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Siebenunddreißigstes Kapitel

Die kurze Reise in die Berkshire Berge dauerte unfaßbar lange. Aber auch sie näherte sich schließlich ihrem Ende, und im letzten Augenblick machte er eine furchtbare Entdeckung. In wenigen Minuten würde er Ruth sehn, und jetzt wußte er nicht einmal genau, ob er sie gern hatte.

Er konnte sie sich nicht vorstellen. Den Ärmel ihrer blauen Jacke konnte er sehn, aber ihre Augen nicht. Sie war eine Fremde. Hatte er sie idealisiert? Er hatte Schuldgefühle bei diesem keineswegs schmeichelhaften Zweifel, aber was für ein Mensch war sie denn eigentlich?

Der Zug fuhr in die Station ein und hielt mit ratternden Fenstern und verzweifeltem Räderknirschen. Carl nahm seine beiden leichten Gepäckstücke in gespielter Begeisterung aus dem Netz. Entsetzen hatte ihn gepackt. Als er aus dem schützenden, unpersönlichen Zug auf den Bahnsteig trat, sah er sie.

Sie winkte ihm von einem leichten Wägelchen zu, war ihn allein abholen gekommen … Während er über den Bahnsteig ging, dachte er jubelnd: »Sie ist wunderbar. Ob ich sie liebe? Das will ich meinen!«

Während sie unter den Ulmen, an weißen Landhäusern vorüber, über die Straße fuhren, während sie sich über gleichgültige Dinge unterhielten, lernte Carl sie von neuem kennen. Sie hatte eine tiefausgeschnittene Bluse und einen weißen Leinenrock an. Ihr schönes Lachen machte ihm Freude; die blauen Augen, darüber die dunklen Brauen unter dem Panamahut; ihr volles dunkles Haar, von der Sonne ein wenig ausgebleicht; ihr nackter Hals, knabenhaft braun, mädchenhaft glatt; die eine Hand hielt fest den Peitschengriff … »Ob ich sie liebe? Das – will – ich – meinen!«

Sie hatten die Ortschaft hinter sich gelassen, fuhren eine kleine Anhöhe empor und bogen dann in einen schmalen Sandweg ab. Neben ihnen floß ein Bach. Sonnenbeschienene Felder wechselten mit kleinen Laubwäldchen ab.

»So viel schönes Land, und die Menschen drängen sich in Untergrundbahnen zusammen«, seufzte Carl.

Sie schwatzten über die Kerrs und über die Berkshires; über den Unterschied zwischen dem professionellen englischen Weekender und dem Amerikaner, der sich noch immer etwas von der naiven Provinzfreude des Besuchemachens bewahrt hat; über New York und die Dunleavys. Aber bald wurde aus ihrem Gespräch ein aufgeregtes Schweigen. Ihm schien, eine gewaltige Stimme aus den Wolken rufe ihm zu: »Du sitzt neben Ruth; was du da spürst, ist Ruths Arm!« Schweigend nahm er ihre linke Hand in seine.

Als er langsam ihre Hand mit dem Zügel nach hinten zog, um das Pferd zum Stehn zu bringen, starrten die beiden Kinder einander hungrig und voll Entsetzen an. Ihr Kuß – nicht nur ihre Lippen, ihre Seelen vereinigten sich rückhaltlos. Ein heftiger langer Kuß, als preßten sie ihre Lippen aufeinander, bis sie eine einzige lodernde Flamme waren. Ein Kuß, in dem seine Augen nichts sahen, seine Ohren nichts hörten. Alle seine Sinne waren auf die nahe Wärme ihrer feuchten Lippen konzentriert, auf die weiche Linie ihrer jungen Schulter, ihre weibliche Süße und Sehnsucht. Dann vergaßen seine Sinne sogar ihre Lippen, und er wußte überhaupt nichts mehr. Es war der frömmste, der heiligste Augenblick seines Lebens.

Als er ihrer Lippen und Wangen, ihrer ganzen Person wieder bewußt wurde, löste sich langsam der Zauber des Kusses. Aber wieder und wieder küßte er sie, hastig, wild, bis sie rief:

»Jetzt weiß ich es! Ich liebe dich!«

Schweigend blickte sie in den Wald, während ihre Finger seine Knöchel streichelten. Ihre Augen waren feucht verschleiert.

»Daß ein Kuß so sein kann, wußte ich nicht«, sagte sie verwundert. »Ich hätte nie gedacht, daß die egoistische Ruth sich so ganz aufgeben kann.«

»Ja! Es war die ganze Welt.«

»Falke, Lieber, diesmal habe ich nicht experimentiert. Ich bin so froh, so froh! Ich weiß, daß ich wirklich lieben kann, daß es nicht bloß Neugier ist! … Ich habe mich schon den ganzen Tag so nach dir gesehnt. Ich dachte, es will gar nicht vier Uhr werden – und ach, Liebling, lieber, lieber Falke, ich wußte nicht einmal sicher, ob ich dich gern haben werde, wenn du kommst! Manchmal sehnte ich mich schrecklich nach deinem dummen kindischen blonden Haar – dieses Haar! Mädchenhaar! – aber manchmal wieder wollte ich dich überhaupt nicht sehn und hatte Angst, wenn ich an dein Kommen dachte, und schusselte im Haus herum, bis Mrs. Patt mich auslachte und sagte, ich wäre verliebt, und ich leugnete es – und sie hatte ja doch recht.«

»Ach Kind, den ganzen Weg hierher hatte ich eine Heidenangst. Ich dachte, so wunderbar, wie du in meinen Gedanken warst, könntest du gar nicht sein. Das klingt etwas verdreht, aber – – Ach, Kind, Kind, liebst du mich wirklich? Hast du mich wirklich lieb? Es ist so schwer zu glauben, daß du das wirklich gesagt hast. Und ich liebe dich doch so.«

»Ich liebe dich! … Da ist eine reizende Stelle zum Küssen, gleich da unter deinem Ohr«, sagte sie. »Liebling, halt mich fest in dem kleinen Haus deiner Arme, wo nur für dich und mich Platz ist, kein Platz für ein Bureau und eine Tante Emma! Aber nicht jetzt, wir müssen uns beeilen. Wenn ein Wagen auf der Straße gekommen wäre – –!«

Als sie auf die von Rhododendron eingefaßte Einfahrt der Kerrs kamen, fiel Carl eine Kleinigkeit ein, die nicht wichtig, aber herkömmlich war. »Ach ja«, sagte er, »ich habe vergessen, um dich anzuhalten.«

»Mußt du das? Anhalten, das klingt so langweilig formell. Sieh mal! Dort winkt uns Pat Kerr jr. zu. Da oben, auf dem Balkon. Er ist ein ganz reizendes Kind mit seinem aschblonden Haar. Hast du mit deinem hellen Haar als Kind nicht so ähnlich ausgesehn?«

»Gar keine Spur. Ich war meistens schmutzig. Und hab immer Krach gemacht … Herrgott! ist das schön hier. Und das Haus sieht nett aus … Wirst du mich heiraten?«

»Ja! … Es ist wirklich nett hier. Mrs. Pat ist – –«

»Wann?«

»– immer damit beschäftigt; sie pflanzt Narzissen und Krokus im Wald, so daß sie hier schon wild wachsen.«

»Diese Markisen gefallen mir. Vor den weißen Wänden … Ich darf also annehmen, daß wir verlobt sind, Miss Winslow – richtiggehend verlobt?«

»Ach nein, nein, nicht verlobt, mein Lieber. Weißt du denn nicht, daß es zu meinen Prinzipien gehört – –«

»Aber sieh mal – –«

»– nicht verlobt zu sein, Falke? Wenn man verlobt ist, holen alle Leute die ältesten eingemotteten Witze heraus. Ich werde dich heiraten, aber – –«

»Im nächsten Monat heiraten – im August?«

»Nein.«

»September?«

»Nein.«

»Bitte, Ruthie, ach ja, September. Netter Monat, der September. Herbst. Erntemond. Und Äpfel zum Klauen. Sag schon ja. September.«

»Also schön, vielleicht September. Wir werden sehn. Ach Falke, kannst du begreifen, daß wir wirklich hier sitzen und feierlich von Heiraten sprechen? Wir, die Kindlein im Walde? Und dabei ist mir, als würde ich dich erst seit drei Tagen kennen … Also, wie ich gesagt habe, vielleicht heirate ich dich im September. (Eigentlich ein schrecklicher Gedanke; es erschreckt mich und macht mich ganz beklommen, und gleichzeitig finde ich es maßlos komisch.) Das heißt, ich werde dich heiraten, wenn du nicht anfängst, perlgraue Hüte oder weiße Schleifen mit schwarzer Kante zum Frack zu tragen, oder Mason in einem Duell tötest oder etwas anderes Schändliches tust. Aber verlobt will ich nicht sein. Und das Geld für den Brillantring werden wir in einer riesigen Couch anlegen. Werden wir schrecklich arm sein?«

»Ach, nicht so arm, daß wir immer aufs Versatzamt laufen müssen. Ich hab in der vorigen Woche VanZile dazu gebracht, daß er mir mein Gehalt erhöht, und mit meiner Dividende vom Touricar hab ich etwas mehr als viertausend Dollar im Jahr.«

»Ist das viel oder wenig?«

»Na, damit werden wir uns wohl eine anständige Wohnung und beinah ein anständiges Mädchen leisten können. Und wenn der Touricar sich weiter macht, können wir, vielleicht in drei oder vier Jahren, durchbrennen und auf die Wanderschaft gehen.«

»Hoffentlich. Wir sind da! Dort erwartet uns Mrs. Pat.«

Auf der Terrasse stand eine etwa fünfunddreißigjährige Frau mit klugem, aber ein wenig müdem Gesicht, in weißer Bluse und fußfreiem Tweedrock, und begrüßte Carl mit ausgestreckter Hand: »Es ist wirklich sehr lieb von Ihnen, daß Sie zu uns in unsere Wildnis herauskommen.« Sie wurde sofort unterbrochen durch das lärmende Erscheinen eines untersetzten, hübschen vierzigjährigen Mannes mit schwarzem krausen Haar, in Reithosen, Stiefeln und Seidenhemd; mit ihm kam ein aufgeregter kleiner Junge in Spielhosen – Patton Kerr, sen. und jr.

»Da sind Sie ja!« bemerkte Senior höchst klug. »Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ihr beide habt aber verflixt lange hier herauf gebraucht. Habt euch auf der Straße wohl an den Händen gehalten? Ja, diese Flieger!«

»Pat!«

»Biest!«

– protestierten Mrs. Kerr und Ruth gleichzeitig.

»Schon recht. Werd schon brav sein. Ich hab Sie einmal am Nassau Boulevard fliegen sehn, Ericson. Damals hab ich meine Hupe runtergenommen und einen Klamauk gemacht, bis alle gemeint haben, ich bin eine Sufragette wie Ruthie da. Himmel! War das ein Fliegen! Ich würde gern mal einen Wettflug zwischen Ihnen und Weymann oder Vedrines sehen … Ruthie, willst du Mr. Ericson zeigen, wo sein Zimmer ist, oder muß der arme alte Pat ein Dienstmädel aus seiner Zeitungslektüre reißen?«

»Ich gehe schon, Pat«, sagte Ruth.

»Laß mich gehn, Papa«, rief Pat jr.

»Nein, mein Sohn, das wird wohl besser Ruthie machen. Ich sehe einen Blick in ihren Augen – –«

»Basilisk!«

»Salamander!«

Ruth und Carl gingen durch die große Diele mit den Mahagonitischen, mit den Bildnissen der Kerrs und dem Säbel des Obersten Patton. Am andern Ende war eine offene Tür, die in einen alten Garten führte. Als sie die gewundene Treppe hinaufstiegen, schob Ruth ihren Arm in seinen und sagte:

»Jetzt siehst du, warum ich nicht verlobt sein will. Pat Kerr ist der beste Kerl, den es auf der ganzen Welt gibt, aber er findet eben jede Verlobung ausgesprochen komisch – genau so wie Schwiegermütter oder Dichter.«

»Aber hör mal Ruth, du wirst mich doch heiraten?«

»Du Kindskopf! Mein kleiner Falke, natürlich werde ich dich heiraten. Glaubst du, ich will mir die Hütte in den Rockies entgehn lassen?« Sie öffnete die Tür zu seinem Zimmer und sagte mit einem tiefen Knix: »Euer Gemach, Mylord! … Komm rasch wieder hinunter. Wir dürfen in diesen Tagen keinen Augenblick versäumen.« Bevor er etwas antworten konnte, war sie fortgelaufen.

 

Am Sonnabend ließen sie sich beim Frühstück lange Zeit und fuhren mit den Kerrs im Automobil nach Lennox, von wo sie erst in der Dämmerung zurückkehrten. Dann sprachen sie bis zwölf Uhr nachts auf der Terrasse.

Am nächsten Nachmittag machten sie einen Ausflug auf Fahrrädern durch den Wald. Der Flieger und das Mädchen, das psychologische Werke las, die modernen Liebenden, standen Hand in Hand, als wäre das Maschinenzeitalter eine Sage, als wäre er ein schmachtender Troubadour und sie eine Schäferin. Um sie war der Duft der Fichten und das Summen der Bienen.

Am Montag nachmittag, als die Kerrs sich zu einem Schläfchen zurückgezogen hatten, saß Carl mit Ruth im schattigen Garten. Aber auch dort war die Hitze fast unerträglich.

»Ich würde gern schwimmen gehn«, sagte er. »Könnten wir nicht mit den Rädern zum Teich hinunter fahren, oder vielleicht mit dem Ford?«

»Gut. Aber es ist kein Badehaus da.«

»Zieh dir einen Schwimmanzug unter dem Kleid an. In der Sonne wird er ja sofort wieder trocken.«

»Wie Ihr befehlt, mein hoher Herr.«

Sie fuhren zu dem Teich hinunter, der die Größe eines Sees hatte. Die Wasserfläche war ganz still und ungekräuselt; auf dem Grund konnte man jeden Kieselstein sehen.

»Sehr ähnlich wie die Minnesota-Seen, nur kleiner«, sagte Carl. »Ich geh gleich hinein. Was ist mit dir? Komm.«

»Ich habe Angst!« Sie hockte sich mit einemmal auf die Erde und zog das Kleid um die Füße zusammen.

»Aber Kind, wovor hast du denn Angst? Es sind doch keine Haifische da, und keine Unterströmung. Netter weißer Sand – –«

»Ach Falke, ich war dumm. Ich habe mich für eine ganz unabhängige moderne Frau gehalten, und jetzt merke ich, daß ich es gar nicht bin. Ich habe immer behauptet, es ist eine Dummheit, wenn Mädchen in ihren umständlichen Schwimmanzügen baden gehn. Die Röcke stören so. Deshalb habe ich mir einen Jungensanzug genommen – und – und jetzt ist es mir furchtbar peinlich.«

»Aber Kind – – Na ja, du wirst selbst wissen müssen, was du tun willst.« Seine Stimme klang etwas unsicher. »Große Angst vor Carl?«

»Ja! Ich dachte, ich würde keine haben, aber jetzt trau ich mich eben doch nicht.«

»Na ja. Ich weiß nicht. Natürlich – – Also, ich geh rein, und du kannst dann ja tun, was du willst.«

Er warf rasch die Kleider ab und war auch schon im Wasser und schwamm hinaus.

Als er sich umdrehte und zurücksah, sah er sie auf dem hellen Sand stehen. Rock und Bluse lagen zu ihren Füßen. Sie rief ihm zu: »Schau nicht her!«

Gehorsam plantschte er herum, bis er ihr Plätschern hinter sich hörte; dann schwammen sie nebeneinander hinüber zu dem schattigen Ufer auf der anderen Seite.

Als sie wieder zurück waren, nahm Ruth ihre Matrosenbluse um, und bald hockten sie wie Kinder am Strand, während auf einer Wiese in der Nähe eine Grille ihr Augustlied fiedelte. Verträumt bauten sie eine Sandburg. Die Stunde war so schön, daß das Herz melancholisch wurde. Als er seufzte: »Es wird spät; komm, mein Kind, jetzt sind wir trocken«, da schien es, als könnten sie nie wieder eine so verzauberte stille Stunde erleben.

Und doch kam noch eine. Denn am Abend, als sie auf der Terrasse standen und zu vergessen suchten, daß er am nächsten Tag wieder in die Stadt zurück müsse, als der Nebel seine kalten Fangarme aus dem Tal emporreckte, küßten sie einander scheu zum Abschied, und da wußte Carl, daß das wahre Abenteuer des Lebens nicht das Abenteuern ist, sondern das Finden eines Gefährten, mit dem man sich daran machen kann, den Sinn des Lebens zu ergründen.


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