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Viertes Kapitel

Gleichgültig, nicht verlegener als sonst, stapfte Carl das neue Steintreppchen zum Haus der Cowles' hinauf; er hatte die feste Absicht, Gertie wegen ihres Verhaltens gegen Eddie gehörig die Meinung zu sagen. Dann öffnete sich die Eingangstür, und ein verblüffter Carl erstarrte zu Höflichkeit. Das »Dienstmädel« der Cowles', seine Cousine zweiten Grades Lena, steif und unbehaglich mit Häubchen, schwarzem Kleid und Rüschenschürzchen, das an ihrer knochigen Gestalt baumelte wie ein an einen Besenstiel gestecktes Spitzentuch, machte ihm die Tür auf. Murray Cowles eilte herbei. Er war im Frack!

Hinter Murray empfing Mrs. Cowles Carl in ein wenig aufgetauter Majestät: »Wir freuen uns ja so, daß Sie kommen können, Carl. Bitte legen Sie doch in dem Zimmer gleich oben an der Treppe ab.«

Die leutselige Art, mit der Howard Griffin (gleichfalls im Frack) ihn bei der Vorstellung begrüßte, ergoß sich wie sänftigender Balsam über Carl. »Freut mich kolossal, Sie kennen zu lernen, Ericson. Ray hat mir erzählt, daß Sie einen blendenden Sprinter abgeben würden. Der Captain von der Läufer-Mannschaft wird Sie aufs Korn nehmen, wenn Sie nach Plato kommen. Selbstverständlich kommen Sie hin. Die Universität von Minn. ist zu groß … Zigarette? … Man fängt zu tanzen an. Kommen Sie, alter Junge. Los, Ray.«

Als Carl die Treppe herunter kam, war der Tanz schon im Gange; mit Sicherheit wußte er nur, daß es entweder ein Walzer oder ein Twostep oder etwas anderes war. Das Ganze spielte sich in der Bibliothek der Cowles' ab – dem einzigen Wohnzimmer Joralemons, das den Namen Bibliothek trug, dem einzigen, das sich durch einen Kamin und einen gebohnerten Parkettboden auszeichnete.

Adelaide Benner – eine neue Adelaide, in Chiffon über gelbem Atlas und Lackpumps – grinste ihm zu und schleppte ihn erbarmungslos in das Gewühl der Tänzer. Unter dem Bann der vornehmen Gesellschaft schien niemand Eddie Klemms zu gedenken. Adelaide erwähnte den Zwischenfall gar nicht.

Carl merkte, daß er andere anstieß, sich beständig bei Adelaide und den anderen entschuldigte – und sich nichts daraus machte. Denn er schaute eine Vision! So oft er der Südseite des Zimmers zugewandt war, erblickte er Gertie Cowles in großer Glorie.

Sie war über die fußfreien Kleider hinaus! Sie hatte ein duftiges langes Kleid an, das ihren weichen Hals frei ließ, und trug ihre achtzehn Jahre höchst eindrucksvoll zur Schau. In ihrem braunen Haar stak eine rote Rose. Sie saß zurückgelehnt in einem großen lederbezogenen Eichensessel und lächelte auf das sanfteste, besonders wenn Carl ihr den Kopf zuwandte.

Sie war ihm immer etwas Selbstverständliches gewesen; sie hatte kein Alter und kein Geschlecht, barg keine Rätsel. An diesem Nachmittag noch war sie eine ganz nebensächliche Kleinigkeit Joralemons gewesen, die unter der Anklage der Hochnäsigkeit gegen Eddie Klemm stand und argwöhnisch beobachtet werden mußte – und nun war sie da, mit einem Male erwachsen und schön, umglänzt von den Strahlen eines besonderen Zaubers, der sie von der ganzen übrigen Welt unterschied.

Nach dem Tanz entledigte er sich Adelaide Benners, als wäre sie bloß seine Schwester. Er beugte sich über die Lehne von Gerties Sessel und sagte ganz aufgeregt: »Es hat mir schrecklich leid getan, daß du krank warst … Hör mal, du siehst aber wunderbar aus heute abend.«

»Ich freu mich ja so, daß du zu meiner Gesellschaft kommen konntest. Ach, ich muß mit dir sprechen, nämlich über – – Meinst du, daß du manchmal sehr, sehr böse auf mich armseliges Ding werden könntest? Ich kann sehr schlecht sein.«

Er machte einen schüchternen kleinen Luftsprung, um sein sicheres Auftreten zu demonstrieren, und erklärte ihr: »Ja, ja, wahrscheinlich werd ich dich mal umbringen.«

»Nein, hör zu, Carl; es ist mir schrecklich ernst. Hoffentlich wirst du nicht schrecklich böse auf mich wegen Eddie Klemm. Ich weiß, ihr seid gute Freunde, Eddie und du. Und ich wollte auch, daß er zu meiner Gesellschaft kommt. Aber sieh mal, es war so: Mr. Griffin ist unser Gast (er kann dich sehr gut leiden, Carl. Ist er nicht einfach blendend? Ich glaub, Adelaide und Hazel sind einfach verrückt wegen ihm. Ich finde, er ist genau so elegant wie die Männer in New York.) Eddie und er sind nicht sehr gut miteinander ausgekommen. Schuld wird wohl keiner von beiden dran sein. Ich dachte nur, es würde Eddie viel angenehmer sein, wenn er nicht kommt, verstehst du mich!«

»O nein, natürlich; ach ja, ich versteh. Selbstverständlich. Mir ist jetzt klar, wieso – – Hör mal, Gertie, ich hab ja gar nicht gewußt, daß du so erwachsen aussehen kannst. Jetzt wirst du wohl nie mehr mit mir spielen wollen.«

»Ich möchte, daß du immer ein guter Freund von mir bleibst. Wir sind doch immer fürchterlich gute Freunde gewesen?«

»Ja, weißt du noch, wie wir davon gelaufen sind?«

Sie stützte ihre Wange höchst zart auf eine Fingerspitze und seufzte: »Ja, ob wir noch einmal so glücklich sein werden wie in unserer Jugend? … Das Tanzen geht wieder los. Ach, wenn ich mich nur wohl genug fühlte, um tanzen zu können.«

»Ich möcht gern hier sitzen bleiben und mit dir reden, Gertie, und nicht tanzen.«

»Du langweilst dich hier wohl schrecklich, wenn du daran denkst, daß du im Billardzimmer sein könntest, nicht?«

»Ja, könnte! Aber nein! Eddie Klemm hätt ja mit seiner Phantasieweste sehr viel Chancen neben Griffin in seinem Frack! Ich will natürlich nichts gegen Eddie sagen, wir stehn uns recht gut miteinander – –«

»Natürlich: ich verstehe. Es ist bloß, man muß bei seiner eigenen Schicht bleiben, findest du nicht auch?«

»Ja, eben. Klar. Das ist ja auch meine eigene Ansicht.« Carl sagte das in einem gemacht vornehmen Ton. In Gerties aristokratischer Gegenwart hatte er das Bestreben, sich von allen vulgären Menschen zu separieren.

Er holte sich einen Schemel und setzte sich zu ihren Füßen. Sofort befürchtete er, daß alle im Zimmer ihn beobachteten. Ray Cowles rief ihnen im Vorüberwalzen zu: »Nimm dich vor dem Carl in Acht, Gertie. Der ist ein richtiger Courschneider.«

Carl wurde es heiß um den Kopf, aber er versuchte tapfer, sehr überlegen zu wirken, als er bemerkte: »Das Kleid hast du wohl aus New York? Warum hast du mir eigentlich nie was von New York erzählt? Dort ists richtig. Herrjesus! würd ich gern dort hingehn!«

»Ich wünsch dir, du wärst dort gewesen. Wir haben in meiner Schule so viel Spaß gehabt. Jungens waren keine da, aber wir – –«

»Keine Jungens? Nanu, wieso denn?«

»Ja, die Schule war eben bloß für Mädchen.«

»Aha«, sagte er albern, völlig zufriedengestellt.

»Wir habens großartig gehabt, Carl. Ich muß dir von einer schrecklich ausgelassenen Sache erzählen, die Carrie – das war meine Busenfreundin in der Schule – und ich gemacht haben. In der Dreiundzwanzigsten Straße war ein Theater, und wir waren alle ganz verrückt mit den Schauspielern, und ganz besonders mit Clements Devereaux, und einmal am Nachmittag, da sagte Carrie dem Direktor, sie hat Kopfweh, und ich fragte, ob ich mit ihr nach Hause gehn und ihr die Lektionen für den nächsten Tag vorlesen darf (die Aufgaben haben dort ›Lektionen‹ geheißen) und die haben mich alle für so ein dummes kleines Landgänschen gehalten, daß sie gemeint haben, ich könnt überhaupt nicht mogeln, und da haben sie uns gehn lassen, und was meinst du, was wir getan haben? Sie hatte Karten zu den beiden Waisen fürs Theater. (Du hast ›Die beiden Waisen‹ nicht gesehn? Es ist einfach blendend. Ich hab mir dabei die Augen aus dem Kopf geweint.) Und nachher sind wir nach hinten gegangen und haben am Bühnenausgang gewartet, und was meinst du? Der Hauptdarsteller, dieser Clements Devereaux, ist so nah an uns vorübergegangen, wie ich jetzt bei dir sitze. Ach Carl! Du hättest ihn bloß sehn sollen! Er ist der hübscheste Mensch, den du dir vorstellen kannst. Er hat kohlrabenschwarze Locken gehabt, und am Daumen hat er einen Ring getragen.«

»Ich halt nicht viel von den Schmierenkomödianten«, brummte Carl. »Schauspieler werden immer pleite, und dann müssen sie zu Fuß nach Chicago gehn. Findest du nicht, daß es besser ist, wenn man Ingenieur ist oder so was, statt daß man sich das Haar schniegelt und mit nem Spazierstock rumläuft. Das sind ja alles bloß Affen.«

»Aber natürlich, Carl, du dummer Junge! Du glaubst doch nicht, daß ich den Clements ernst nehme? Du dummer Junge!«

»Ich bin kein Junge.«

»So mein ich es nicht.« Sie richtete sich auf, berührte seine Schulter und ließ sich wieder zurücksinken. Er wurde rot vor Wonne, und vor Angst, daß jemand es gesehen haben könnte; sie sprach weiter: »Wenn ich an dich denke, stell ich mir dich immer genau so alt vor, wie ich bin. Und das wird auch immer so bleiben, nicht wahr?«

»Ja!«

»Stille Post!« rief Howard Griffin ins Zimmer. »Los! Wir sind alle wieder ganz klein und spielen Stille Post. Wer ist das erste Mädel, das einen Kuß kriegen will?«

»So eine Idee«, kicherte Adelaide Benner.

»Ich fang bei Adelaide an!« brüllte Joe Jordan.

»Oh, Jo–oe, wetten, ich küß Gertie!« kam es von Irving Lamb.

Alle beugten sich auf ihren Plätzen vor und lachten, bis Carl ganz wütend wurde und sich fragte: »Sind die Kerle denn ganz blöd geworden?«

Mit einer derartigen Selbstverständlichkeit davon zu sprechen, daß man Gertie küssen könnte! Er starrte die zarte Rundung ihrer linken Wange unter dem Backenknochen an, bis sie etwas durchaus Selbständiges wurde und mit ihrer weißen Weichheit das ganze Zimmer ausfüllte.

Als man zehn Minuten lang Stille Post gespielt hatte, sah er sich Gertie im Halbdunkel des Wohnzimmers gegenüber, vom Spiel dazu ermächtigt, sie zu küssen.

Sie nahm ihn bei der Hand und fragte leise: »Wirst du mich ganz fürchterlich küssen?«

Er versuchte liebenswürdig zu scherzen: »O ja! Sicher! Ich werd dich lebendig auffressen.«

Sie wartete.

Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie ihn nicht an der Hand gehalten hätte. In seinem Innern stöhnte er: »Heiliger Strohsack! Mir ist ganz blödsinnig!« Dann krächzte er: »Geht's dir schon besser? Du wirst dich hier nur noch mehr erkälten, nicht? Es zieht ein bißchen. Ich werd mir mal das Fenster ansehn.«

Als er an dem selbstverständlich dicht verschlossenen Fenster stand, fuhr er unendlich sorgfältig mit dem Finger über den Rahmen. In einer Sekunde, jetzt mußte er sich umdrehen und ein leichtfertiges Spiel mit den Lippen treiben, die er kaum mit gewichtigen und langen Zeremonien zu berühren gewagt hätte.

Gertie warf sich in einen Sessel und lachte: »Mir scheint, du hast Angst davor, mich zu küssen! Angsthase! Du wirst nie ein großer Damenritter werden wie die Schauspieler! Das paßt ja zu dir!«

»Ich hab keine Angst«, piepste er … Sogar sein vielgerühmter Halbbaß hatte ihn im Stich gelassen. Er lief zur Lehne ihres Sessels und beugte sich verwirrt, entschlossen, darüber. Hastig küßte er sie. Der Kuß landete auf der Spitze ihrer kalten Nase. Und da kamen auch schon alle rufend hereingelaufen.

»Die Zeit ist um! Den ganzen Abend kannst du nicht mit ihr rumpoussieren!«

»Hast du gesehn? Er hat sie auf die Nase geküßt!«

»Ja? Hohhhhh!«

»Die Zeit ist um. Noch einmal gibts nicht.«

Vor allen andern tanzte Joe wie irrsinnig herum und drohte Carl mit dem Finger.

Die aufgeregte Schar stürmte, Gertie und Carl in die Mitte nehmend, wieder hinaus. Um zu zeigen, daß er sich aus dem Zwischenfall mit dem daneben gegangenen Kuß nichts machte, mußte Carl in der Bibliothek einige Minuten sehr laut und lustig sein. Als jedoch die Stille Post aus war und Mrs. Cowles Ray bat, er solle die Lampe im Wohnzimmer dunkler schrauben, erklärte Carl: »Ich werd es machen, Mrs. Cowles; ich habs näher als Ray«, und sprang davon.

In dem still gewordenen Wohnzimmer stürzte er zu dem Sessel, in dem Gertie gesessen hatte, und küßte schuldbewußt die Lehne. Dann ging er auf Zehenspitzen zum Tisch, blies die Lampe aus, dachte daran, daß er nur den Docht niedriger schrauben sollte, wollte den Zylinder herunternehmen, verbrannte sich die Finger, griff nach seinem Taschentuch, ließ es fallen, ächzte, hob es wieder auf, nahm den Zylinder herunter, legte ihn auf den Tisch, suchte in seinen Taschen nach einem Streichholz, fand eines, ließ es fallen, hob es vom Boden auf, verlor beim Bücken sein Messer aus der Tasche, hatte ein komisches Gefühl an der Kopfhaut, hob das Messer auf, zündete die Lampe wieder an, brachte den Zylinder wieder sorgfältig an Ort und Stelle – und blies die Flamme zum zweiten Mal aus. Und fluchte.

Als das Zimmer sich wieder mit Dunkelheit füllte, kam die Vision Gertie näher. Dann begriff er seinen Zustand und keuchte: »Großer Heiliger Bimbam über allen Wolken! Mir scheint – ich – bin – verliebt! Ich

Die Gesellschaft war im Aufbruch begriffen. Jeder Junge, der ein Mädchen aus dem behaglich gelben Lampenlicht in den Frost hinausbrachte, lärmte und scharrte im Schnee, um zu zeigen, daß seine Aufmerksamkeit nichts Ernsthaftes bedeutete, und versuchte, augenblicklich sein Mädchen aus der Nähe der andern fortzuschaffen. Mrs. Cowles stand in der Diele – die Gäste nicht verscheuchend, wohlgemerkt, aber durchaus darauf vorbereitet, sich in jeden Abschied zu fügen – als Gertie, die mit sanften Bewegungen und leisen vergnügten Tönen unter den andern umherging, Carl in eine Ecke manövrierte und fragte:

»Bringst du jemanden nach Hause? Mich armes Ding wirst du jetzt wohl ganz vergessen!«

»Keine Rede!«

»Ich wollte dir noch sagen, was Ray und Griffin von Plato erzählt haben, und wie's ist, wenn man Jurist wird. Ist es nicht nett, daß du sie kennen wirst, wenn du nach Plato kommst?«

»Ja, das wird fein sein.«

»Mr. Griffin will Jurist werden, und Ray vielleicht auch. Und warum solltest du's nicht auch versuchen? Du kannst erreichen, daß du Richter wirst und alle wirklich guten Leute kennen lernst. Das wäre reizend … Kultivierende Einflüsse – sie – das – –«

»Ich könnt nie ein erstklassiger Jurist werden wie Griffin«, sagte Carl, den Kopf zur Seite legend, sehr geschmeichelt.

»Natürlich kannst du's, du dummer Junge. Und ich finde, du hast ganz genau so viel Verstand wie er, und sogar in Plato, sagt Ray, bewundern ihn alle … Howard – Mr. Griffin – er sagt, er wäre nie darauf gekommen, Rechtsanwalt zu werden, aber ein Mädel hat einen so guten Einfluß auf ihn ausgeübt, und wenn du auch einmal ein berühmter Mann wirst, vielleicht hab ich dann auch ein ganz klein bißchen Einfluß auf dich ausgeübt, meinst du nicht?«

»O ja!«

»Jetzt muß ich zurück und meinen Gästen Adieu sagen. Gute Nacht, Carl.«

»Ich werd studieren – paß nur auf; und wenn ich nach Plato komm – – Ach herrjeh! Du hast immer einen so guten Einfluß auf mich – –!« Er merkte, daß sie von Adelaide Benner beobachtet wurden. »Na, ich muß gehn. Ich hab mich blendend unterhalten. Gute Nacht.«

Adelaide Benner wartete hoffnungsvoll darauf, daß einer der Jungen sie nach Hause bringe, aber Carl schlich sich schuldbewußt zu Ben Rusk und ordnete an:

»Hauen wir ab, Fatty. Machen wir einen Spaziergang. Ich hab dir was Großartiges zu erzählen.«

 

Carl wirbelte mit den Füßen Schneewölkchen auf, die im Mondschein glitzerten. Der See dröhnte. Trotz ihren wollenen Fäustlingen, gestrickten Pulswärmern und Plüschmützen mit Ohrenschützern froren sie erbärmlich. Carl verlockte Ben zu Gesprächen über Gertie und die Wonnen langer und hoffnungsloser Liebe. Er entdeckte, daß Ben sich tatsächlich plötzlich in Adelaide Benner verliebt hatte. »Herrjeh!« jubelte er bei sich. »Vielleicht hab ich jetzt Aussichten bei Gertie. Aber ich werd ihr nichts davon verraten, daß Ben nicht mehr in sie verliebt ist. Herrjesus! Es ist doch ein Mordsglück, daß ich Gertie grade in dem Augenblick gefalle, wo sich Ben in eine andere verliebt hat! Komisch, wie so was kommt; und dabei hat sie nie was von Ben gewußt.« Er deckte seine Karten auf. Während sie über die hartgefrorenen Schneeverwehungen stapften und die Arme schwangen wie Kutscher, platzte er mit seinem ganzen Geheimnis heraus: Gertie sei das »fabelhafteste Mädel in der Stadt«; niemand wisse sie richtig zu schätzen.

»Ho ho!« höhnte Ben.

»Ich hab gemeint, du bist ganz verrückt wegen ihr, und dann fängst du an, dich über sie lustig zu machen! Ein paar feine Kavaliere seid ihr, du und dein Galahad! Du – –«

»Sag nichts über Galahad, oder du kriegsts mit mir zu tun!«

»Der war schon tadellos, aber du bists nicht«, sagte Carl. »Du dürftest überhaupt nie Witze über Liebe machen.«

»Aber du hast doch selber noch heute nachmittag gesagt – –«

»Du armseliges Rindvieh, da hab ich dich doch nur aufgezogen. Nein; wegen Gertie. Die Sache ist die: sie hat mir eine ganze Menge davon erzählt, daß Griffin Anwalt wird und wieviel die Leute in den Großstädten verdienen, und ich bin ziemlich fest entschlossen, ich werd Rechtsanwalt.«

»Ich hab gedacht, du willst Ingenieur werden?«

»Na, darf man sich sowas vielleicht nicht überlegen? Wenn du Ingenieur bist, jagst du immer im Land rum und kannst nie ordentlich rasiert sein und nichts, und du hast gar keine kultivierenden Einflüsse – –«

Das überwältigende Spiel »Was sollen wir werden?« ließ die beiden den Schnee und ihre von der Kälte klamm gewordenen Finger vergessen. Ben, wurde beschlossen, sollte Zeitungsbesitzer werden und den Attorney-at-Law C. Ericson bei seinen aufregenden Bemühungen, die Würde eines Staatssenators zu ergattern, unterstützen.

Den Namen Gertie sprach Carl nicht mehr aus. Aber alles, was geredet wurde, bedeutete Gertie.

 

Als Carl am nächsten Tage seine Bogenlampenrunde machte, schien er dem Äußeren nach ein junger Mensch von robuster Gesundheit zu sein, aber in Wirklichkeit war er ein sich in Liebe verzehrender und unverstandener Träumer. Er hatte eine gute Ausrede für einen Mittagsbesuch bei Gertie gefunden, dort aber die Auskunft bekommen, daß Miss Gertrude ein Schläfchen mache. Er beschloß, zum See zu gehen und nach Kaninchen Ausschau zu halten. Ob er jemals zurückkehren würde, bezweifelte er, und gleichzeitig fragte er sich, ob man ihn vermissen würde. Wem konnte etwas daran liegen, wenn er erfror? Ihm sicherlich nicht! (Immerhin traf er einige Vorsichtsmaßregeln, er zog sich eine Überjacke, zwei Hosen, zwei Paar Socken und Mocassins an.)

Mit der Anmut eines Indianers glitt er auf seinen selbstgefertigten Skiern über die weiten Schneeflächen hin, die den See zudeckten und in dem diffusen Licht des gleichmäßig grauen Himmels funkelten. Das Röhricht am sumpfigen Ufer glitzerte im Frost und klirrte leise. Die morastigen Inseln lagen tief unter dem Schnee. Hügelchen, Eisgeschiebe, durcheinander laufende Nerzfährten – alles verschmolz zu einer einzigen weißen Unendlichkeit, in der Carl sich ausnahm wie eine Fliege auf einer getünchten Decke. Unermeßliche Verlassenheit lag über der Welt. Doch Carl fühlte sich nicht einsam. Er vergaß Gertie ganz, sobald er seine Skier am Ufer versteckte und durch die Wälder stapfte, auf Reisighäuflein sprang und rasch schoß, wenn ein Kaninchen aus seinem Bau hervorflitzte.

Als er drei Kaninchen in der Tasche hatte, überfiel ihn die Melancholie der Einsamkeit, bedrängte ihn plötzlich die Vorstellung der in Silber gekleideten Gertie. Er hatte das Verlangen zu sprechen. Bone Stillman fiel ihm ein.

Es war sehr wahrscheinlich, daß Bone, wie meistens im Winter, sich oben jenseits der Großen Krümmung aufhielt und mit Kreuzstäbchen nach Hechtbarschen angelte. Die Uferstelle mußte etwa drei Meilen entfernt sein. Carl machte sich auf den Weg und eilte durch die Dämmerung, einem Pünktchen gleichend, das sich unaufhaltsam vorwärts bewegt.

Der Kreuzstäbchen-Fischer beobachtet ein Dutzend Kreuzstäbchen – kurze, bewegliche Angelruten, deren Leinen unter dem Eis durchlaufen; der angezapfte Kreuzarm signalisiert das Anbeißen eines Fisches. Manchmal bringt er sich eine kleine Hütte mit; sie mißt etwa eineinhalb mal eindreiviertel Meter und wird von einem winzigen Öfchen geheizt. Bone Stillman verbrachte die Nacht oft in seinem transportablen Häuschen auf dem See, was die allgemeine Überzeugung, er sei der Dorfsonderling, nur noch bestärkte. Aber bei den Lebemännern der Gegend, die dahinter gekommen waren, daß er ein göttliches Poker spielte, erfreute er sich bereits größerer Beliebtheit.

»Hallo, Söhnchen«, begrüßte er Carl. »Komm rein. Deine langen Füße da laß aber draußen am Ufer, drin ist kein Platz dafür.«

»Hör mal, Bone, meinst du, daß man überhaupt mal in einen Kirchenverband eintreten soll?«

»Kommt drauf an. Warum?«

»Na, angenommen, man will Jurist werden und in Politik machen?«

»Du, paß mal auf. Wieso kommst du darauf, daß du Jurist werden willst?«

»Ich hab doch nicht gesagt, daß ich dran denk.«

»Natürlich denkst du dran. Paß mal auf. Weißt du nicht, daß du ne Möglichkeit hast, die Welt zu sehn? Du gehörst zu den glücklichen Menschen, die den Trieb zum Rumzigeunern haben können, ohne daß sie deshalb vor die Hunde gehn, wie ich. Du kannst, du kannst wirklich in Gedanken genau so gut wandern wie in Güterwagen reisen und für die Welt was entdecken. Aber n Jurist – – Das sind Pfaffen. Die bestimmen, was heilig ist, und strafen einen, wenn mans nicht richtig errät. Sie stellen Gesetze auf, die ohne Juristen nicht ausgelegt werden können, und sorgen so dafür, daß sie nicht aussterben. Ich will gar nicht sagen, es ist was Außerordentliches, daß du kein Stubenhocker bist. Bild dir bloß nichts drauf ein. Du bist ein ganz normaler junger Amerikaner. Von der Sorte gibts mehr als genug. Nur, meistens bleiben sie an irgend was hängen, bevor sie kapiert haben, wie groß die Welt ist, in der man rumvagabundieren kann, und davor will ich dich bewahren. Ich will mich nicht lustig machen über die Juristen – – Doch, ich will mich über sie lustig machen. Sie leben in Kalbslederbänden. Junge, Junge, sei um Gottes Willen lebendig im Leben.«

»Ja, aber paß mal auf, Bone; ich hab bloß drüber nachgedacht, das ist alles. Du bläust mir immer ein, ich soll nichts für selbstverständlich halten. Na, auf jeden Fall, sobald ich nach Plato geh, werd ich wissen – –«

»Willst du sagen, daß du auf diese gottverlassene Eintrichteranstalt gehen willst? Auf diese Mißgeburt von Universität? Willst du dein ganzes Leben lang Dame spielen?«

»Ach, ich weiß noch gar nicht recht, Bone. Plato ist doch nicht so schlimm. Man muß doch schließlich wohin gehen, wo man unter Leute kommen kann, die wissen, was sich schickt. Kultivierende Einflüsse und so.«

»Was sich schickt! Kultivierend! Junge, Junge, kriegt dich Joralemon in die Klauen? Wenn du das haben willst, was die Franzosen den großen Lebensstil nennen, wenn du ein tiptopper, eins A, original echter, großer feiner Herr werden willst, na schön, los damit; das ist auch ne Möglichkeit, n großes Spiel zu spielen. Aber wenns nichts weiter ist wie son muffiger Süßwasser-Nähzirkel wie das Plato College, wo du bei nem nachgemachten Gelehrten nachgemachte Übersetzungen von überflüssigen Klassikern und bei Weibern mit großen Füßen nachgemachte feine Manieren lernst, mit denen du dich in den wirklichen Salons genau so idiotisch blamieren würdest wie in nem Holzfällerlager, ja – – Ah, so–o–o–o! Jetzt kapier ich; Mädels, was? In was fürn Mädel hast du dich denn verknallt, von wem hast du die Schnapsidee mit Plato?«

»Ach, ich bin nicht verliebt, Bone.«

»Nö, ich glaub auch gar nicht, daß dus bist. In deinem Alter ist die Wahrscheinlichkeit, daß du verliebt bist, genau so groß wie die, daß du Großvater bist. Aber ich weiß nicht, irgendwie hab ich den ganz kleinen komischen Verdacht, daß du glaubst, du bist verliebt. Aber das geht mich ja einen großen Dreck an, und ich werd dich darüber nicht ausfragen.« Er klopfte Carl auf die Schulter, was in dem kleinen, dunklen Raum etwas schwierig war. »Jungchen, eins hab ich in meinem Leben gelernt – und um draufzukommen, hab ich allerhand in mich hineingefressen, auch wenn ich nicht viel Bücher studiert hab und mir nicht einbilde, daß ich n Mensch bin, der alles aus seiner Erfahrung erklären kann. Das ist ne Sache, mit der ich nicht ganz fertig werden kann, weils bei mir nicht dazu reicht, aber trotzdem weiß ich ganz genau, daß es so ist. Wenn du nicht n Ziel hast, das so groß ist, daß du's nie ganz einfangen kannst, ist das Leben nichts weiter als ne blödsinnige Partie Dame, die jede Kuh im Dorfkramladen spielen kann. Du mußt wissen, daß vor dir was ist, was größer und schöner ist als alles, was du schon mal gesehn hast, und darfst nie aufhören, bevor – also, bevor du den Weg überhaupt nicht mehr gehn kannst. Und jede Sache und jeder Mensch, der keine Überraschungen – kapierst du das? – Überraschungen für dich mitbringt, ist tot, und sowas mußt du abwerfen wie ne Schlange ihre alte Haut. Du mußt immer dran denken, daß hinter Joralemon Chicago ist, und hinter Chicago Paris, und hinter Paris – na ja, vielleicht ist dann noch irgend n großer Berg im Himalaja da.«

Stundenlang redeten sie, bemühte sich Bone verzweifelt, seine Träume Carl – und sich selbst – klar zu machen. Sie aßen Fisch, den sie auf dem Öfchen brieten, und tranken dazu lauwarmen Kaffee. Sie vertraten sich in der klingenden Kälte vor der Hütte die steifen Beine. Bones nebelhafte Reden zauberten Carl eine Welt unsäglicher Freiheit und Schönheit vor. Doch er war melancholisch. Denn er stand im Begriff, für Gertie Cowles auf sein Bürgerrecht im Wunderland zu verzichten.


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