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Dreißigstes Kapitel

Ruth und Carl standen, in dem kalten Wind fröstelnd, auf einem eisglitzernden Felsen auf den Palisaden. Tief unter ihnen floß der eisengraue Hudson, Eisschollen mit sich tragend, langsam und träge dahin. Die Krähen am Himmel sahen aus wie Bleistiftstriche auf einem sauberen Blatt Papier.

Carl erzählte von Joralemon, von Plato, von seinen ersten Flügen auf Jahrmärkten im platten Land; er sprach davon, was es bedeute, ein Zeitungsheld zu sein, und von seiner Einsamkeit als entthronter Fürst. Ruth gestand ihm, daß sie jetzt, da sie keine Mutter mehr hatte, die sie dazu drängte, »in der Gesellschaft Fuß zu fassen« und »eine anständige Ehe einzugehn«, nicht recht wußte, was sie mit dem Leben anfangen sollte. Sie erzählte tastend von ihrem bißchen Fürsorgearbeit; in allem, was sie sagte, offenbarte sich rückhaltlose Ehrlichkeit.

Dann sprach Carl von seiner Religion – von der Erinnerung an Forrest Haviland. Er hatte bis jetzt mit keinem Menschen außer dem Oberst Haviland und dem englischen Flieger Titherington ernsthaft von seinem Freund gesprochen. Nun aber schien dieses Mädchen, das Forrest nie gesehen hatte, ihn Zeit ihres Lebens gekannt zu haben. Carl schilderte ihr die schönen Stunden gemeinsamer Arbeit in Kalifornien, ihre vertraulichen Gespräche in New Yorker Restaurants, seine Sehnsucht nach ihrer Brasilienreise. Ruth sah ihn verständnisvoll an, und als er ihr in zehn Worten von der Nachricht erzählte, die ihm Forrests Tod mitgeteilt hatte, standen Tränen in ihren Augen.

Dann wurden sie wieder fröhlich, und Ruth jubelte:

»Ich bin so froh, daß wir hierhergegangen sind! So froh, daß wir hierher gegangen sind! Aber ich habe Angst vor den wilden Tieren, die ich hier im Wald sehe, und außerdem darf es gar nicht so früh dämmern. Ich kenne einen großen Zeitungsmann, der in Pompton, N. Y. lebt, und den werde ich bitten, daß er dem Gouverneur darüber schreibt. Es müßte zum Gesetz gemacht werden, daß es an Samstag-Abenden nicht vor sieben Uhr dunkel werden darf. Ich bin sehr froh, daß Sie mich dazu veranlaßt haben, mitzukommen, wissen Sie … Und darauf, daß Sie mir alles erzählt haben – von Leutnant Haviland – und von dem schlimmen Carl in Joralemon, darauf bin ich sehr stolz.«

»Na – – Es freut mich – – Hören Sie, wir werden uns aber ganz verflixt beeilen müssen, wenn wir ein Fährboot erwischen wollen, mit dem Sie noch rechtzeitig zum Essen nach Hause kommen können.«

»Mir ist etwas eingefallen. Ob das wohl gehn wird – Ich habe eine Freundin, so etwas ähnliches wie eine entfernte Cousine, die hier auf den Palisaden, in Winklehurst, verheiratet ist und ziemlich nahe bei der Fähre wohnt. Wir müßten doch eigentlich sehn, daß sie uns beide zum Essen einlädt. Sie wird natürlich ganz genau wissen wollen, wer Sie sind, aber wir werden sehr mysteriös sein, und das wird die ganze Sache nur noch amüsanter machen, finden Sie nicht auch? Ich möchte unseren Ausflug noch verlängern, wissen Sie.«

»Ich wüßte nicht, was ich lieber täte. Aber trauen Sie sich, Ihre Freundin mit einem völlig fremden Mann zu überfallen?«

»O ja, ich kenne sie so gut, daß sie mir erzählt hat, was für eine Krawatte ihr Mann anhatte, als er um sie anhielt.«

»Dann tun wirs doch!«

»Ein Telephon! Hier gleich in der Nähe sind ein paar Läden, in der Siedlung dort. Da muß es auch ein Telephon geben … Ich werde schon dafür sorgen, daß wir etwas Gutes zu essen bekommen. Wenn Laura meint, daß sie so leicht davon kommt, wird sie sich schwer täuschen.«

Sie traten in einen winzigen Laden, in dem Zuckerwerk, Vorhängeschlösser und Fäustlinge verkauft wurden. Während Ruth mit ihrer Freundin, Mrs. Laura Needham, telephonierte, kaufte Carl bunte Drops, ein Zuckermäuschen und eine kleine Schokoladenkatze mit grünen Ohren und echten Schnurrbarthaaren. Er konnte es nicht vermeiden, Ruth beim Telephonieren zuzuhören, und die beiden grinsten einander wie Spießgesellen zu.

»Hallo, hallo! Mrs. Needham zu sprechen? … Hallo! … Oh, hal-lo, Laura. Hier Ruth. Ich … Ausgezeichnet. Es geht mir wunderbar. Ein bißchen kalt. Hör mal, Laura; ich habe einen langen Spaziergang auf den Pallisaden gemacht. Bin ich mit einem netten jungen Mann bei dir zum Essen eingeladen? … Wie? … O ja, natürlich, selbstverständlich bin ich zum Essen eingeladen. Also, mein Kind, dann fahr nur ruhig in die Stadt, meinen Segen hast du. Aber das soll dir nicht die Gelegenheit rauben, deine Gastfreundschaft zu beweisen … Ich weiß nicht. Was für Boot nimmst du? … Sieben zwanzig? … N-nein, bis dahin können wir wohl kaum da sein, du kannst also ruhig gleich gehn; und laß alles vom Mädchen für uns vorbereiten … Gut, schön; es ist wirklich reizend von dir, daß du mir so zuredest.« Sie wurde rot, als ihre Blicke denen Carls begegneten. Sie sprach weiter: »Aber ernsthaft, wird es zu viel für das Mädchen, wenn wir kommen? Wir sind schrecklich erfroren, und in die Stadt ist es noch so weit … Danke schön, Laura. Ich werde mich revanchieren, wenn du – in ein paar Tagen … Wie? … Wer? … Ach, ein Mann … Na ja, vielleicht, aber ich würde viel lieber mit Olive spazieren gehen als mit Phil. Nein, er ist es nicht … Ach, wie gewöhnlich. Er wird bald überhaupt nichts anderes tun als tanzen … Na, wenn du es unbedingt wissen mußt – nein, seinen Namen kann ich dir nicht sagen. Er ist –« Sie musterte Carl taxierend. »– er ist ungefähr eins fünfzig groß und hat einen langen französischen Hängebart und eine wunderschöne rote Nase und hört zu, wie ich ihn beschreibe … Ja, vielleicht erzähle ich dir einmal von ihm … Auf Wiedersehen, Laura.«

Sie wandte sich zu Carl um, rieb sich das kalte Ohr, an das sie den Hörer gehalten hatte, und rief vergnügt: »Ihr Mann hat lange im Bureau zu tun, und Laura soll sich mit ihm in der Stadt treffen, sie gehn ins Theater. Wir werden also das ganze Haus für uns allein haben. Herrlich!« Rasch telephonierte sie noch nach Hause, daß sie nicht zum Essen komme.

Als sie den Laden verlassen hatten, gingen sie einige hundert Meter weiter, bis zur Winklehurster Straßenbahn, und stiegen ein; währenddessen dachte Carl rasch. Er war durchaus nicht über kleine Abenteuer erhaben. Nur – als sie ihn am Telephon vergnügt angesehen hatte, war sie so sichtlich frei von jeder versteckten erotischen Neugier gewesen, daß er die Frage: »Wie weit kann ich gehen, was erwartet sie?« – die außerhalb unschuldiger Romane die Männer wirklich beschäftigt – augenblicklich abtat.

Als sie sich im Wagen setzten, lachte er Ruth ganz glücklich an, ohne Theater zu spielen, wie er es bei Eve L'Ewysse getan hatte.

Glücklich. Aber hungrig! Mrs. Needham mußte, als sie zum Haus kamen, schon weg sein, aber trotzdem rief Ruth:

»Schhhhhh! Im Wohnzimmer scheint jemand herumzugehn. Ich glaube, Laura ist noch gar nicht fort. Das würde alles verderben. Kommen Sie. Wir wollen spionieren. Wir wollen Indianerkundschafter spielen!«

Sie schlichen auf den Zehenspitzen an die Seitenwand des Hauses und sahen durch das Speisezimmerfenster hinein, dessen Jalousie einen Spalt über dem Fensterbrett freiließ. Ein Geräusch im Hintergrund des Hauses ließ sie zusammenschrecken; sie preßten sich an die Mauer.

»Großer Häuptling«, flüsterte Carl. »Die Rothäute sind uns auf den Fersen, aber der alte Faßbraun wird so manchen von ihnen ins Gras beißen lassen!«

»Still, keine Dummheiten … Ach, es ist bloß das Mädchen. Sehn sie, sie schaut auf die Uhr und wundert sich, warum wir noch nicht da sind.«

»Aber vielleicht ist Mrs. Needham im Nebenzimmer.«

»Nein. Das Mädchen schnüffelt ja herum. Da, jetzt liest sie eine Postkarte, die jemand auf dem Tisch hat liegen lassen. Ja, und außerdem kaut sie Gummi. Laura ist bestimmt schon weg. Sie kaut jetzt wahrscheinlich auch Gummi, weil sie sich nicht vom Mädchen beobachtet fühlt. Laura war immer sehr fürnehm, aber ich glaube, gegen die wilden Genüsse, die einem das Gummikauen gibt, wenn man in Winklehurst wohnt, wird sie nicht gefeit sein.«

Mittlerweile hatten sie geklingelt.

»Ich bin sehr froh, daß Laura weggegangen ist«, sagte Ruth; »sie nimmt alles so wörtlich. Sie würde vielleicht gar nicht verstehn, daß wir in aller Hast getraut sein und sogar auf diese Weise ein Haus mieten und doch ganz einfache Teebekannte sein können.«

Das Mädchen hatte noch nicht geöffnet. Während sie warteten, zitterte Carl nahezu vor Freude über dieses Abenteuer. Er drückte ihr rasch die Hand, und sie erwiderte lachend und rasch atmend leicht den Druck. Als das Mädchen die Tür öffnete, zuckten sie zusammen wie überraschte Liebesleute. Das Bewußtsein, erschrocken gewesen zu sein, machte sie nur noch verlegener, so daß sie vor dem Mädchen nahezu stotterten. Ruth lief rasch die Treppe hinauf, während Carl sich bemühte, würdevoll Stufe um Stufe zu nehmen.

Als er sich gewaschen hatte und in der obern Diele wartete, rief ihm Ruth aus Mrs. Needhams Zimmer zu:

»Kopfbürsten und alles andere werden Sie wohl in Jacks Zimmer finden, rechts. Ach, ich bin wirklich dumm, ich habe ganz vergessen, daß das unser Haus ist. In Ihrem Zimmer, meine ich natürlich.«

Einen Augenblick lang sah er sie, wie sie eine Strähne ihres braunen Haars mit einer Bürste bearbeitete, und dann suchte er das Zimmer auf, das ihm und nicht Jack gehörte. Es war nicht mehr ein Haus fremder Leute, sondern eines, zu dem er gehörte.

»Nein«, hörte er sich erklären, »sie ist nicht schön. Istra Nash war das schon eher. Aber weiß Gott! Sie ist so ein guter Kamerad, sie ist eben doch schön. Ach, hör auf zu quatschen … Wenn ich sie nur auf die süße kleine Stelle am Hals küssen könnte …«

Als sie in die Diele herauskam, klagte sie: »Es ist doch eigentlich schrecklich verwirrend, plötzlich ein Haus und sogar drei Puppenkinder zu haben, alles so plötzlich fix und fertig!«

»Was? Familie haben wir auch schon? Ach, ich vergesse immer. Bitte sehr um Entschuldigung – ich hab im Bureau so viel zu tun –«

»Na, ich glaube wenigstens, wir haben Familie. Ich kann ja noch rasch ins Kinderzimmer gehn und nachsehn, aber ich bin fast ganz sicher – –«

»Nein, nein, Ihr Wort genügt mir. Sie sind ja mehr im Haus als ich. Ach, übrigens, da wir gerade davon reden, da fällt mir wieder ein: Weib, wenn du meinst, daß ich dir in diesem Jahr noch eine Waschmaschine kaufen werde, wo du schon einen Serviettenring und ein Bild von Martha Washington gekriegt hast – –«

»Oh weh, o weh! Ich wußte ja, daß ich einen rohen Gatten haben werde, der – Ach wie schön! Ich glaube, das Mädchen schleicht herum und versucht zu lauschen! Schhhh! Laura wird ja schöne Sachen von ihr hören!«

Während das Mädchen beim Essen servierte, waren die beiden ein höchst korrektes Paar; nur einmal mußte Carl sie auf den Fuß treten, weil sie zu dem Mädchen sagte: »Ach, Leah, denken Sie doch daran, Mrs. Needham zu sagen, daß ich ein Taschentuch aus meinem – will sagen, aus ihrem Zimmer gemaust habe.«

Als das Mädchen aber keine eingebildeten Krumen mehr auf dem Tisch finden konnte und die beiden mit ihren Herzen und dem Dessert allein waren, begann ein höchst ruppiges junges »Ehepaar« wütend über die Waschmaschine zu streiten, deren Anschaffung er noch immer verweigerte.

Carl ließ sich nicht nehmen, daß sie als Vorstädter Karten spielen müßten, und brachte ihr Pinochlespielen bei, was er von dem Barmann in der Bowery gelernt hatte. Aber die Karten fielen ihnen bald aus den Händen, und dann saßen sie träge und sehr glücklich vor dem Gaskamin im Wohnzimmer, und schließlich sagte sie:

»Die ganze Zeit, während wir Karten spielten – und, was ja etwas gefährlicher war, Ehepaar spielten – die ganze Zeit mußte ich daran denken, wie froh es mich macht, daß ich etwas von Ihrem Leben weiß. Irgendwie – – Ich möchte eigentlich wissen, ob Sie das schon vielen erzählt haben?«

»So gut wie niemand.«

»Ich möchte – – Ich will jetzt aber wirklich keine Komplimente hören, ich möchte ganz ernsthaft, daß Sie mir glauben, daß ich Verständnis – –«

»Noch kein Mensch hat so viel Verständnis gehabt.«

Dann herrschte Schweigen. Carl blickte sich in dem modern eingerichteten Zimmer um. Ruths Augen folgten. Sie nickte mit dem Kopf, als er sagte:

»Aber in Wirklichkeit ist es ein altes Farmhaus draußen in den Bergen, wo der Schnee ganz hoch liegt; und im Kamin brennen mächtige Holzklötze.«

»Ja, und gescheuerte Fußböden.«

»Und, ach, Ruth, ein Schlitten mit – – O weh! Es ist wohl etwas verfrüht, ›Ruth‹ zu Ihnen zu sagen, aber wir sind doch schon den ganzen Abend miteinander verheiratet, und da kann ich wirklich nicht einsehn, warum ich ›Miss Winslow‹ zu Ihnen sagen soll.«

»Nein, das dürfte unter diesen Umständen kaum das Richtige sein. Dann muß es eben ›Mrs. Ericson‹ heißen. Oh! Dabei muß ich an Wikingerschiffe und nördliche Meere denken. Natürlich – Ihr Wikingerschiff war das Flugzeug … Mrs. Eric –« Ihre Stimme wurde ganz klein, sie errötete und fragte gleichsam in Verteidigungsstellung: »Wie spät ist es? Ich glaube, wir müssen gehn. Ich habe am Telephon gesagt, daß ich um zehn zu Hause bin.« Der Ton, in dem sie sprach, war ebenso konventionell wie ihre Worte.

Aber als sie an der Straßenecke auf die Trambahn zur New Yorker Fähre warteten, war wieder alles Steife und Förmliche von ihr gewichen, so daß er den Mut bekam zu sagen:

»Ach – bitte – lassen Sie sich noch eine Zeitlang von Phil Dunleavy nicht davon abhalten, hin und wieder durchzubrennen.«

»J–ja, vielleicht.«


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