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Siebzehntes Kapitel

Das Milieu, in dem Carmeau einige der besten Eindeckerpiloten Amerikas ausbildete, war recht primitiv. In zwei kunstlosen Hangarschuppen standen die drei importierten Blériots – ein einsitziges Sportflugzeug letzten Typs, ein Blériot XII für Passagierflüge, mit dem Sitz unter der Tragfläche, und »P'tite Marie«, der Schulapparat; für gewöhnlich wurde »P'tite Marie« auf vier- bis fünfhundert Touren abgedrosselt, aber Carmeau machte in ihr die großartigsten Flüge – einen davon hatte Carl bei seinem ersten Besuch auf dem Flugplatz gesehen. Hinter den Hangars stand die Werkstatt, in welcher die Schüler an zwei Apparaten Modell Blériot arbeiteten und einen Achtzylinder-V-Motor zu bauen versuchten. All dies stellte Bagby für die gute Sache zur Verfügung, ohne dabei einen Profit für sich zu erhoffen. Er war einer von den wirklichen Märtyrern der Aviatik – dieser verbrauchte, alt gewordene Mann, der niemals die Freuden der Luftfahrt kennen lernte und dennoch alles, was er an Kräften und Fähigkeiten besaß, darauf verwandte, um mitzuarbeiten und mitzuhelfen, daß der Mensch die Schwingen entfalte und zum Übermenschen werde.

Auf die Wohnquartiere erstreckte sich seine Freigebigkeit jedoch nicht. Die meisten Schüler wohnten in den Flugzeugschuppen und nährten sich von belegten Broten und Spiegeleiern, die ihnen ein in der Nähe des Flugfeldes stationierter Imbißwagen lieferte. Dieser Imbißwagen war ihr Klub. Hier traktierten sie einander, auf hohen Stühlen hockend, mit Ingwerbier und debattierten über Verwindungsmomente, Einfallswinkel und die Frage: Eindecker oder Zweidecker. Abgesehen von zwei nicht sehr beliebten Aristokraten, die im Flecken San Mateo abgestiegen waren, schliefen sie, mit ihren Arbeitsanzügen bekleidet, in den Hangars auf Matratzen, über welche Pferdedecken gebreitet waren. Zu Bett ging man um halb neun. Um vier oder fünf Uhr morgens pflegte Carmeau herauszukriechen, sich den Bart zu kratzen und einen Motor laufen zu lassen, bis alle Hunde in der Nachbarschaft heulten. Die ersten Flüge begannen, bei klarem Wetter, in der Morgendämmerung. Um acht Uhr, wenn der Wind aufkam, hörte man die Schüler singend und lachend voll Eifer in der Werkstatt arbeiten: sie adjustierten und regulierten, montierten Lager ab, stellten Festigkeitsproben mit Tragflächen an; es war ein Leben, das sich aus Benzingerüchen, lärmenden Hammerschlägen und angestrengten Bemühungen, exakte Gleichgewichtsbedingungen zu erzielen, zusammensetzte; ein glückliches Leben guter Kameradschaft, technischer Leistungen und mühsamer Vorbereitungen zur Eroberung der Luft; ein Leben höchst gewöhnlicher Maschinenarbeit und reinster Romantik.

Es ist ein betrüblicher Irrglaube, daß die Fliegerei am romantischsten wirke, wenn der Pilot als junger Gott vornehmer Abkunft mit tadelloser Wäsche geschildert wird, der seine elegante Maschine sozusagen mit der linken Hand durch die Lüfte führt. Die wahre Romantik liegt darin, daß ein ganz normaler junger Mann, ein ebensolcher junger Mann wie der, welcher unser Automobil in der Garage wäscht, ein prosaischer, höchst wirklicher junger Mann in verschossenem blauen Monteuranzug, der beim Reden der Sprache Gewalt antut und häufig eine dralle Unschuld anbetet, in einem gebrechlichen Apparat meilenweit durch die Luft zu schweben imstande ist und so den Traum vieler Jahrhunderte verwirklicht.

In der englischen und der amerikanischen Belletristik gibt es jetzt nahezu ebenso viele Aeroplane wie Degen und Rosen. Die Romanflieger sind bessere Herren der Gesellschaft, die nie anders als im Frack ausgehen und stets irgendeinem feudalen Klub angehören, Journalisten, Ingenieure, junge Lords und Gentleman-Detektive, die gelangweilt murmeln: »Ach ja, ich fliege ein bißchen – neue Sensation, wissen Sie – Polo macht mir keinen Spaß mehr«; und unmittelbar nach diesen Worten pflegen sie das Flugzeug zu besteigen, um Waffendepots zu plündern, um eine Jungfrau aus den Händen böser Räuber oder einen großen Rubin aus den Händen seiner rechtmäßigen, aber barbarischen Besitzer zu retten, oder um einen Zeppelinangriff abzuwehren. Niemals besteigen sie jedoch ihre Maschinen, ohne vorher den Mund sehr voll genommen zu haben. In England ist es unerläßlich, daß sie in einem »mächtigen Rolls-Royce« vom Klub zum Flugplatz hinausfahren. Die britischen Romanflieger pflegen in Oxford und Eton gewesen zu sein. In der Gesellschaft sind sie herrlich schlapp und langweilig; sehr bescheiden; sehr elegant; doch sowie sie sich dazu herablassen, ein Abenteuer zu bestehen, werden sie zu wahren Teufeln, sechs Fuß Eisen und Muskeln, zu Männern vom Bulldoggenschlag, die aber zugleich viel vom Kolibri haben. Auch die Amerikaner betreiben, wie ihre englischen Vettern, das Fliegen nur als Kavalierssport. Und auch sie gehen darauf aus, alles Mögliche zu retten. Nichts ist vor ihrem Retten sicher. Aber sie besitzen keine Rolls-Royce-Wagen.

Carl und seine Kameraden in Bagbys Schule gehörten nicht zu dieser jeunesse dorée. Carls Fliegen war etwas ebenso Nüchternes und Wirkliches wie das Ziegeltragen beim Bau einer Wäscherei in einer Fabrikstadt. Und gerade deshalb, weil es etwas Wirkliches war, war es auch etwas Romantisches und Schönes.

Zu Carls Gefährten gehörte Hank Odell, der älteste unter den Schülern, ein großer hagerer Mann mit hoffnungslos gewöhnlichem Gesicht, ein näselnder, ewig zerraufter, hakennäsiger Yankee, der verlegen grinste und seinen Adamsapfel langsam auf- und niedersteigen ließ, wenn man mit ihm sprach; ein phantasieloser Hunde- und Maschinenfreund; ein Sproß Lexingtons, Gettysburgs und einer steinigen Farm in Vermont; in seinem früheren Leben Heizer, Sergeant und Fuhrmann. Er trug immer ein Khakihemd (dessen Falten stets voll Schmieröl waren), dazu schwarze Hosen, derbe Stiefel und eine Pfeife – sie war der wichtigste Teil seines Kostüms.

Der rundliche, eifrige, höfliche Mexikaner Tony Beanno, genannt »Tony Bean« – wohlhabend, einfach, ein Freund des Violinspielens und des schnellen Automobilfahrens. Der »Schulbrummbär«, der närrische Jack Ryan, ein kräftiger, untersetzter Bursche, vormals Chauffeur. Dann sieben bedeutungslosere Figuren – ein flinker Jude aus Seattle; zwei Collegestudenten; der Sohn eines Aprikosenzüchters; ein Zirkusakrobat, der ganz neue Tricks lernen wollte; ein langweiliger, von der Marine abkommandierter Kadett; und ein ernsthafter Aerodynamiker, ein Mann von vierzig Jahren, der staunenswert langweilige Bücher über Luftströmungen geschrieben und unter Ängsten einen ganz anständigen Ballonpiloten aus sich gemacht hatte. Der Seekadett und der Gelehrte waren die beiden Snobs, die, fern von den Flugzeugschuppen, in Pensionen wohnten.

Ferner war Leutnant Forrest Haviland, von der Armee abkommandiert, da – Haviland, der vollendete, freundliche Edelmann, der allseitig Beliebte, der als einziger ein wenig an das schöne Romanideal der Flieger erinnerte, sich aber trotzdem niemals in falscher Bescheidenheit zierte, niemals Angst davor hatte, sich mit Schmieröl zu beschmutzen; lächelnd und arbeitseifrig und schweigsam; mit glattem Haar und feingeschnittenem Gesicht; in Khaki-Reithosen und braungelben Wickelgamaschen statt im Monteuranzug; immer der Gentleman, auch wenn er bemüht war, sich als Arbeiter zu geben. Er mimte Begeisterung über den Imbißwagen und sprach nie davon, daß seine Vorfahren seit drei Generationen als Offiziere gedient hatten. Trotzdem fühlten die meisten im Lager sich nicht wohl in seiner Gesellschaft und Jack Ryan, der »Schulbrummbär«, versuchte ihn stets in eine Rauferei zu verwickeln.

Und schließlich war Carl Ericson da, der sich allmählich zum Ersten unter ihnen entwickelte. Er verstand weniger von Aerodynamik als der schreckhafte Spezialist, weniger von angewandter Mechanik als Hank Odell, aber er war wagemutiger und tatenfroher. Sein Furor bei Wettbewerben war nicht so groß wie der Jack Ryans, dafür verbrauchte er weniger Energie. Er stand dem Zirkusakrobaten an Gelenkigkeit nach, wußte aber mehr von Motoren als dieser. Er hatte nicht ein so sicheres Auftreten wie Leutnant Haviland, doch es fiel ihm leichter, in einem Hangar zu schlafen und schmutzige Arbeiten zu verrichten.

Seine ersten Flüge machte er im Schulapparat »P'tite Marie« hinter dem Lehrer Carmeau. Immer standen Reporter herum, die unendlich viel von »Eindrücken« redeten, so daß Carl das Gefühl hatte, er müßte beim ersten Aufstieg Buch über seine Eindrücke führen; was er aber in Wirklichkeit empfand und dachte, war nicht mehr als folgendes: er wußte kaum, in welchem Augenblick sich die Maschine von der Erde loslöste; als sie glücklich oben waren, drohte der Wind ihm die Rippen einzudrücken und die Lungen zu sprengen; die Maschine stieg so rasch, daß unbedingt etwas nicht in Ordnung war; und als sie glücklich wieder gelandet waren, wußte er, daß dieser Flug ein ganzes Leben wert gewesen war.

Einige Tage lang mußte er mit dem Lehrer zusammen aufsteigen, bis er selbst die Steuer bedienen konnte. Endlich kam der erste Flug, den er allein unternehmen durfte.

Er bekam den Auftrag, in einer Höhe von ungefähr zwanzig Metern dreimal den Flugplatz zu umfliegen und sorgfältig, ohne Aufsetzen, zu landen – »und geben Sie gut acht, Monsieur, geben Sie sehr gut acht, daß Sie nicht in zu großer Höhe den Motor abstellen«, sagte Carmeau.

Nicht weniger als fünf Reporter hatten sich an diesem Tag eingefunden, und Carl kam sich, während er in seinem Pilotensitz die Startzeit abwartete, sehr exponiert vor. Der Propeller wurde angedreht. Carl holte tief Atem und hob die Hand – der Motor setzte aus. Er atmete erleichtert auf. Es war doch eine kolossale Verantwortung, allein aufzusteigen. Jetzt hatte er wenigstens noch ein oder zwei Minuten vor sich. Er wußte, daß er Angst gehabt hatte. Der Motor wurde zum zweiten Male in Gang gesetzt – und versagte zum zweiten Male. Carl tobte vor Wut, und nie wieder, bei allen seinen Flügen, überkam ihn Furcht. »Zum Teufel, was ist denn los?« knurrte er. Noch einmal wurde der Propeller angeworfen, und diesmal sang der Motor gleichmäßig weiter. Der Eindecker lief über den Boden, sein Schwanz richtete sich im Wind etwas auf, bis der ganze Apparat sich vorsichtig auf die Zehenspitzen gestellt zu haben schien. Carl war aufgestiegen, der Zorn ging von ihm, wie schon vorher die Furcht.

Er jubelte innerlich über die Schnelligkeit, mit der eine kleine Baumgruppe auf ihn zu, unter ihm vorüberschoß. Er drehte sich um, und bei dieser Bewegung stellte der Apparat sich ein wenig auf, was gegen die Regel verstieß. Aber er balancierte ihn so leicht wieder aus, daß er jenes Gefühl unbedingter Sicherheit hatte, das man beim Radfahren bekommt, sobald man es einmal richtig gelernt hat. Er stellte das Höhensteuer ein wenig höher und flog, emporsteigend, über einige Felder und Wiesen. Das war ganz leicht. Er wollte noch höher steigen, immer höher. Jetzt ging ja alles schon nahezu mechanisch – eine Bewegung, steigen; eine andere, sich senken; eine dritte, um die Maschine wieder horizontal zu stellen. Und das Pedal für das Seitensteuer gehorchte jedem noch so leisen Druck des Fußes. Seine Freude kannte keine Grenzen. Am liebsten hätte er laut geschrien.

Er warf einen Blick auf das Barometer und berechnete, daß er in einer Höhe von sechzig Metern flog. Warum nicht noch höher steigen?

Er flog über San Mateo hinaus, und das Bewußtsein, daß unten Menschen umherliefen und mit den Händen winkten, vermehrte seine Freude noch. Schließlich machte er, an seiner Sicherheit im Wenden ein wenig zweifelnd, in einer weiten Kurve kehrt und nahm wieder Kurs auf den Flugplatz. Schon zehn Kilometer war er geflogen.

Als er noch ungefähr einen Kilometer vom Flugplatz entfernt war, merkte er, daß sein Motor schluckte, Fehlzündungen hatte; daß er, sechzig Meter hoch in der Luft, keine Ahnung hatte, was passiert war; daß er sofort niedergehen mußte, ohne sich eine Landungsstelle aussuchen zu können. Der Motor setzte ganz aus.

Rasch kam die Erde näher.

Er richtete das Höhensteuer auf und stieg ein wenig. Da er aber im Gleitflug war, verringerte er damit die Geschwindigkeit, und aus einer Höhe von drei Metern setzte sich der Apparat mit einem dumpfen Geräusch auf ein Feld. Etwas gab nach – aber Carl saß unverletzt da. Die Maschine stand schief.

Mit einem kalten Gefühl im Rücken kroch er heraus und stellte fest, daß eines der beiden Landungsräder gebrochen war.

Alles rannte schreiend und gestikulierend vom Flugplatz auf ihn zu. Als er sah, wie komisch die Beine und Arme der Menschen, die über den unebenen Boden liefen, in der Luft umherfuchtelten, mußte er grinsen. Leutnant Haviland kam keuchend heran, fragte: »Nichts passiert, mein Junge? Schön!« und drückte ihm die Hand. Carl wußte, daß er einen neuen Freund hatte.

Drei Reporter überschütteten ihn mit Fragen. Wie weit er geflogen sei. Ob das wirklich das erste Mal sei, daß er allein aufgestiegen wäre? Was für Eindrücke er gehabt habe? Wieso sein Motor ausgesetzt hätte? Ob es stimme, daß er Bergwerkingenieur sei, daß er ein wohlhabender Automobilist sei?

Hank Odell, der verlegene Yankee, lief mit den Bewegungen einer Kuh, die über einen gepflügten Acker galoppiert, herzu, klopfte Carl stumm auf die Schulter und machte sich daran, das gebrochene Landungsrad zu untersuchen. Als letzter kam der Lehrer, Monsieur Carmeau.

Carl hatte Monsieur Carmeaus Lob als Krönung seines langen Fluges erwartet. Aber Carmeau zupfte sich den Bart, machte den Mund ein- oder zweimal weit auf und schimpfte dann: »Verflucht noch einmal, was glauben Sie denn, wer Sie sind? Ein Millionär, für den wir Maschinen zum Kaputtfahren bauen? Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen dreimal um den Platz fliegen – Sie fliegen nach Algier und wieder zurück – Sie glauben wohl, Sie sind einer von den Brüdern Farman – ein verdammter Narr sind Sie! Wenn Ihr Motor ausgesetzt hätte, während Sie über San Mateo waren? Wo wären Sie gelandet? In einem Brunnen? Auf einem Schornstein? Hein? Sie haben ja noch keine Ahnung. Das nächste Mal machen Sie gefälligst, was ich Ihnen sage. Halten Sie den Mund! Das war ein Flug, ein Flug, Sie haben einen Flug gemacht, der wunderbar war, wunderbar, das Herz hat mir im Leibe gelacht. Aber das nächste Mal, wenn Sie das Chassis ruinieren und sich umbringen, nom d'un tonnerre, können Sie von mir was zu hören bekommen!«

Carl war ganz demütig und bescheiden. Aber der Berichterstatter des Courier brachte auf der ersten Seite seiner Zeitung die Geschichte von dem »wunderbaren ersten Flug eines Bagby-Schülers« und prophezeite, ein zweiter Curtiss werde aus Kalifornien kommen. Ein Bild trug die Unterschrift: »Ericson, der neue Falke unter den Vogelmenschen.«

Im Fliegerlager bekam er prompt den Spitznamen »Falke«. Zuerst wurde er damit aufgezogen, aber schließlich wurde ein Ehrentitel daraus – Falke Ericson, der beliebteste Mann in der Schule, der kaltblütigste Pilot.


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