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Achtzehntes Kapitel

Nicht alle Tage wurden in Arbeit verbracht. Es gab Morgen, an denen der Wind ein Aufsteigen nicht gestattete und auch in der Werkstatt nichts zu tun war. Dann saßen sie, in endlose Debatten vertieft, um den Imbißwagen herum oder wanderten, wie Carl und Forrest Haviland, über die Felder, auf denen der Mohn flammte.

Leutnant Haviland machte keine Anstrengungen mehr, sich in der Gesellschaft des Seekadetten – eines jener feierlichen Prachtexemplare, die sich vor dem Sprechen umständlich räuspern und dann in wohlabgemessenen Ausdrücken über Zigarrensorten und das Wetter reden – wohl zu fühlen. In Carl jedoch glaubte er, während sie Seite an Seite arbeiteten, allmählich einen Freund zu entdecken, dem er sich vertrauensvoll anschließen konnte. Ein- oder zweimal fuhren sie mit der Straßenbahn nach San Francisco, um Entdeckungsreisen im Chinesenviertel zu machen oder Kameraden Havilands im Presidio zu besuchen.

 

Sie erwarteten auf der Veranda eines Ateliers, das auf dem Telegraphenhügel in San Francisco lag, einen mit Haviland befreundeten Maler und blickten zu den Inseln in der Bai hinunter. Da sie beide stille Träumer waren, fielen ihre Gespräche über die Herrlichkeiten der blauen Wasserfläche vor ihnen, über die Erinnerungen an die 49er Goldsucher und die Zukunft der Aviatik sehr einsilbig aus. Ging es aber um ihre eigenen Angelegenheiten, so wurden sie gesprächig.

»Ich möchte nur wissen«, sagte Haviland zaudernd, »warum ich mit den meisten Burschen im Lager nicht so recht warm werden kann wie du? Mit meinen Kameraden habe ich mich doch immer gut verstanden.«

»Du bist eben so erzogen worden, daß du dich nie traust, was anderes zu sein als ein Gentleman.«

»Ach, ich glaube nicht, daß es daran liegt. Ich kann doch manchmal mit den allergemeinsten gemeinen Soldaten verteufelt gut Freund werden – und du lieber Gott! die kommen zum Teil aus der Bowery und weiß der Himmel sonst woher.«

»Ja, wenn du an sie denkst, sind sie für dich eben immer ›Gemeine‹. Selber bezeichnen sie sich aber nicht so. Denk dir, ich hätte – Ja, denk dir bloß, ich hätt in der Bowery als Barmann gearbeitet. Könntest du dann hier mit mir herumspazieren? Könntest du mit Jack Ryan saufen gehen?«

»Na, das vielleicht nicht. Aber die Arbeit mit Jack Ryan ist vielleicht ganz gut für mich. Ich bin schon so weit, daß ich seine Geschichten fast aushalten kann! Ich beneide dich darum, wie gut du mit allen möglichen Sorten von Menschen auskommen kannst. Vielleicht steckt irgendwo in mir doch der Subaltern-Snob.«

»In dir? Du bist ein Fürst.«

»Wenn du mich zum Fürsten erhebst, ist das Geringste, was ich tun kann, daß ich dich zu einem Weekend nach Hause einlade – nach Hause ins Presidio von San Spirito. Mein Vater ist dort Kommandeur.«

»Oh, ich würde ja gern kommen, aber – Ich hab keinen Frack.«

»Kauf dir einen.«

»Ja, das könnt ich, aber – Ach Quatsch! Forrest, ich hab mich so lang herumgetrieben, daß ich wegen meinen Tischmanieren und so weiter ganz unsicher bin. Ich würde wahrscheinlich Pastete mit den Händen essen.«

»Du kannst mich manchmal ganz verflucht ärgern, Falke. Mir hältst du große Reden darüber, daß ich lernen muß, mich bei Leuten, die einen Monteuranzug anhaben, wohl zu fühlen. Du mußt eben lernen, dir von Leuten, die einen Frack anhaben, nicht imponieren zu lassen. Das Ganze kommt daher, daß du die letzten zwei, drei Jahre in Gegenden gelebt hast, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Du hast ein angeborenes Gefühl für Manieren. Aber ich habe recht gut gesehen, daß du dich, nachdem du einmal gemerkt hast, daß ich Offizier bin, angestrengt hast, mich als Militaristen zu hassen und außerdem zu erwarten, daß ich eingebildet bin – weiß der Himmel worauf. Zwei volle Wochen hat es gedauert, bis ich für dich ganz einfach Forrest Haviland war. Ich schäme mich für dich. Wenn du Sozialist bist, mußt du der Ansicht sein, daß alles, was dir gefällt, dein Eigentum ist.«

»Das ist ja ein ganz neuer Sozialismus.«

»Um so besser. Ich und Karl Marx, die Volkswirtschaftserneuerer … Aber was ich sagen wollte: wenn du dich so benimmst, als ob alles dir gehörte, werden die Leute sich dafür entschuldigen, daß sie sich etwas von dir geborgt haben. Und das mußt du tun, Falke. Du wirst bald einer der bekanntesten Flieger im ganzen Land sein und alle großen Tiere kennen lernen müssen – Generäle und Senatoren und ehrgeizige Weiber, die Friedensgesellschaften aufziehen, um sich gesellschaftlich eine Position zu machen, und so weiter, und du mußt wissen, wie du sie zu behandeln hast … Auf jeden Fall wirst du mit mir nach San Spirito kommen.«

Und sie gingen nach San Spirito. In den drei Tagen vorher schwitzte Carl Blut bei dem Gedanken, daß er sich in Damengesellschaft werde gut benehmen müssen. Er konnte sich noch so entschieden sagen: »Ich bin genau so gut wie sonst wer« – er machte sich doch Sorgen über Gabeln, Slang und Fingernägel und sah dieser Prüfung mit ebenso viel Vergnügen entgegen wie ein Mann, der gehenkt werden soll, für eine gute Sache, aber gründlich gehenkt werden soll.

Doch als Oberst Haviland sie in San Spirito an der Bahn abholte und Carl die freundlichen Begrüßungsworte des liebenswürdigen, dicken alten Indianerkämpfers hörte, da wußte er, daß er endlich zu seinen eigenen Menschen heimgefunden hatte – und dieser Eindruck war nur um so stärker, weil das Haus Oscar Ericsons so sehr Haus und so wenig Heim gewesen war. Der Oberst war Witwer und empfand für seinen einzigen Sohn eine mit Stolz gemischte zärtliche Zuneigung, die sich auch auf Carl erstreckte. Sie saßen nach dem Essen zu dritt in voller Gala auf der Veranda der Station Nr. 1, rauchten Zigarren und sahen zu den Ausläufern der Santa Lucia Berge hinunter, die ganz unten vom Gischt des Stillen Ozeans umspült waren. Sie sprachen von der Aviatik, der Eugenik und dem Benét-Mercier-Geschütz, von der Schwester des Stationsarztes, die aus dem Osten zu Besuch gekommen war, und von einer Reitprüfung, aber ihre Herzen sprachen von Zuneigung … Für gewöhnlich sind es ein Mann und eine Frau, die ein Heim schaffen; aber hier war es so, daß drei Männer, darunter ein Fremder, die in der Abenddämmerung auf einer Veranda saßen und von Motoren sprachen, für einander ein Heim schufen, das ihnen stets in Erinnerung blieb.

Sie warteten noch den Montagabend ab, an dem es eine kleine Tanzerei gab, und Carl machte die Entdeckung, daß die Offiziere und ihre Frauen um nichts unzugänglicher waren als Hank Odell. Sie schienen gar nicht darauf zu warten, daß der junge Ericson sich gesellschaftlicher Fehltritte schuldig mache. Als er gestand, daß er von dem bißchen Tanzen, das er einmal gekonnt hatte, nichts mehr wisse, nahm ihn die Schwester des Stationsarztes bei der Hand, zeigte ihm wieder den Walzer und fragte in einem Ton schöner Bewunderung: »Wie ist es denn, wenn man fliegt? Bekommen Sie nicht Angst? Ich habe schrecklichen Respekt vor Ihnen und Mr. Haviland. Ich würde sicher eine Heidenangst bekommen. Ich werde ja immer schon schwindlig, wenn ich von einem hohen Gebäude hinuntersehe.«

Carl stahl sich fort, um ganz allein glücklich zu sein, und verbarg sich im Schatten der Palmen auf der Veranda. Ringsum raschelten und raunten Pistaziensträucher. Das Orchester begann einen Walzer zu spielen, den sein Herz mitsang. Er hörte ein Mädchen rufen: »Ach herrlich! Die ›Blaue Donau‹! Gehen wir hinein, das müssen wir tanzen.«

»Die Blaue Donau.« Die Romane von General Charles King fielen ihm ein, die er in seiner Schulzeit gelesen hatte; er sah das gelberleuchtete Blockhaus eines vorgeschobenen Postens vor sich, das inmitten der nachtdunklen Wüste wie ein Topas leuchtete; ein grobgezimmerter Tanzsaal, und darin tanzte ein junger Offizier zur berauschenden Melodie der »Blauen Donau«; ein staubbedeckter Kurier eilte nach wildem Ritt mit Nachrichten von einem Apachenaufstand herein; wenige Minuten später stürmte eine Kavallerieabteilung hoch zu Roß durch das Tor hinaus, auf den Lippen des jungen Offiziers brannte ein Abschiedskuß … Mitten in einer solchen Militärgeschichte war jetzt er selbst!

Der süße Duft der Kletterrosen war um Carl, als dieses Bild in andere überging. Das Presidio von San Spirito wurde zu einem riesigen Truppenlager, über welches Falke Ericson flog … Von seinem Eindecker aus sah er eine Märchenstadt mit roten Dächern, die sich um ein hochgelegenes Kastell mit phantastischen Türmen gruppierten. (Das war zweifellos die Erinnerung an einen von Maxfield Parrish gemalten Magazindeckel.) … Er wanderte über ein Mohnfeld, in Begleitung eines Mädchens mit weichem schwarzen Haar und Augen gleich der Abenddämmerung, das bereit war, mit ihm davon zu fahren … Bilder, so leuchtend und vielfältig wie tropische Muscheln, geboren aus der Musik und dem Frieden und seinen Gefühlen für die Havilands; Bilder, die ihm die ganze Welt versprachen. Zum erstenmal begriff Falke Ericson, daß er, der Klippschüler, zu einem großen Mann werden könnte … Das Mädchen mit den Dämmeraugen lächelte.

 

Am ersten Mai löste sich das Bagby-Lager auf; alle außer einem der beiden Collegestudenten und dem Luftströmungsforscher waren zu mehr oder weniger tüchtigen Piloten geworden. Carl sollte für die George Flying Corporation kleine Städte bereisen. Leutnant Haviland wurde dem Heeresfliegerlager zugeteilt.

Der Abschied von Haviland und dem freundlichen Hank Odell, von Carmeau und dem beflissen höflichen Tony Bean war so melancholisch wie der Abschiedsabend eines Seniorenjahres. Bis der alte Mond traurig hinter den Tulpenbäumen aufging, saßen sie neben dem größern Hangar auf Kisten und sangen schmachtende Lieder. In Carls Augen standen Tränen; die jüngeren schluchzten, und die anderen Kameraden zogen einander auf, sie waren prosaisch, schlugen mit den Absätzen auf die Kisten ein – und wußten, daß sie auseinander gingen, um dem Tod ins Auge zu sehen. Forrest Haviland legte ihm die Hand auf die Schulter; dann fühlte er die Tatze des derben Jack Ryan; Tony Beans Geige verwandelte das traurige Halblicht in Musik und löste alle Wehmut in den Zaubertönen der Mondscheinsonate.


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