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Einunddreißigstes Kapitel

Eine Woche lang – es war die Woche vor Weihnachten – hatte Carl weder Ruth noch Gertie gesehn; er war zu sehr vom Bureau in Anspruch genommen. Sie arbeiteten fieberhaft am Touricar, um ihn Anfang 1913 auf den Markt bringen zu können. An den beiden schönen Vormittagen, die es in dieser Woche gab, wollte er sich vom Bureau drücken, mit Ruth über die Berge wandern, aber dann bekam er plötzlich Gewissensbisse, weil er Gertie niemals zu einem größern Spaziergang aufgefordert hatte, und rief sich schuldbewußt ins Gedächtnis, daß der kleine Carl mit ihr sein Glück suchen gegangen war.

Als er am Sonntagabend zu Gertie kam, war sie allein zu Hause und las eine Liebesgeschichte in einer Frauenzeitschrift.

»Schön, daß du kommst«, sagte sie. »Ich war schon ganz einsam.«

»Sag mal Gertie, mir ist etwas eingefallen. Würdest du nicht gern schöne lange Spaziergänge über Land machen?«

»O ja; das wäre sehr schön, wenn wieder Frühling ist.«

»Nein; ich meine jetzt, im Winter.«

Sie sah ihn ein wenig schwerfällig an. »Wieso denn, es ist doch ziemlich kalt, findest du nicht?«

Er wollte widersprechen, aber er sah nichts Schwerfälliges an ihr. Er zog keine raschen Vergleiche zwischen Gerties Unbeweglichkeit und Ruths Leichtigkeit. Sie redete weiter:

»Du weißt doch, daß es hier recht kalt ist. Da wird immer so viel von der Kälte in Minnesota geredet; aber ich muß sagen, die Feuchtigkeit – –«

»Unsinn; es ist gar nicht so kalt, wenn man schnell genug geht.«

»Na ja, vielleicht; es wäre übrigens wirklich reizend, einen richtigen Ausflug zu machen.«

»Ausgezeichnet; machen wir einen.«

»Ich finde, die Leute sind so konventionell. Findest du nicht auch?« fragte Gertie, während Carl sich mit Sorgfalt und Umsicht eine von Rays besten Zigarren aussuchte. »Schrecklich konventionell. Nie machen sie größere Spaziergänge. Ich habe mit Dorothy Gibbons eine ganz reizende Stelle zum Spazierengehn gefunden, draußen im Bronx Park, und dort ist auch ein süßes kleines Restaurant, direkt am Wasser. Das Wasser war natürlich zugefroren, aber für New York, weißt du, hat es ganz wild ausgesehen. Gehn wir doch mal dahin.«

»Ach – Bronx Park – nein! Gertie, das ist nichts für mich. Ich will von dieser zahmen Stadt fort und alle Bureaus und Parks und Menschen vergessen.«

»Aaaahber!« kluckte sie begönnernd. »Wir dürfen von New York keine Wildnis verlangen, weißt du! Das wäre doch etwas zuviel verlangt! Siehst du das nicht selbst ein?«

Carl stöhnte bei sich: »Ich will mich nicht bemuttern lassen!«

Er schwieg. Sein Schweigen war sehr laut, er wollte, daß sie es hörte. Aber es ist sehr schwer, gegenüber einer freundlichen, rundlichen Frau von dreißig Jahren, die einen schon als Kind gekannt hat, den Trotzigen zu spielen. Carl gab sein Schweigen wieder auf.

Er ging summend im Zimmer herum, blätterte in einigen Zeitschriften, und dann redeten sie wieder von Joralemon und Plato.

Um dreiviertelzehn gab Carl sich die Erlaubnis zu gehn. Er sagte: »Ich muß morgen ziemlich zeitig anfangen. Hier in New York kann man sichs nicht so gemütlich machen wie in Joralemon. Ich möcht also ganz gern – –«

»Schade, daß du so früh gehn mußt. Aber ich bin froh, daß du heute abend herkommen konntest. Sieh doch immer nach uns, wenn du nichts Besseres vorhast. Ja – was ist mit unserem Spaziergang? Wenn du etwas Schöneres weißt als den Bronx Park, könnten wir es ja versuchen.«

»Natürlich – äh – ja – natürlich, selbstverständlich; müssen wir mal machen.«

»Und, Carl, du kommst doch zu uns, uns unsere Weihnachtspute aufessen helfen?«

»Das würd ich zu gern tun, aber es ist wirklich zu dumm, ich hab eine andere Einladung annehmen müssen.«

Daran war kein Wort wahr, und Carl dachte noch darüber nach, warum er gelogen hatte, als plötzlich das Unwetter losbrach.

Der rechte Arm, den Gertie mit der Geste der kultivierten Hausfrau zum Abschied ausgestreckt hatte, fiel herunter, dann hob sie langsam beide Arme mit geballten Fäusten bis zur Schulterhöhe empor, ihr Kopf ruckte zurück und neigte sich leicht zur Seite, ihr Mund war im Schmerz aufgerissen – wie eine Gekreuzigte stand sie da. Ihre Augen blickten nach oben, ohne etwas zu sehn, dann schlossen sie sich. Sie holte tief Atem, und ihre runde, weiche linke Hand griff nach der keuchenden Brust, während der rechte Arm wieder herunterfiel.

Carl starrte sie an, spielte nervös mit seiner Uhrkette und wäre am liebsten davon gelaufen. Dann begann sie zu sprechen, mit immer schriller werdender Stimme:

»Ach, Carl – Carl! Ach warum, warum, warum! Warum willst du jetzt nicht mehr, daß ich mit dir gehe, warum willst du gar nichts mehr mit mir zu tun haben? Hab ich dich geärgert? Ach, das wollt ich doch nicht! Warum langweil ich dich so?«

»Aber – Gertie – ach – herrjeh! – verflixt!« jammerte ein eingeschüchterter kleiner Junge. Ein reiferer Falke Ericson setzte sich wieder durch und versuchte sie zu trösten: »Gertie, Kind, ich wollte dich nicht – – Hör mich an – –«

Aber sie jammerte weiter: »Wir haben immer zusammen gespielt und ich dachte, hier in der Stadt können wir gute Freunde werden, wo es doch so viel Neues gibt – und ich wollte, daß wir miteinander ins Chinesenviertel gehen und ins Theater, und ich wollte auch immer meinen Anteil bezahlen. Ich hab immer gewartet und gehofft, daß du mich auffordern wirst, und ich wollte, daß wir zusammen sind. Ach, wir hätten so viel Neues zusammen sehn können, das wäre so schön gewesen, so schön – – Zuerst waren wir so gute Freunde, und dann – dann wolltest du gar nicht mehr herkommen, und – – Ach, ich mußte es ja sehn, ich mußte es ja immer mehr sehn; aber ich wollte es eben nicht sehn; aber jetzt kann ich mir nichts mehr einreden. Ich war so einsam, bis du heute abend kamst, und wie du vom Spazierengehn geredet hast – und dann hat es wieder so ausgesehn, als ob du ganz einfach von mir fort wärst.«

»Aber, Gertie, du warst doch – –«

»– und eigentlich hab ich es ja schon lange gesehn, damals, wie wir im Park spazieren gegangen sind und ich durchaus wollte, daß du ›Eltruda‹ zu mir sagst – ach, lieber Carl, du brauchst wirklich nicht ›Eltruda‹ zu mir sagen, wenn du nicht willst – und wie ich von dir hören wollte, daß ich Künstlerblut habe. Und mit Adelaide und so weiter. Und du bist weggegangen, und ich dachte, du wirst noch am selben Abend zurückkommen – ach, ich hab mich ja so danach gesehnt, daß du kommst, so danach gesehnt, und du hast nicht mal angerufen – und ich hab bis nach zwölf Uhr gewartet und immer noch gehofft, du wirst anrufen, ganz sicher hab ich gedacht, du wirst es tun, und du hast es nie, nie getan; und ich hab immer darauf gelauert und gelauert, daß das Telephon klingelt, und so oft sich etwas gerührt hat – – Aber nie warst du es. Es hat überhaupt nicht geklingelt …«

Sie fiel in den Lehnstuhl zurück und schluchzte in die Kissen. Carl blickte sie an und betete um eine Möglichkeit, sich drücken zu können. Aber bald machte er sich klar, daß er ihr helfen mußte. Er ging zu ihr, tätschelte ihr knabenhaft den Arm, strich ihr über das Haar und bat: »Gertie, Gertie, ich wollte damals am Abend wirklich herauskommen, ich wollt es wirklich, mein Kind. Ich hätt es auch getan, aber ich hab dann ein paar Freunde getroffen – den ganzen Abend konnt ich mich nicht von ihnen losmachen.« Es lief ihm kalt über den Rücken. An jenem Abend hatte er doch Ruth gefunden! Aber er redete weiter: »Verstehst du denn nicht? Ja, Kindchen, ich würde dir doch nie im Leben weh tun wollen. Und grade heute abend – du weißt doch, das erste, wovon ich zu reden angefangen habe, war, daß wir zusammen Ausflüge machen wollen. Ich hab dann bloß nichts mehr davon gesagt, weil ich nicht wußte, ob dir viel dran liegt. Aber Gertie, mit dir muß man doch gern zusammen sein. Du weißt doch so viel von Konzerten und andern Sachen. Jeder muß stolz darauf sein.« Er schloß mit gut gespielter Munterkeit: »Wir werden ein paar schöne lange Ausflüge miteinander machen, ja? … Und jetzt ist es wieder besser, nicht wahr, Kindchen? Du bist heut abend bloß übermüdet. Hast du dir über irgendwas Sorgen machen müssen? Erzähl dem alten Carl alles – –«

Wie ein Kind, das sich Mühe gibt, brav zu sein, trocknete sie ihre Tränen, und ganz kindlich war auch ihr verwirrter, verletzter und doch vertrauensvoller Blick, als sie mit einem ganz kleinen, scheuen Stimmchen sagte: »Kann man wirklich stolz darauf sein, mit mir zusammen zu sein? … Wir haben es doch manchmal so nett gehabt, nicht wahr? Weißt du noch, wie wir Katzengold gefunden haben, und wir haben gemeint, es ist wirkliches Gold, und haben es am Seeufer versteckt, und dann wollten wir uns ein Schiff davon kaufen, weißt du noch? Du hast doch nicht alle unsere schönen Erlebnisse vergessen, während du so berühmt geworden bist?«

»O nein, nein!«

»Aber warum – Carl, warum – warum liegt dir jetzt nichts mehr an mir?«

»Aber mir liegt doch sehr viel an dir! Du bist doch einer von den besten Kameraden die ich hab. Du und Ray.«

»Und Ray!«

Sie stieß seine Hand weg und richtete sich wütend auf.

»Carl, kannst du denn nicht begreifen, wie schwer es für eine Frau ist, auf diese Weise ihren ganzen Stolz zu vergessen?«

Carl war außer sich. Für ihn hatte Gertie nie zu den Frauen gehört, deren Reize Männer locken können; sie war ihm immer als gute Freundin mit einfacher Seele und schwesterlichen Gefühlen erschienen. Er sagte verlegen:

»Du darfst nicht so reden … Sieh doch, Gertie, wenn du nicht acht gibst, werden wir gleich eine richtige ›Szene‹ haben. Wir sind doch ganz einfach gute Freunde, und du kannst dich immer auf mich verlassen, genau so wie ich mich auf dich.«

»Aber warum müssen wir ganz einfach Freunde sein?«

Am liebsten wäre er grob geworden, aber er blieb geduldig. Ihr mechanisch über das Haar fahrend, stammelte er: »Ach, ich war – – Du weißt doch; ich hab mich so viel herumgetrieben, daß ich sozusagen auch mit meinen besten Freunden außer Kontakt gekommen bin, und jetzt weiß ich nicht einmal recht, wo ich bin. Ich könnte keine Verbindung eingehn – – Ach! das klingt ja geschwollen. Ich meine: ich muß jetzt sozusagen noch einmal ganz von Neuem anfangen, ich muß herausfinden, wo ich bin.«

»Aber warum müssen wir deshalb bloß Freunde sein?«

»Hör zu, Kind. Das ist schwer zu sagen; mir ist wohl auch erst in diesem Augenblick klar geworden, was es bedeutet. Ein Mädel – – Warte; hör doch erst. Ein Mädel – anfangs hab ich ganz einfach gemeint, es ist sehr nett, sie zu kennen, aber jetzt, Herrgott! Gertie, du würdest mich für reichlich sentimental halten, wenn ich dir sagen wollte, was ich von ihr halte. Gott! Ich sehne mich so danach, sie zu sehn! Jetzt, grade in dem Augenblick! Bis jetzt hab ich mir ja gar nicht eingestanden, wie ich sie brauche. Sie ist alles für mich. Schwester und Kamerad und Frau und alles.«

»Das ist – – Aber ich bin sehr froh für dich. Glaubst du mir das? Und vielleicht kannst du jetzt verstehn, wie mir zu Mute war. Es tut mir sehr leid, daß ich mich hab gehn lassen. Hoffentlich wirst du – – Ach, geh jetzt, bitte.«

Er sprang auf – nur zu bereit, zu gehn. Aber erst küßte er ihr noch in achtungsvoller Höflichkeit die Hand und sagte mit einer Sanftheit, die ihm selbst ganz neu war: »Gertie, kannst du mir verzeihn, wenn ich dir jemals weh getan hab? Und wirst du mir glauben, daß ich dich sehr, sehr gern hab? Und wenn ich dich wiederseh, dann wird es nicht – wir werden beide den heutigen Abend ganz vergessen, nicht wahr? Wir werden ganz einfach wieder der alte Carl und die alte Gertie sein. Sag mir, daß ich kommen soll, sobald – –«

»Ja. Das werde ich tun. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Gertie. Alles Gute.«


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