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Fünfzehntes Kapitel

Das D. S. Panama hatte Watling's Island passiert und dampfte ins Fabelland. Auf dem weißgescheuerten Deck hinter dem Ruderhäuschen saß Carl mit seinen Zwischendeckfreunden – lauter derben, wind- und wettergewohnten Männern.

Er lächelte zufrieden; er genoß die Gespräche der weitgereisten Männer, genoß seinen neuen blauen Kammgarnanzug, seine neue silbergraue Krawatte, die nicht nach Kneipe roch, seine Fingernägel, die allmählich wieder rosa wurden – und den Sonnenuntergang, der seine kleinen Freuden verklärte. Über die ungeheure Fläche des ruhigen, pflaumenfarbenen Meeres trieben inmitten von kleinen spiegelglatten Fleckchen Zweige hin, die in solchen Glanz gehüllt waren, daß sein frohes Herz sich an ihrer Pracht nicht genug tun konnte. Ein fliegender Fisch – der erste, den er sah – sprang silbern schimmernd aus dem Silber des Meeres empor, und Carl rief fast laut: »Das hab ich mir mein ganzes Leben lang gewünscht!«

Laut sagte er jedoch zu einem seiner Gefährten: »Wie siehts denn in Kansas aus? Dorthin will ich auch mal.« Er sprach mit rauher Stimme, aber der wahre Carl ging ganz auf in den Herrlichkeiten des Lichts und des glitzernden Kielwassers – und jenseits des abendlichen Horizonts warteten die Tropen.

Carl lag bis zum Gürtel nackt in seiner heißen Zwischendeckkoje; er sah durch das Fenster auf das plätschernde nächtliche Meer hinaus und hatte seine Freude an dem Rollen des Schiffs, an den Maschinen, die das Fahrzeug erzittern ließen, an den Nietenköpfen, welche die weiße Eisenwand verzierten, an den Rettungsgürteln über seinem Kopf und den Heizern, die im Gang beim Überbordwerfen der Schlacken sangen. Die Panama stampfte weiter, weiter, weiter, und er jubelte: »Das hab ich mir immer gewünscht.«

 

Es geht auf den Kai von Colon zu. Er sieht Panama! Erst eine Landspitze mit Palmen, dann das Hospital, die roten Dächer der J. C. C.-Gebäude in Cristobal und die Neger auf dem im Sonnenglanz daliegenden Kai.

Endlich kann er im Wunderreich an Land gehen – es ist das Pêle-mêle Colons und Cristobals, Panamas und der Kanalzone von 1907; Spiggoty-Polizisten, die in schlechtem Spanisch wie Affen schnattern, und große, lächelnde Polizisten der Kanalzone in Khakiuniform, die ein soldatisches Benehmen zur Schau tragen; Jamaikaneger mit konischen Schädeln und braune Barbadosneger, die mit einem Cockneyakzent sprechen; englische Ingenieure mit großmächtigen Sonnenschleiern und Touristen aus Neu-England, die so aussehen, als wären sie die Diener ihrer eigenen Schildpattbrillen; behäbige, ebenholzschwarze Mütterchen mit silbernen Armspangen und grellroten Kopftüchern, in gestärkten rosa und blauen Kattun gekleidet, die Guajaven und grüne Tabago-Ananas verkaufen. Carl sieht verwundert panamesische Nonnen und chilenische Konsule, französische Landarbeiter, jähzornige irische Werkführer und deutsche Konzessionsinhaber mit Schmissen und hohen Kragen. Goldene spanische Firmenschilder, Spigotty-Geld und Hotels mit Spucknäpfen und Stellenjägern aus Amerika; Zinndächer und Arkaden; Kaufläden, zur Straße offen, im Inneren aber voller Rätsel, die verschlagenen chinesischen Besitzer sitzen still da und rauchen winzige Pfeifen; Züge aus den Ortschaften am Kanal, und hin und wieder ein schwarzer Leichenwagen, der zum Friedhof auf dem Monkey Hill fährt. Spielhäuser, in denen es als witzig gilt, auf dem Grammophon »Wo ist mein Wanderbursch heut abend?« zu spielen, während die Wanderburschen beim Poker sitzen; und weniger saubere Lokale, die sich nach verschiedenen Staaten nennen; Negermädchen in gelbem Kaliko tanzen zu Geigenmelodien, die älter sind als die Voodoo-Bräuche; indianische Pflanzer kommen verdrossen mit hellgrünen Bananen herein; Erinnerungen an Spanish Main und an Morgans Überfall, an spanische Achter-Pesos und Entermesser; Landspitzen mit Kokospalmen, die von der Brandung bespült werden; Hütten auf moosbewachsenen Pfählen, zwischen denen Landkrabben herumkriechen – ihr Gerassel ist in der heißen, feuchten, unbewegten Luft weit zu hören; man muß an die Leichen plötzlich verschwundener Männer denken, die schon zur Hälfte aufgefressen sind, wenn man sie findet.

Dann, zum Kontrast, der verpflanzte Norden mit seiner strengen Auffassung von Pflicht und Arbeit; die amerikanischen Avenuen und kühlen Lüfte Cristobals; dort fahren dicke, kahlköpfige Chefs von der J. C. C. in großem Pomp mit politischen Gästen spazieren, die – es ist das Jahr 1907 – noch nicht recht an den Erfolg des militärischen Sozialismus in der Kanalzone glauben wollen; Frauen aus Oklahoma oder Boston sitzen auf den Veranden ihrer Bungalows in eichenen Schaukelstühlen aus Grand Rapids und sprechen von Hüten und Kindern, von ihren schriftlichen Bestellungen und Kartenpartien, vom Oberst und vom Malariafieber, von der Chautauqua und vom Culebra-Rutsch.

Colon! Ein Kaleidoskop aus Purpur und Grün und blendendem Weiß, aus farbigen Menschen, glühenden Dächern; dazu das Echo der schweren Arbeiten am Kanal und das Geraune aus dem unerforschten Busch; plötzliche Regengüsse, die mit der Gewalt entweichenden Dampfes herunterkommen, oder schlaffe Ruhe unter einem glutenden Himmel, an dem Bussarde, stiller als der Tod, gelassener als die Weisheit, langsam ihre Kreise ziehen.

»Herrgott!« seufzt Carl Ericson aus Joralemon, »danach hab ich mich ja immer schon gesehnt.«

 

Bei Pedro Miguel – für die beim Kanalbau Beschäftigten hieß es stets »Peter McGill« – fand er zunächst Arbeit als nicht offiziell geführter Aufseher, bald darauf, nach einigen Prüfungen, wurde er im technischen Stab der J. C. C. fest angestellt. Als ein Monat verstrichen war, erzählten höchstens noch die ein wenig hohlen Wangen von seinen Bowery-Erlebnissen. Das Quartier, in dem er wohnte, erinnerte an ein College-Internat; es herrschte ein fröhlicher Kommunismus, überall stolperte man über Schuhe, in Würfel geschnittenen Tabak und College-Banner; saubere junge Leute kamen und plauderten von dem und jenem – und hinter allem stand das Mysterium des Buschs. Sein Zimmergefährte, ein Schaffner der P. R. R., war ein Globetrotter, und durch ihn lernte Carl die Abenteurer kennen, deren Spuren er, seit er von Oscar Ericsons Holzschuppen davongelaufen war, unablässig verfolgte. Da war ein junger Ingenieur vom Bostoner Technikum, der jeden Morgen um sieben Uhr sieben (wenn es mit einer so inbrünstigen Begeisterung, als geschehe es zum ersten Male, kochendes Wasser regnete) schwor, er werde in die Chihuahua-Gruben gehen; da war Schiel-Corbett, ein früherer Seemann, der keine Moral hatte, aus Lancashire stammte und vom Negerraub, vom Copra-Handel, von den Kanaken und von den Schnapskneipen zwischen Nagasaki und Mombassa mehr wußte, als für einen Beamten heilsam ist.

Jeden Sonntag kam ein Mann mit traurigem Gesicht, der aschfarbenes Haar und knochige Finger hatte – früher Leutnant in der peruanischen Marine, Lehrer am St. John's College in China und Unterlieferant bei einem Eisenbahnbau in Montana, jetzt subalterner Angestellter in den kühlen, luftigen Bureaus der Materialbeschaffungsabteilung – aus Colon herüber, ließ sich in einen bequemen Sessel sinken und unterhielt sich, mit dem Freimaureramulett an seiner Roßhaaruhrkette spielend, mit dem Schaffner von der P. R. R. und den anderen über Paradiesvogeljagden und den Entsatz Pekings, über Creusot-Geschütze, Wildschweinjagden und Stammesüberlieferungen der Swahili.

Carl wurde in diesen Kreis als vollberechtigtes Mitglied aufgenommen, weil er von seinen Abenteuern in der Bowery und bei der Großen Riley Schau erzählte, und weil er sich als Autorität für Luftschiffmotoren ausgab, über die er sich im Lesesaal der Y. M. C. A. aus der Zeitschrift Aeronautics unterrichtete.

Damals, im Anfang des Jahres 1907, arbeiteten die Gebrüder Wright allerdings noch im Dunkel der Unbekanntheit; selbst in Dayton, wo sie lebten, wußte man nichts von ihnen, obwohl sie bereits einen Apparat, der ausgezeichnet funktionierte, konstruiert hatten; und auch Glenn Curtiss hatte vorläufig nicht mehr gebaut als einen Motor für Hauptmann Baldwins lenkbares Militärluftschiff. Langley und Maxim hatten jedoch schon Versuche mit motorgetriebenen »Schwerer-als-die-Luft«-Maschinen gemacht; dem feurigen Santos Dumont war es gelungen, in seinem Luftschiff den Eiffelturm zu umkreisen und in einem Aeroplan tatsächlich vom Erdboden aufzusteigen; und im Mai 1907 hatte ein Bildhauer namens de La Grange in Frankreich eine mehr als hundertachtzig Meter lange Strecke überflogen. Tag für Tag »lösten« die verschiedensten närrischen Erfinder das »Problem des Fliegens«. Der Mensch stand, bereit, sich in die Luft zu stürzen, flügelschlagend am Rand seines Erdennestes. Carl verstand es, technisch klingende Prophezeiungen auszusprechen, welche die Phantasie der unruhigen Kinder fesselten.

 

Die Abenteurer zogen weiter. Der ans Land verschlagene Seemann erklärte, er gehe nach Valparaiso, gehe nach San Domingo, und geriet nach Tahiti; von da schickte er Carl eine Ansichtskarte mit der Inschrift »Was kosten Affen?« Der Ingenieur vom Bostoner Technikum hielt seinen Schwur und ging in die Chihuahua-Bergwerke. Er bekam eine Anstellung als zweiter Betriebsleiter der Tres Reyes-Gruben und nahm Carl mit.

Carl kam nach Mexiko und atmete die Luft der hochgelegenen Wüsten und Berge. Er erlebte köstliche Tage, die zwecklos und wunderbar waren wie die Reisen der alten nordischen Ericson; er lernte spanisch; er saß, eine Achtmillimeter-Marlin auf den Knien, still da und wartete auf Banditenangriffe; er reparierte Maschinen, half bei der Aufstellung einer neuen Brechmaschine mit, schiente armen Teufeln von Taglöhnern die gebrochenen Glieder und ritt unter dem erhebenden Sternenglanz der Nächte auf Kuhponnys über schwärzliche Bergpfade. Niemals hatte er den Eindruck, daß das Maschinenwesen die strenge Größe des Gebirges entweihe.

Die der Arbeit abgestohlenen Stunden verwendete er zum Bau von Kastendrachen mit gewölbten Flügeln, denn er hatte im Herbst 1908 voll Begeisterung erfahren, daß im August ein hagerer amerikanischer Mechaniker namens Wilbour Wright die ganze Welt durch einen in Frankreich vor aller Öffentlichkeit unternommenen Aeroplanflug über viele Meilen in Aufregung versetzt hatte; daß schon vorher, am 4. Juli 1908, ein anderer Yankee-Mechaniker, Glenn Curtiss, nach einer Reihe in Gemeinschaft mit Alexander Graham Bell, J. A. D. McCurdy, »Casey« Baldwin und Augustus Post unternommener Versuche um den Preis des Scientific American nahezu eine Meile weit geflogen war.

Er hätte sich vielleicht bis zu seinem Lebensende weiter mit aufgeregten Schmierfinken von Mexikanern und hysterischen Maschinen befaßt, wenn nicht ein neuer Betriebsleiter gekommen wäre – einer jener unerschütterlichen, pfeifenrauchenden Engländer mit rotem Schnurrbart und hochgezogenen Augenbrauen, die im ersten Augenblick langweilig und dumm wirken, aber bald merken lassen, daß sie alle Welt von George Moore bis Marconi kennen. Er besah sich Carl wohl etliche hundert Male, dann erklärte er ihm, jetzt sei für ihn die Zeit gekommen, sich an eine Stadt heranzumachen und sie zu erobern, sich allmählich einen Beruf zu schaffen; er brauche Menschen, die ganz anders seien als Platonier, Bowery-Strolche und Tropentramps, ja, ganz anders sogar als seine geliebten Ingenieure.

»Sie können alles, nur nicht ein petit diner à deux bestellen, aber Sie müssen auch das lernen. Verdienen Sie zehntausend Pfund, studieren Sie Pall Mall und die Boulevards, und kommen Sie dann wieder zu uns nach Mexiko. Es wird mir leid tun, wenn Sie gehen – mit Ihrem gottverfluchten, seidenweichen Weiberhaar und Ihrem lächerlichen Augenblinzeln, wenn Guittrez heraufkommt und uns Angst einjagt – aber lassen Sie sich nicht zu früh von denen im flachen Land einfangen.«

Einen Monat später, im Januar des Jahres 1909, fuhr Carl, der jetzt dreiundzwanzigeinhalb Jahre alt war, von El Paso nach Kalifornien; er hatte Ersparnisse in Höhe von tausend Dollar, besaß einen schönen neuen Schlapphut und war erfüllt vom Ehrgeiz, eine Automobilfirma in San Francisco zu gründen. Der Wüstenhimmel schwamm in orangefarbenem Licht, hinter ihm summte eine Frau das Lied der Musette aus der Boheme – und da packte ihn das Heimweh nach den Fremden, die er verließ, um sich für zwanzig Jahre in einer Stadt zu vergraben und hunderttausend Dollar zusammenzuscharren.


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