeitete, wobei er Carl immer wieder ermutigend sagte: »Gute Arbeit, Jungchen; Sie haben sie alle an der Leine.«

Höchst geheimnisvoll und mit der Empfindung, daß dies viel interessanter sei, als im Blériot gleichmäßig seine Runden zu machen, wanderte er in die Bowery und kaufte sich vor der Kneipe, in der er vor vier Jahren als Portier gearbeitet hatte, ein Exemplar der Evening World, weil er wußte, daß sie auf der dritten Seite ein großes Bild von ihm und ein gezeichnetes Interview von einem Sonderberichterstatter brachte. Er warf einen Blick durch die Fenster hinein, um sich davon zu überzeugen, ob Petey McGuff da wäre; aber von dem war nichts zu sehen. In der Hoffnung, er könnte etwas für das Mädchen tun, das auf Abwege geraten war, suchte er die Straße auf, in der er seinerzeit gewohnt hatte. Das Gebäude war mit einer Anzahl anderer abgerissen worden, damit Platz für die Abschlußbauten einer Brücke geschaffen würde, und bei dieser Gelegenheit sah er in seiner Phantasie den ganzen erbarmungslosen Fortschritt der Stadt vor sich. Diese Suche nach alten Bekannten ließ ihn an Joralemon denken. Er teilte Gertie Cowles mit, er beschäftige sich jetzt »mit Aviatik, und alles geht ausgezeichnet.« Seiner Mutter schickte er mit verehrungsvoll zärtlichen Worten einen Scheck über fünfhundert Dollar.

Das schönste Erlebnis aber war das stundenlange Gespräch – an einem kleinen Tisch im Erdgeschoß des Brevoort – mit Leutnant Forrest Haviland, der dem Belmont Park Meeting als Zuschauer beiwohnte. Sie redeten miteinander wie alte, erprobte Freunde, sie unterhielten sich eine Zeitlang ruhig und vergnügt über alles Mögliche, dann gerieten sie plötzlich in eine derartige Begeisterung über Flieger und Forschungsreisende, daß sie auf den Tisch schlugen und ausriefen: »Hast du das auch gefunden? Daß du das sagst, freut mich ganz besonders, weil ich ganz genau denselben Eindruck hatte.«

Sie lehnten sich in ihren Stühlen zurück, spielten mit Löffeln, zerbrachen nachdenklich Streichhölzer und redeten mit vielen Worten über Steuerkonstruktionen, wobei sie auf dem Tischtuch zeichneten.

Carl ließ sich von der raffinierten Atmosphäre des Brevoort durchaus nicht imponieren. Warum sollte er denn nicht hier sein? Und da er schon beim Meeting so großes Interesse erweckt hatte, brachte es ihn nicht mehr in allzu große Verlegenheit, als er am Tisch hinter sich jemand rufen hörte: »Ist das nicht – doch, das ist der Flieger Falke Ericson! Jawohl, tatsächlich, das – ist – er!«

Schließlich schenkten die Götter Carl einen neuen Mechaniker, einen Fürsten unter den Mechanikern, Martin Dockerill. Martin war ein großer, magerer irischer Yankee aus Fall River mit scharfgeschnittenem Gesicht und stets zerzaustem Haar, der langsam sprach und vor nichts Respekt hatte; der amerikanische Flieger vom vollendeten Typus; während nämlich England stattliche Luftsoldaten und Frankreich kleine nervöse Genies hervorbringt, sind nahezu alle amerikanischen Flieger und Flugzeugmechaniker entweder knochig und langschädlig wie Martin Dockerill und Hank Odell, oder hübsche schlanke Jungen gleich sporttreibenden Kolleghörern, wie Carl und Forrest Haviland.

Martin Dockerill aß Pastete mit den Händen, spielte flotte Lieder auf seiner Mundharmonika, bewunderte Damen vom Varieté in wurstartigen rosa Trikots und trug Makkosocken, die immer in Falten über seine schwarzen Schuhe mit den ausgefransten Schnürsenkeln herunterhingen. Aber wahrscheinlich hätte er im Finstern aus vier Konservenbüchsen und einer Brechstange einen Motor bauen können. Im Jahre des Heils 1910 glaubte er noch immer an die Hölle und an Plüschalben. Doch er träumte von drahtloser Kraftübertragung. Er war ein freier und unabhängiger Bürger Amerikas, der den Grafen Lesseps nie anders anredete als mit den Worten: »He, Lessup.« Mit Carl wäre er jedoch nach nicht mehr als fünfminütiger Vorbereitungszeit zu einem Südpolflug aufgebrochen – vier Minuten für den Motor und eine Minute für eine mit rotem Kopierstift geschriebene Postkarte an seine Tante in Fall River. Pedantisch war er nur in zweierlei Hinsicht – der Motor mußte exakt funktionieren, und er mußte sich »Monteur«, nicht »Mechaniker« nennen.

 

Das Meeting war vorüber, die Flieger reisten ab. Carl sagte seinen neuen, sehr lieben Freunden, den Pionieren der Luftfahrt Lebewohl – Latham, Moisant, Leblanc, McCurdy, Ely, de Lesseps, Mars, Willard, Drexel, Grahame-White, Hoxsey und allen anderen. Das Meeting war beendet, aber ihm stand etwas Neues bevor; er beteiligte sich mit dem Engländer Titherington und dem Whright-Flieger Tad Warren an einem Wettflug vom Belmont Park nach New Haven, für den ein New Havener Millionär und eine New Yorker Zeitung gemeinschaftlich einen Preis von zehntausend Dollar ausgeschrieben hatten. In New Haven sollten die drei Konkurrenten sich mit Tony Bean (von der Bagby Schule) und Walter MacMonnies (der einen Curtiss flog) vereinigen und Schauflüge veranstalten.

In bauschigen Overalls über dem blauen Flanellanzug, den er noch immer beim Fliegen trug, dirigierte Carl Martin Dockerill beim Auswechseln seiner Zündkerzen, die verölt waren. Um ihn herum ließen die Flieger unter Gelächter und Späßen ihre Maschinen verpacken; Mechaniker, die auf die Fragen der Reporter nur stammelnd antworten konnten: »Ach, naja, ich weiß nicht – –«, die aber trotzdem damals mehr gefeiert waren als Roosevelt, Harry Thaw, Bernhard Shaw und der Boxmeister Jack Johnson.

Kurz vor dreiviertel zehn – für diesen Zeitpunkt war der Start nach New Haven angesetzt – versammelten sich die Zeitungsreporter, aber von Zuschauern waren nur wenige da; Carl entbehrte die Anregung, die zahlreiche begeisterte Anhänger geben. Er arbeitete schweigend und verdrossen. Es war »der Morgen nachher«. Forrest Haviland fehlte ihm.

Er begann unruhig zu werden. Würde er rechtzeitig abkommen?

Um punkt dreiviertel zehn hatte Titherington einen großartigen Start mit seinem Henry Farman-Doppeldecker. Carl starrte dem Apparat nach, bis er zu einem kleinen Pünktchen in den Wolken geworden war, und machte sich dann wieder mit Fiebereifer an die Arbeit. Tad Warren, der zweite Mitbewerber, war abflugbereit und probierte nur noch seinen Motor aus. In diesem Augenblick erklärte Martin Dockerill, daß der Vergaser verschmutzt sei.

»Das ist mir egal, ich flieg los«, schrie Carl, über den das Rennfieber gekommen war.

Ein blutjunger Reporter von der City News Association piepste wie ein kleiner Foxterrier: »Wann fliegen Sie ab, Falke?«

»Punkt zehn.«

»Nein, ich möcht wissen, wann Sie wirklich abfliegen!«

Carl gab keine Antwort. Er begriff recht gut, daß die Berichterstatter an ihm zweifelten, an ihm, dem jungen Burschen aus dem Westen, der erst seit sechs Monaten flog. Schließlich kam auch noch das unvermeidliche Malheur, der beliebte Laie mit den guten Ratschlägen. Es war ein gut angezogenes altes Ekel, das die besten Absichten hatte; ein völlig Fremder. Er legte Carl die fette Pfote auf den Arm und schnaufte: »Na, Falke, zeigen Sie uns heute mal, was Fliegen heißt, mein Junge; daß Sie mir ja kein Pech haben. Aber einen Rat möchte ich Ihnen geben. Wenn Sie ein Gyroskop benützen würden –«

»Schauen Sie, daß Sie weiter kommen!« tobte Carl. Er schämte sich – aber noch größer als seine Scham war seine Wut. Leise fragte er Martin: »Alles in Ordnung, ja? Kann ich mit dem Vergaser fliegen, so wie er ist? Ja?«

»Alles in Ordnung, Boss. Ruhig, Boss, ruhig.«

»Was soll denn das heißen?«

»Hören Sie mal Falke, ich will mich nicht mausig machen. Wenn Sie Holz hacken wollen, können Sie immer den Buckel vom alten Martin dazu nehmen. Aber entweder beruhigen Sie sich jetzt, oder Sie kriegen sone Nerven, daß es überhaupt aus ist. Also Mensch, Boss, immer sachte! Regen Sie sich nicht auf, geben Sie nicht so an, und dann arbeit ich wie ne kleine Dampfmaschine.«

»Na ja, vielleicht haben Sie recht. Aber die Idioten mit ihren guten Ratschlägen machen mich einfach wild … Alles in Ordnung? Hurra! Los gehts … Hören Sie, halten Sie sich mit nichts auf, wenn ich weg bin. Lassen Sie die Jungs einpacken und sehen Sie zu, daß Sie nach Sea Cliff rüberkommen und das Schnellboot kriegen. Sie müssen eigentlich genau so rasch in New Haven sein wie ich.«

Ruhiger geworden, legte er die Overalls ab, zog sich eine mit Wolle gefütterte Lederjacke an, stieg in seinen Sitz und überprüfte den Zeigerstand der Instrumente. Während er die Zündung ausprobierte, startete Tad Warren.

Carl war Dritter und Letzter. Das Rennfieber schüttelte ihn.

Er wollte versuchen, Zeit aufzuholen. Er hatte wie die anderen vorgehabt, vom Belmont Park über Long Island zum Great Neck zu fliegen und den Long Island Sund an seiner schmalsten Stelle zu überqueren. Er studierte seine Karte. Wenn er ungefähr auf Hempstead Harbour zu hielt und dann, schräg über das Wasser, Kurs direkt auf Stamford nahm, setzte er sich zwar größerer Gefahr aus, sparte aber viele Meilen; und die Rennbestimmungen ließen ihm die Wahl des Kurses nach New Haven völlig frei. Nur an die neue Route denkend, sich gerade noch Zeit zu einem Abschiedsnicken für Martin Dockerill und Hank Odell nehmend, startete er und war auch schon in der Luft.

Während der Boden sich unter ihm senkte und die sauberen Grünflächen und zahllosen Ortschaften Long Islands sich entfalteten, lauschte er auf den Motor. Der arbeitete klar und stark. Hier mindestens war auch der Wind leicht.

Er wollte den Überwasserflug riskieren – im Jahre 1910 war das auch wirklich eine sehr lange Strecke.

Nach wenigen Minuten sichtete er die Anhöhen von Roslyn und begann aufzusteigen, bis er eine Höhe von neunhundert Metern erreicht hatte. Es war sehr kalt. Seine Hände am Steuer waren fast gefühllos. Er ging auf dreihundert Meter hinunter, aber in dem Windstoß, der von den Bergen heraufkam, wurde die Maschine gerüttelt wie ein Kanu, das eine Stromschnelle nimmt. Bei dem Schlingern sah er die Landschaft einmal über die rechte, einmal über die linke Tragfläche emporkommen.

Seine Arme waren müde von dem raschen, unaufhörlichen Ausbalancieren. Er stieg wieder höher. Dann hielt er Ausschau nach dem Sund und ging auf neunzig Meter hinunter, um nicht die Richtung zu verlieren. Denn der Sund war von weißem Nebel überlagert … Da draußen war es windstill! … Wasser und Wolken verschwammen miteinander, und der Horizont ging unter in schwermütigen Dunstmassen, deren Färbung die verschiedensten Nuancen von einem trüben Weiß bis zu dem kalten, stumpfen Grau alter Zigarrenasche aufwies. Er wollte nicht weiter, wollte nicht hinaus in dieses gefahrenschwangere Zwielicht. Aber schon brauste er über grau-grüne Marschen dahin, dann war er über Fischerbooten, die auf dem trüb schillernden, einem angelaufenen alten Spiegel gleichenden Wasser langsam schaukelten. Er bemerkte zwei Männer in einer Schaluppe, die mit dumm verblüfften, feuchten Gesichtern zu ihm heraufstarrten. Im Nu waren sie hinter ihm. Er stieg höher, um über den Nebel zu kommen. Nun verlor er auch die milchige, unfreundliche Wasserfläche aus den Augen.

Er war entsetzlich allein.

Als er hundertfünfzig Meter hoch war, hatte er den Nebel noch nicht ganz unter sich. Das Land war wie weggewischt.

Über ihm blauer Himmel und dünne, unaufhörlich die Gestalt wechselnde Dunstfetzen. Unter ihm nur die Nebelbank, die hier und da, wenn warme Luftströme durch die Nebeldecke nach oben stießen, mit wallenden Bewegungen aufbrach; es sah aus, als ob sich große weiße Blumen entfalteten.

Völlig einsam. Alle seine Freunde waren irgendwo weit weg, auf fester Erde, in sonnenbeschienenen Hangars. Die ganze bekannte Erde hatte aufgehört zu existieren. Nur schiefergraue Leere war da, durch die er immer und ewig dahinfuhr. Oder vielleicht bewegte er sich gar nicht. Stets das gleiche Dunstgewebe um ihn. Er war entsetzlich allein. Seine Unruhe wuchs, der Nebel schien dicker zu werden. Er studierte mit angespannten Blicken seinen Kompaß. Er erschrak; eine Möwe stieß durch den Dunst vor ihm hoch und verschwand. Als sie fort war, fühlte er sich noch einsamer. Seine Augenbrauen und seine Wangen waren naß von dem Dampf. Auf den Tragflächen glitzerten trübselige Tröpfchen. Es war ein trostloses Glitzern. Er war entsetzlich allein.

Er malte sich aus, was geschehen würde, wenn der Motor aussetzte und er durch diese lockeren Dunstschwaden abwärts stürzte. Sein zerbrechlicher Eindecker, der keine Schwimmkörper hatte, würde fast augenblicklich sinken. Es wäre kalt beim Schwimmen. Wie lange er sich wohl an der Oberfläche halten könnte? Was für Aussichten hätte er, gefunden zu werden? Er wollte nicht abstürzen. Der Cockpit mit der wohlvertrauten Uhr, dem Kartenhalter und den Drahtstreben schien so sicher. Er war das Zuhause. Die Tragflächen, die sich zu seinen beiden Seiten ausbreiteten, schienen so tröstlich sicher zu sein, ganz danach angetan, ihn in der Luft zu tragen. Aber der Rumpf der Maschine hinter ihm war nicht mehr als ein Gerüst, er war nicht einmal geschlossen. Und in den Boden des Cockpits war ein kleines Beobachtungsloch eingeschnitten. Wenn er durchblickte, sah er in widerlichem Kontrast zu dem stumpfen Gelb der Leinwand an Seiten und Boden den Nebel. Noch niemals hatte er Angst bekommen, wenn er durch dieses Loch hinuntersah. Jetzt aber hielt er die Augen davon abgewandt, und während er Kompaß und Ölstandzeiger beobachtete und geraden Kurs hielt, mußte er ununterbrochen daran denken, wie abscheulich es wäre, zu stürzen, hier abzustürzen und schwimmen zu müssen. Schauerlich verlassen wäre man – um das Wrack des Flugzeuges herumschwimmen, Schiffsnebelhörner hören, weit, weit weg, hoffnungslos.

Während er dies dachte, hörte er tatsächlich die Sirene eines Dampfers heiser aufheulen und flog unaufhaltsam darüber hin. Er zuckte zusammen, seine Schultern fielen nach vorn.

Mehr als einmal wünschte er sich, er hätte Forrest Haviland noch einmal vor seinem Aufstieg sehen können. Mit der Herbheit, die die Zuneigung eines Mannes für einen wirklichen Mann hat, wünschte er sich, er hätte Forrest beim Essen im Brevoort gesagt, wie glücklich es ihn mache, mit ihm zusammen zu sein. Er war entsetzlich allein.

Er fluchte über sich, weil er seine Gedanken so dünn und feucht werden ließ, wie der Dunst um ihn war. Er zuckte die Achseln. Dankbar lauschte er dem gleichmäßigen Brummen des Motors und dem Surren des Propellers. Er wird hinüber kommen! Er flog höher, hoffte die Küste erblicken zu können. Der nebelverhangene Horizont dehnte sich weithin. Er war unsagbar allein.

Durch einen Riß im Dunst sah er direkt vor sich, vielleicht eine Meile entfernt, in Sonnenlicht getauchte Häuser auf einem Hügel. Er schrie auf. Er war fast drüben. Aller Gefahr entronnen. Und die Sonne kam heraus.

Zwei Minuten später nahm er, zwischen dem Wasser und einer Stadt, die auf seiner Karte als Stamford bezeichnet war, Kurs nach Norden. Die Häuser unter ihm sahen freundlich aus; herzerquickend waren die ihm zuwinkenden Menschenmengen und die Klänge der Fabriksirenen, die ihn mit ihren rauhen Stimmen begrüßten.

Nun, da er wußte, wo er war, packte ihn augenblicklich wieder das Rennfieber. So sehr ihn auch der Flug über den Sund angestrengt hatte, um nichts in der Welt wollte er sich eine Rast auf dem Boden gönnen. Er begann darüber nachzudenken, wie weit vor ihm Titherington und Tad Warren sein könnten.

Er sah einen Eisenbahnzug in nördlicher Richtung aus Stamford ausfahren, flog auf ihn zu und begann ein Wettrennen mit ihm. Die Passagiere beugten sich aus den Fenstern, das Zugpersonal hing in gefährlichen Stellungen zu geöffneten Türen und von den offenen Plattformen heraus, der Lokomotivführer begrüßte mit rasendem Gepfeife den Kameraden, der da oben in seinem herrlichen Vogel dahinflog und telepathische Antworten zurücksandte, die der Mann unten wahrscheinlich niemals empfing. Der Lokomotivführer drehte auf, die Maschine stieß gewaltige schwärzliche Rauchwolken aus. Als Carl sich jedoch South Norwalk näherte, gab er das Spiel mit dem Eisenbahnzug auf.

Er war wieder im Aufsteigen begriffen, da gewahrte er eine Meile vor sich in einem Feld etwas, das wie ein Doppeldecker aussah. Er flog hinunter und umkreiste das Feld. Was da stand, war Titheringtons Farman-Biplan. Er hoffte, daß der liebenswürdige Engländer nicht verletzt war. Bald erkannte er Titherington, der neben seinem Apparat mit einer Gruppe von Leuten sprach. Mit einem Gefühl der Erleichterung stieg er wieder höher, über das Ameisengewimmel da unten lächelnd – Hunderte von Menschen, gleich schwarzen Käfern, rannten von benachbarten Feldern und einem Straßenbahnwagen, der angehalten hatte, zu dem gelandeten Flugzeug.

Gerade in diesem Augenblick hätte er nicht lächeln sollen. Er flog zu niedrig. Unmittelbar vor ihm erhob sich ein baumbestandener Hügel. Er schoß knapp über die Bäume hinweg, mit einem kalten Gefühl im Magen, und murmelte vor sich hin: »Verflixt! Das war leichtsinnig!«

Er eilte weiter. Wieder war das Rennfieber da. Konnte er Tad Warren überholen, wie er Titherington überholt hatte? Er sauste über die Ortschaften dahin, fröstelnd, aber zufrieden in der linden, kühlen Oktoberluft; jetzt war er schon so weit vom Wasser entfernt, daß die Nebelreste, die von der strahlenden Sonne noch nicht aufgesogen waren, nicht mehr bis zu ihm reichten. Unter ihm glitten die Felder und Wiesen dahin, so weit von ihm entfernt, daß sie zu einer einzigen wunderschönen, abwechselnd braunen und gelben Fläche wurden. Er begann zu singen. Er hatte Titherington gern und freute sich darüber, daß dem Engländer nichts zugestoßen war, aber es war trotzdem schön, Zweiter im Rennen zu sein; in einem Wettbewerb, auf den die Aufmerksamkeit des ganzen Landes gerichtet war, Siegesaussichten zu haben; der sanft leuchtenden Morgenröte des Ruhms entgegenzueilen. Doch während er sang, hielt er scharf Ausschau nach Tad Warren. Er mußte ihn überholen!

Mit der Vorsicht des Norwegers, der in diesem Punkte dem Schotten ähnelt, spielte er ununterbrochen mit dem Höhensteuer, um sich dem Wind anzupassen, der beständig mit dem Terrain wechselte. Einmal packte ihn ein Luftstrom von der Seite. Er schoß abwärts, um Wucht zu gewinnen, richtete die Maschine wieder auf und lachte laut vor Vergnügen, als er sie wieder nach oben stellte.

Niemals wieder konnte er so herrlich jung sein, so herrlich sicher seiner selbst und der Unmittelbarkeit seiner Erlebnisse. Er mochte wohl an Einsicht und Klugheit zunehmen, aber nie wieder so große Freude am Einsatz seiner Kräfte empfinden.

Jetzt stand es fest für ihn, daß es ihm bestimmt war, Tad Warren zu überholen.

Die Sonne schien immer strahlender; der Horizont, der auf der schüsselförmigen Erde aufsaß, weitete sich immer mehr. Als er auf den Sund zuflog, sah er, daß der Nebel fast ganz verschwunden war. Das perlfarbene Wasser sah freundlich aus, es bespülte den Sand an der Küste und gischtete zum strahlenden Himmel auf. Er flog über leerstehende, verschlafene Landhäuser mit phantastischen roten und grünen Feriendächern hin. Möwen schwebten gleich Silbersicheln über der mattschimmernden See. Selbst für den Rennflieger da oben herrschte Frieden.

Er sichtete eine von herbstlichen Bäumen bedeckte Felsklippe zur linken, dann eine ähnliche zur rechten. »West und East Rock – New Haven!« rief er aus.

Die Stadt zeichnete sich deutlich unter ihm ab, gleich Häuserwürfeln auf einem dunklen Teppich, mit Eisenbahn und Straßenbahnlinien, die im Oktobernachmittag wie Spinnweben glitzerten.

Er war also angelangt – ohne Tad Warren zuvorgekommen zu sein. Er war wütend.

Er kreiste über der Stadt und suchte nach der Rasenanlage, wo er (damals bekämpfte der amerikanische Aeroklub noch nicht das Überfliegen der Städte) landen sollte. Er sah den Yale Campus behaglich im Schatten der Ulmen liegen, sah die Zinnen und Türme der Universitätsgebäude, die von Oxford träumten. Der Zorn wich von ihm.

Er senkte sich zu den Anlagen hinab – und sein Herz hörte auf zu schlagen. Überall standen Zuschauer herum. Wie konnte er landen, ohne einen Menschen unter sich zu zermalmen? Rechts und links von ihm standen Bäume, vor ihm eine Kirche, er war schon viel zu weit unten, um wieder aufzusteigen. Sein Rücken stemmte sich gegen die Lehne seines kleinen Sitzes, schien sich mechanisch vor dieser tragischen Landung bewahren zu wollen.

Die Menschen flüchteten. Vor ihm lag ein kleiner freier Raum. Aber er hatte keinen Platz, wagrecht zu segeln und glatt hinunter zu kommen. Er drosselte den Motor ab und richtete die Nase des Eindeckers direkt zum Boden. Das Flugzeug stieß hart auf, prallte ein wenig zurück.

Es ging hinten hoch und begann mit furchtbarer Langsamkeit vornüber zu kippen. Mit einem Satz war Carl aus dem Cockpit draußen, bevor die Maschine umgeschlagen war.

Ohne die schreiende und gestikulierende Menge zu achten, die sich um ihn drängte, ihm im Licht stand, den saubern Geruch des Benzins und der höheren Luftschichten mit ihrer Körperausdünstung verdrängte, untersuchte er den Apparat und konstatierte, daß außer dem Propeller und dem Steuer alles intakt war.

Jemand bahnte sich einen Weg durch die Menge zu ihm – Tony Bean. Tony, der rundliche, manierliche Mexikaner von der Bagby Schule. Er rief Carl zu: » Hombre, war das eine Landung! Du hast vielen das Leben gerettet … Macht doch Platz da, Leute.«

Carl grinste und sagte: »Schön, dich zu sehen, Tony. Wann ist Tad Warren angekommen? Wo ist – –«

»Er ist noch nicht da.«

»Was? Wie? Wieso denn? Bin ich Sieger? Das – – Ja, um Gottes Willen! Hoffentlich ist ihm nichts passiert.«

»Ja, du bist Sieger.«

Ein Zeitungsverkäufer, der neben Tony stand, erzählte: »Warren hat bei Great Neck runtermüssen. Er hat sich die Schulter verrenkt, aber sonst ist ihm nichts passiert.«

»Aber du«, forschte Tony, »hast du dich nicht übel zugerichtet, Falke?«

»Mir ist gar nichts passiert.«

Die neugierige Menge, die jedes Wort der beiden Flieger belauschte, brach in den Ruf aus: »Hurra! Nichts passiert!« Als diese Stimmen laut wurden, merkte Carl auch, daß in der ganzen Stadt Hunderte von Fabriksirenen und Glocken ihm lärmend ihre Willkommengrüße zuriefen – ihm, dem Sieger.

Die Polizei bahnte ihm einen Weg. Als ihm ein Polizeihauptmann salutierte, die Hand zur goldbetreßten Mütze führte, mußte er daran denken, welche Angst der Tramp Slim Ericson vor der Polizei gehabt hatte. Carl machte sich auf den Weg, um die Glückwünsche – und den Scheck – des Preisspenders entgegenzunehmen und feierlich von der Universität Yale empfangen zu werden. Vor ihm, längs des schmalen, für ihn frei gemachten Weges, war ein wirres Kaleidoskop von Händen, die aus den Menschenmauern hervorkamen – Hände, die sich ausstreckten und seine Hände schüttelten, bis sie schmerzten, Hände, die Papier und Bleistift für Autogramme bereit hielten, Hände junger Mädchen mit goldenen Herbstblumen, Hände schmutziger, begeisterter kleiner Jungen – zahllose winkende Hände. Völlig verwirrt durch den Anblick einer Welt, die nur aus zuckenden, zappelnden Händen bestand, aber gerührt von dieser Begrüßung, schritt er über den Rasenplatz, ging durch Phelps Gateway und kam auf den Campus. Seine Mütze in den Händen drehend bedauernd, daß er seine lederne Fliegerjacke nicht abgelegt hatte, stand er auf einer Tribüne und hörte sich die Glückwünsche der Universität an.

Der Empfang war vorüber, aber die Mengen wichen und wankten nicht. Und er war sehr müde. Er fragte flüsternd einen Professor: »Ist das da hinter uns ein Wohngebäude? Kann ich hinein und dann fort?«

Der Professor winkte einen der Studenten zu sich heran und antwortete: »Gehen Sie nur, Mr. Ericson; man wird Sie wohl in den Vanderbilt-Hof bringen – durch die Tür hinter uns – und dann werden Sie fort können.«

Carl vertraute sich den jungen Leuten an und fand sich bald in einem verhältnismäßig stillen Tudorhof. Ein netter Junge, dessen glattes Haar von keinem Hut verdeckt war, rief: »Gleich hier, Mr. Ericson, die Treppe im Turm hinauf – und wir sind schon in Sicherheit.«

Nach dem lauten Stimmengewirr war die schattige Stille im Flur eine Wohltat. Carl war mit einem Male ein junger Mensch, der Yale sehen durfte, eine Universität, die so groß war, daß sie auf die Hörer am Plato College wie ein kolossaler Mythos gewirkt hatte. Er starrte die Liste der Hausbewohner an, die im ersten Stock in einem Rahmen an der Wand hing. Voll Ehrfurcht erblickte er durch eine offene Tür eine Flucht von Räumen.

Er wurde in ein Zimmer mit zahllosen Kissen, Feuerzangen, Morrisstühlen, in gepreßten Saffian gebundenen Büchern, Tabakkrügen und Pfeifen geführt – es sah ein wenig wild und jungenhaft aus, war aber ein Paradies. Er sah auf den Campus hinunter, wo die Menge noch immer auf ihn wartete. Er warf einen Blick auf den Studenten, dessen Gast er war, und machte eine beschwörende Handbewegung, dann bemühte er sich wirklich erwachsen, wirklich wie der berühmte Falke Ericson auszusehen. Aber er sehnte sich danach, daß Forrest Haviland da wäre und er staunen dürfte: »Sieh dir doch die Leute da an! Die warten auf mich! Kannst du das verstehen? Ein ganz schöner Anfang für meine Studien in Yale.«

In einem riesigen Sessel rauchte er eine Pfeife, die ihm der Junge gegeben hatte, und versuchte schüchtern mit einem Senior aus der großen Welt Yales zu sprechen (er selbst war nicht imstande gewesen, es auch nur in Plato zur Seniorenwürde zu bringen) und der ehrfurchtsvolle Junge versuchte schüchtern, mit dem großen Flieger zu sprechen.

Carl hatte ein Vorlesungsverzeichnis zur Hand genommen und blätterte zerstreut darin; er dachte an den Unterschied zwischen der Unzahl von Vorlesungen hier und dem kleinen, stets gleichen Lehrplan Platos. Auf einer Seite las er den Namen »Frazer«. Rasch blätterte er zurück. Da stand es: »Dr. phil. Henry Frazer, A. M., Dozent für englische Literatur.«

Carl bereitete es eine geradezu kindische Freude, daß Professor Frazer es nach seiner Niederlage in Plato hier zum Sieg gebracht hatte. Er vergaß seinen eigenen Triumph. Einen Augenblick empfand er den Wunsch, Frazer einen Respektsbesuch zu machen. »Nein«, knurrte er sich zu, »ich hab mich so viel rumgetrieben, daß ich mein bißchen Bildung längst wieder verlernt hab. Ich würd ihn ja gern sehen, aber – – Himmel Herrgott! Ich werd wieder zu studieren anfangen.«

Wohl verborgen im Schlafzimmer des Studenten schlief er ein wenig und träumte nicht gerade angenehm von Frazer und gelehrten Büchern. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, am nächsten Nachmittag in seiner hastig reparierten Maschine, die einen neuen Propeller bekommen hatte, beim New Haven Meeting einen guten Höhenflug zu machen. Seine Gedanken beschäftigten sich mit neuen Wegen, die in das Land der Büchergelehrtheit führten, während er müde und schläfrig, doch eifrig bemüht, vergnügt und dankbar auszusehen, bei dem großen Dinner zu seinen Ehren – dem ersten Bankett, das er mitmachen mußte – am Tisch saß; ernste Herren im Frack waren da, die den Anlaß, ein ganz klein wenig zu viel Champagner zu trinken, vergnügt begrüßten; Bürgermeister, Ratsherren und Bankiers nahmen daran teil; und die unvermeidlichen Geschichten von dem Mann, der beschuldigt wird, Regenschirme zu stehlen, und von den beiden Stinktieren, die, auf einem Zaun sitzend, neiderfüllt ein Automobil betrachten, wurden erzählt.

Ebenso unvermeidlich waren die Reden, welche Carls Flug priesen, als eine »erstaunliche Leistung, die für immer in den Annalen des Sports und des Heroismus weiterleben und dem Ruhmeskranz unserer schönen Stadt ein weiteres Blatt hinzufügen wird.«

Carl gab sich Mühe, geschmeichelt auszusehen, in seinem Innern aber dachte er: »Quatsch! In den Annalen von gar nichts werd ich weiterleben. Curtiss und Brookins und Hoxsey haben alle längere Flüge gemacht als ich, und zwar hier bei uns, und das sind Flieger, denen ich nicht einmal den Benzintank füllen kann … Herrjeh, hab ich einen Schlaf! Wenn ich nur abhauen könnte! Aber ich muß ein höfliches Gesicht machen … Mal sehen. Jetzt paß einmal auf, junger Carl; morgen gehts los, dann fängst du an und liest haufenweise Bücher. Mal sehn. Anfangen werd ich mit den Lieblingsbüchern von Forrest. Da wäre David Copperfield und das Buch von Wells, Tono-Bungay, da kommen Flugexperimente drin vor, und McTeague und Walden und Krieg und Frieden und Madame Bovary und bißchen Turgenjew und bißchen Balzac. Und dann auch was Ernsthaftes. Vielleicht versuch ichs mit dem Buch von William James über Psychologie.«

Alle diese Bücher kaufte er am nächsten Morgen. Sein übriges Gepäck war sehr leicht, und Martin Dockerill brummte: »Das ist ja wirklich allerhand – Zahnbürste, ein Paar Socken zum Wechseln und siebenundneunzigtausend Bücher.«

Zwei Abende später plagte sich Carl in einem Hotel in Portland, Maine, mit der Psychologie. Er haßte das Studieren. Er blätterte mit wütenden Bewegungen um und fuhr sich mit den Fingern durch sein maisfarbenes Haar. Aber er arbeitete angestrengt weiter und unterbrach sich nur, um von einem Tag zu träumen, an dem ihn die Menschen, die ihm öffentliche Ehren erwiesen, auch privat kennen würden. Irgendwo unter ihnen, glaubte er, war das Mädchen, mit dem er spielen könnte. Er würde sie bei irgend einem Wettfliegen kennen lernen, und sie würde sich ebenso über ihn freuen, wie er über sie … Hatte er sie vielleicht schon kennen gelernt? Er ging zum Schreibtisch und kritzelte ein Briefchen an Gertie Cowles – er schrieb ihr über die Schönheiten des Yale-Campus.


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