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Siebenter Abschnitt.
»Sie rückt und weicht, der Tag ist überlebt«.

Goethe in seinem einundachtzigsten Jahre. Die Juli-Revolution und der wissenschaftliche Streit zwischen Cuvier und St. Hilaire. Goethe's einziger Sohn stirbt. Neunzehn Engländer schicken Goethe ein Zeichen ihrer Huldigung. Aus Thackeray's Jugenderinnerungen an Weimar und Goethe. Der Dichtergreis; Zeichen des Verfalls; Goethe stirbt.

Der Frühling des Jahres 1830 fand Goethe in seinem einundachtzigsten Jahre, mit dem Faust beschäftigt und voll regen Antheils an dem großen Streite, der in Paris zwischen Cuvier und Geoffroy St. Hilaire über die Frage der Einheit der organischen Bildung im Thierreiche entbrannt war. Diese Frage, eine der wichtigsten und tiefgehendsten in der Biologie und die eigentliche Grundlage der ganzen Entwicklungslehre, hatte Goethe schon seit vielen Jahren in demselben Sinne behandelt, den jetzt Geoffroy St. Hilaire vertrat; es begreift sich daher, daß er nun mit herzlicher Freude die wissenschaftliche Welt ernstlich um die Lösung derselben bemüht sah. Soret erzählt darüber eine sehr charakteristische Anekdote:

»Montag, 2. Aug. 1830. Die Nachrichten von der begonnenen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und setzten alles in Aufregung. Ich ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe. ›Nun?‹ rief er mir entgegen, ›was denken Sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen; alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlossenen Thüren!‹ Eine furchtbare Geschichte! erwiderte ich. Aber was ließ sich bei den bekannten Zuständen und bei einem solchen Ministerium anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen königlichen Familie endigen würde. ›Wir scheinen uns nicht zu verstehen, mein Allerbester,‹ erwiderte Goethe. ›Ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge. Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streite zwischen Cuvier und Geoffroy de St. Hilaire.‹ Diese Aeußerung Goethe's war mir so unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte, und daß ich während einiger Minuten einen völligen Stillstand in meinen Gedanken verspürte. ›Die Sache ist von der höchsten Bedeutung,‹ fuhr Goethe fort, ›und Sie können sich keinen Begriff machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli empfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de St. Hilaire einen mächtigen Alliirten auf die Dauer. Ich sehe aber zugleich daraus, wie groß die Theilnahme der französischen wissenschaftlichen Welt in dieser Angelegenheit sein muß, indem trotz der furchtbaren politischen Aufregung die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hause stattfand. Das Beste aber ist, daß die von Geoffroy in Frankreich eingeführte synthetische Behandlungsweise der Natur jetzt nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Angelegenheit ist durch die freien Diskussionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Publikums, jetzt öffentlich geworden, sie läßt sich nicht mehr an geheime Ausschüsse verweisen und bei geschlossenen Thüren abthun und unterdrücken. Von nun an wird auch in Frankreich bei der Naturforschung der Geist herrschen und über die Materie Herr sein. Man wird Blicke in große Schöpfungsmaximen thun, in die geheimnißvolle Werkstatt Gottes! Was ist auch im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Theilen uns zu schaffen machen und nicht das Athmen des Geistes empfinden, der jedem Theile die Richtung vorschreibt und jede Abschweifung durch ein innewohnendes Gesetz bändigt oder sanktionirt! Ich habe mich seit fünfzig Jahren in dieser großen Angelegenheit abgemüht; anfänglich einsam, dann unterstützt, und zuletzt zu meiner großen Freude überragt durch verwandte Geister.‹«

Auch begnügte sich Goethe nicht damit, die Bedeutung jener Verhandlung in der französischen Akademie gesprächsweise anzuerkennen; er begann sofort seine berühmte Abhandlung darüber niederzuschreiben, deren ersten Theil er im September beendete. Hartnäckiger, als er hier that, kann man sich wohl nicht gegen die Politik abschließen; in dem vorliegenden Falle ist zwar die Wichtigkeit der Frage und der besondere Reiz, den sie durch ihren Zusammenhang mit seiner ganzen Naturbetrachtung für Goethe's Dichtergeist haben mußte, noch einiger Grund zur Erklärung; aber er behielt auch Gemüthsruhe genug, grade damals die klassische Walpurgisnacht zu vollenden.

Im November traf ihn abermals ein schwerer Schlag – der letzte, den er zu tragen hatte.

Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden die unendlichen,
Alle Schmerzen die unendlichen ganz –

so hatte er vor Jahren noch in der Blüthe der Jugend gesungen, wo Freuden unendlich genug ihm wurden; nun im Alter sollte er auch die Schmerzen alle die unendlichen durchkosten. Die Nachricht kam, daß sein einziger Sohn, der einige Zeit vorher zur Herstellung seiner Gesundheit nach Italien gereist war, am 28. Oktober in Rom gestorben sei. Der trauernde Vater suchte nach seiner Gewohnheit den Schmerz zu bemeistern und durch angestrengte Thätigkeit zu bannen. »Ueber Gräber vorwärts!« hatte er einst Zelter zugerufen, als dieser von einem ähnlichen Verlust betroffen wurde; dem Worte wollte er nun selbst nachleben. Wahrhaft großartig ist, wie er dieser Stimmung gegen Zelter Ausdruck giebt: »Der Körper muß, der Geist will, und wer seinem Wollen die nothwendige Bahn vorgeschrieben sieht, der braucht sich nicht viel zu besinnen.« Aber vergebens suchte er sein aufschwellend Weh zu unterdrücken; die Natur rächte sich, der Versuch kostete ihn fast das Leben. Ein heftiger Blutsturz erfolgte plötzlich und überraschend; eine Zeit lang gab man ihn schon auf, aber er erholte sich noch einmal und ging sogleich wieder daran, Wahrheit und Dichtung und den Faust zu vollenden.

Die Wittwe seines Sohnes, Ottilie von Goethe, die recht sein Liebling war, suchte ihm die Einsamkeit zu erheitern. Sie las ihm Plutarch und Niebuhr's römische Geschichte vor, und diese beiden Werke führten ihn zurück in die Herrlichkeiten einer Vergangenheit, unter denen sein antiker Geist sich bewegen konnte wie unter Freunden. Auch die Literatur der Gegenwart beschäftigte ihn viel: was bedeutende Männer wie Beranger, Victor Hugo, Casimir Delavigne, Walter Scott und Carlyle schrieben, las er mit jugendlichem Eifer. Durch eine ausgebreitete Correspondenz stand er mit der Welt in reger Verbindung. Ganz Europa sandte ihm seine Huldigungen zu; berühmte Männer kamen fortwährend zum Besuche in sein Haus Aus dieser Zeit ist eine anmuthige Schilderung Goethe's und seines Hauses von Felix Mendelssohn erhalten; s. dessen Reisebriefe. – Alles, was sich auf das schöne Verhältniß Felix M.'s zu Goethe bezieht, hat des ersteren Sohn, Prof. Karl M., vor kurzem in einer besondern kleinen Schrift: »Goethe und Felix Mendelssohn-Bartholdy« interessant und geschickt zusammengestellt.. Unter den Zeichen der Verehrung, die ihm so von allen Seiten zugingen, darf ich eines wohl besonders erwähnen. Von Carlyle angeregt, sandten ihm neunzehn Freunde aus England (darunter Walter Scott, Wordsworth, Southey) ein kunstreiches Petschaft; auf dem Siegel stand, um einen Stern in der Mitte und von einer Schlange eingeschlossen, die Inschrift: »ohne Hast, ohne Rast«, eine Anspielung auf das bekannte Goethe'sche Gedicht: »Wie das Gestirn, ohne Hast, aber ohne Rast, drehe sich jeder um die eigne Last«; auf dem goldnen Griffe waren die Worte eingegraben: To the german Master, from friends in England, 28. August 1831 (dem deutschen Meister, von Freunden in England). Das Geschenk war von einem Schreiben begleitet, welches von Carlyle herrührend die Verehrung der Geber in den begeistertsten Ausdrücken kund gab. »Da es (heißt es darin) stets die höchste Pflicht und Freude ist, dem Verehrung zu bezeugen, dem Verehrung gebührt, und unser bester, vielleicht unser einziger Wohlthäter der ist, der uns durch That und Wort Weisheit lehrt, so hegen die Unterzeichneten, die wir zu dem Dichter Goethe wie geistige Schüler zu ihrem geistigen Lehrer stehen, den Wunsch, diesem Gefühle offenen und gemeinsamen Ausdruck zu geben.« Solch ein Satz beweist, daß Goethe's Lehre schon Früchte trug und daß man selbst in fernen Ländern an seinen Werken den Vorzug herausfühlte, der sie über die aller andern neueren Schriftsteller erhebt – den Vorzug einer tiefen und umfassenden Einsicht.

Das Geschenk aus England war ihm eine große Freude, weil er für England und die Engländer eine sehr herzliche Zuneigung hegte. Unter den Engländern, die sich damals in Weimar aufhielten, war ein junger Mann, dessen Name heute überall gefeiert wird, wo man für englische Literatur Sinn hat – William Thackeray, und noch jetzt zeigt man dort mit Stolz die Carricaturen, welche der junge Satiriker den weimarischen Damen ins Album zeichnete. Er hat mir erlaubt, mein Buch mit einer anmuthigen Schilderung aus seinen weimar'schen Erinnerungen zu bereichern, welche der nachstehende Brief (vom 28. April 1855) enthält:

»Was ich Ihnen von Weimar und Goethe erzählen kann, ist leider nur wenig. Vor fünfundzwanzig Jahren hielten sich einige zwanzig junge Engländer zu ihrer Ausbildung oder zum Vergnügen in Weimar auf, denn beides war in der freundlichen kleinen Residenz zu haben. Der Großherzog und die Großherzogin empfingen uns höchst freundlich und gastfrei. Der Hof war glänzend, aber dabei sehr angenehm und einfach. Wir wurden abwechselnd zu Diners, Bällen und Gesellschaften eingeladen. Wer von uns das Recht dazu hatte, erschien in Uniform; die andern erfanden sich kühne Phantasie-Uniformen, und der freundliche alte Hofmarschall von Spiegel (der zwei der lieblichsten Töchter hatte, die meine Augen je gesehen) machte jungen Engländern keine Schwierigkeiten. An Winterabenden nahmen wir meistens Sänften und ließen uns darin zu den heitern Hoffesten tragen. Ich meinerseits war so glücklich, Schiller's Degen zu erhandeln und damit mein Hofkostüm zu vervollständigen; noch jetzt hängt er in meinem Arbeitszimmer und erinnert mich an die freundlichsten und vergnügtesten Tage meiner Jugend.

»Wir waren in der kleinen Stadt mit allen Leuten aus der Gesellschaft bekannt, und wenn die jungen Damen von der ersten bis zur letzten nicht so vorzüglich englisch gesprochen hätten, so hätten wir gewiß das beste Deutsch lernen können. Der gesellige Verkehr war sehr belebt. Die Hofdamen hatten ihre bestimmten Abende. Theater war zwei- oder dreimal in der Woche, wir waren da wie in Familie. Goethe hatte sich von der Leitung zurückgezogen, aber die großen Traditionen früherer Zeiten lebten noch fort. Das Theater wurde sehr gut geleitet, und neben den vortrefflichen Mitgliedern der weimar'schen Bühne selbst gaben im Winter berühmte Schauspieler und Sänger aus ganz Deutschland Gastrollen. In jenem Winter trat, wie ich mich erinnere, Ludwig Devrient als Shylock, Hamlet, Falstaff und Franz Moor auf und die schöne Schröder (-Devrient) als Fidelio.

»Nach dreiundzwanzigjähriger Abwesenheit verlebte ich wieder ein paar Sommertage in dem unvergeßlichen Städtchen und war so glücklich, einige Freunde aus meiner Jugendzeit zu treffen. Frau von Goethe war da und empfing mich und meine Töchter mit alter Freundlichkeit. Wir tranken Thee im Freien bei dem wohlbekannten Gartenhause, wo ihr berühmter Vater so oft gewohnt hat und welches noch im Besitz der Familie ist.

»Obgleich sich Goethe von der Welt zurückgezogen hatte, sah er doch gern Fremde bei sich. Am Theetisch seiner Schwiegertochter war immer ein Platz für uns offen. Manche Stunde haben wir da gesessen und manchen Abend mit der angenehmsten Unterhaltung und Musik verbracht. Auch lasen wir endlose Romane und Gedichte, französische, englische und deutsche. Ich hatte in jenen Tagen meine Lust daran, Carricaturen für Kinder zu zeichnen, und fand nun mit wahrer Rührung, daß sie noch nicht vergessen, ja zum Theil noch erhalten waren, und damals als junger Mensch war ich sehr stolz, als ich erfuhr, der große Goethe habe sich einige davon angesehen.

»Goethe blieb meist auf seinem Zimmer, wo nur sehr wenige begünstigte Personen Zutritt hatten, aber er ließ sich alles erzählen, was vorging, und interessirte sich für alle Fremden. Wenn ihm ein Gesicht gefiel, so war ein Künstler da, der es porträtirte. Er hatte eine förmliche Gallerie von Köpfen, die dieser Künstler in Kreide gezeichnet hatte. Sein Haus war gesteckt voll von Bildern, Zeichnungen, Abgüssen, Statuen und Medaillen.

»Natürlich erinnere ich mich noch ganz gut, mit welcher Aufregung ich als ein Bursch von neunzehn Jahren die lang erwartete Ankündigung empfing, der Herr Geheimerath wolle mich an dem und dem Tage sprechen. Diese denkwürdige Audienz fand in einem kleinen Vorzimmer seiner Privatgemächer statt, welches rings mit Abgüssen von Antiken und Basreliefs bedeckt war. Goethe war in einen langen grauen oder bräunlichen Oberrock gekleidet, hatte ein weißes Halstuch um und trug im Knopfloch ein rothes Bändchen. Die Hände hielt er auf den Rücken, genau so wie auf Rauch's Statuette. Seine Gesichtsfarbe war sehr frisch, klar und rosig; die Augen außerordentlich dunkel, durchdringend und glänzend. Ich war förmlich bange vor ihnen und erinnere mich noch, daß ich sie mit den Augen eines Romanhelden aus meiner Jugendzeit verglich, der mit einem gewissen Jemand im Bunde stand und bis zu seinem Lebensende diese Augen in ihrem vollen schrecklichen Glanze behielt. Goethe machte mir den Eindruck, er müsse in seinem Alter noch schöner sein, als er in den Tagen seiner Jungend gewesen. Seine Stimme klang sehr voll und angenehm. Er fragte mich mancherlei über mich selbst, ich antwortete ihm, so gut ich konnte. Ich erinnere mich, daß ich zuerst erstaunte und dann mich etwas erleichtert fühlte, als ich merkte, daß er französisch mit keinem guten Accent spreche.

»Im ganzen habe ich ihn nur dreimal gesehen. Das eine Mal ging er in seinem Garten am Frauenplan spazieren; das andere Mal wollte er ausfahren und trug eine Kappe und einen Mantel mit rothem Kragen. Er liebkoste grade seine kleine Enkelin, ein schönes Kind mit goldenen Locken, über dessen süßem Antlitz sich auch schon längst die Erde geschlossen hat.

»Wer von uns Bücher oder Zeitschriften aus England bekam, schickte sie ihm zu, und er studirte sie eifrig. Frazer's Magazin war damals noch neu, und wie ich mich erinnere, interessirten ihn die vorzüglichen Portraitskizzen, die es eine Zeit lang brachte. Aber eine sehr häßliche Carrikatur, die auch da erschien, legte er ärgerlich aus der Hand. »Solch ein Gesicht möchte man mir auch gern geben«, sagte er. Ich muß aber gestehen, daß ich mir etwas klarer, majestätischer und gesunder Aussehendes, als der große alte Goethe war, nicht denken kann.

»Obgleich seine Sonne zum Untergehen sich neigte, war doch der Himmel ringsum freundlich und hell, und das kleine Weimar erglänzte von dem Lichte. In all den lieben Gesellschaften betraf die Unterhaltung noch immer Kunst und Literatur. Das Theater hatte zwar keine außergewöhnlichen Schauspieler, wurde aber mit schönem Verständniß geleitet. Die Schauspieler lasen und studirten, waren Leute von Anstand und Bildung und standen zu dem Adel in einem leidlichen Verhältniß. Bei Hofe war die Unterhaltung außerordentlich freundlich, einfach und fein. Die (jetzt verwittwete) Großherzogin, eine hochbegabte Dame, borgte Bücher von uns, lieh uns die ihrigen und ließ sich herab, mit uns jungen Leuten über unsern Geschmack und unsere Studien in der Literatur zu sprechen. Die Achtung, welche der Hof dem Dichtergreise erwies, ehrte beide, den Fürsten wie den Unterthan. Zwischen den glücklichen Tagen, von denen ich spreche, und heute liegt eine fünfundzwanzigjährige Erfahrung und ein Verkehr mit unendlich verschiedenartigen Leuten; aber ich kann auch heute noch sagen, daß ich eine einfachere, liebevollere, höflichere und feiner gesittete Gesellschaft nie gesehen habe, als in der lieben kleinen Stadt, wo der gute Schiller und der große Goethe lebten und begraben liegen.«

Dies Zeugniß Thackeray's wird mir nicht nur von andern Seiten durchaus bestätigt, sondern gilt von Weimar noch heutigen Tages; englische Reisende werden auch von dem jetzigen Großherzog und der Großherzogin mit unveränderter Huld und Höflichkeit empfangen und finden überhaupt die Traditionen der Goethezeit immer noch lebendig.

Kehren wir zu Goethe zurück. Sein letzter Sekretär, Kräuter, der nie anders als in Ausdrücken der Vergötterung von ihm sprach, schilderte seine Thätigkeit selbst im höchsten Alter als ganz riesenhaft Kanzler Müller in seinen »Unterhaltungen mit Goethe« schreibt unterm 11. Januar 1830: »Als ich von der bewundernswürdigen Menge seiner täglichen Lectüre sprach, versicherte er, im Durchschnitt wenigstens einen Octavband täglich zu lesen.« – Achtzigjährig! Anm. des Uebers.. Dabei war sie auf das genaueste geregelt. Bestimmte Stunden des Tages waren dem brieflichen Verkehr gewidmet, dann ordnete er seine Papiere oder arbeitete an der Vollendung längst angefangener Werke. An einem schönen Frühlingsmorgen, so erzählte mir Kräuter, sagte Goethe zu ihm: »Kommen Sie, wir wollen nicht mehr diktiren; es wäre schade, so schönes Wetter nicht zu genießen; wir wollen in den Park gehen und da etwas arbeiten.« Kräuter nahm die nöthigen Bücher und Papiere mit und folgte seinem Herrn, der im langen blauen Oberrock, eine blaue Kappe auf dem Kopf und seine Hände wie gewöhnlich auf dem Rücken, aufrecht und stattlich voranschritt. Im Wege stand ein alter Bauer; auf den machte Goethe's Jupiterkopf einen so mächtigen Eindruck und nahm ihn so ganz hin, daß er, die Hände auf den Spaten gelehnt und mit dem Kinn darauf gestützt, sich völlig in den herrlichen Anblick verlor und in starrem Staunen auf seinem Platze wie festgebannt war, so daß Kräuter ihm ausweichen mußte.

Man sagt auch gewöhnlich, bei Goethe habe sich nie eine Spur von Alter gezeigt, allein das ist eine von den Uebertreibungen, welche sich die Ungenauigkeit des gewöhnlichen Ausdrucks gestattet. Sein Geist bewahrte allerdings eine wunderbare Klarheit und Rüstigkeit, und wer die Abhandlung über den Streit zwischen Cuvier und St. Hilaire schrieb und in seinem zweiundachtzigsten Jahre den Faust vollendete, darf gewiß einen Platz bei den Nestors beanspruchen, denen Vorbehalten bleibt

– – ein Werk von stolzer Art,
Wie's derer würdig, die mit Göttern kämpften.

Aber doch muß der Biograph berichten, daß der Greis sowohl geistig als leiblich unverkennbare Spuren des Alters zeigte. Sein Gehör verschlechterte sich merklich, sein Gedächtniß war für neuere Vorgänge höchst unzuverlässig, aber sein Auge blieb stark und sein Appetit gut. Ganz im Gegensatz zu seinen früheren Jahren liebte er im Alter geschlossene Räume. Der heiße und unreine Dunst in einem unreinen Zimmer war ihm so angenehm, daß er nur ungern ein Fenster öffnen ließ, um frische Luft hereinzulassen. Immer gegen Kälte empfindlich und nach Wärme begierig wie ein Kind des Südens, hatte er es in seinen Zimmern so heiß, daß er sich fortwährend erkältete. Auf dem Lande aber genoß er die frische Luft mit altem Behagen. Namentlich die Bergluft von Ilmenau schien ihm Gesundheit und Erquickung zu gewähren. Kurz vor seinem letzten Geburtstage zog er sich vor den Festlichkeiten, welche dazu vorbereitet wurden, noch einmal dahin zurück. Er ließ sich nach dem Gickelhahn hinauffahren und sah entzückt in das anmuthige Thal hinab, das durch so manche frohe Erinnerung geweiht war. »Ach, rief er aus, wenn das doch unser guter Großherzog noch einmal hätte mitgenießen können!« Dann betrat er die Bretterhütte, wo er mit Karl August und den andern lieben Freunden so viele glückliche Stunden verlebt hatte. An der Wand standen noch jene Verse mit Bleistift geschrieben, über die nun fast ein halbes Jahrhundert hingegangen war:

Ueber allen Gipfeln ist Ruh;
In allen Wäldern hörest Du
Keinen Laut!
Die Vögelein schlafen im Walde;
Warte nur! balde, balde
Schläfst auch Du!

Die Erinnerung an Karl August, an die Stein, an alle die Freunde, die vor ihm dahin gegangen, überkam ihn; die Augen gingen ihm über, und die reichlich quellenden Thränen trocknend, wiederholte er laut die letzten Worte: »Ja, warte nur! balde, balde schläfst auch du!«

Er war der Ruhe näher, als er selbst und seine Freunde erwarteten. Am 16. März des folgenden Jahres (1832) fand ihn sein Enkel Wolfgang, als er wie gewöhnlich zum Frühstück bei ihm ins Zimmer trat, noch im Bett. Den Tag vorher war er aus seinem heißen Zimmer durch den Garten gegangen und hatte sich dabei erkältet. Der schnell herbeigeholte Arzt fand ihn sehr fieberhaft; es war eine Art Nervenfieber, das für sehr gefährlich gilt. Mit Hülfe der ärztlichen Mittel erholte er sich indeß gegen Abend wieder, war gesprächig und in heitrer Laune. Am 17. befand er sich so bedeutend besser, daß er einen langen Brief an Wilhelm von Humboldt diktirte. Niemand dachte mehr an Gefahr. Aber in der Nacht vom 19. zum 20. März erwachte Goethe nach sanftem Schlafe um Mitternacht mit eiskalten Händen und Füßen und heftigem Schmerz und Beklemmung in der Brust. Doch ließ er weder seine Familie noch den Arzt wecken, »weil ja nur Leiden, aber keine Gefahr vorhanden sei«. Aber am nächsten Morgen war eine bedenkliche Verschlimmerung eingetreten. Die Zähne zitterten ihm vor Frost; der Schmerz in der Brust preßte ihm laute Klagen aus; er konnte im Bett keine Ruhe finden und wälzte sich vergebens aus einer Lage in die andere. Sein Gesicht war aschgrau, die Augen tief eingesunken und trübe, in seinen Blicken lag Todesangst. Nach einiger Zeit legte sich dieser furchtbare Anfall, und man brachte ihn aus dem Bett in den danebenstehenden bequemen Lehnstuhl. Da fand er gegen Abend noch einmal volle Ruhe und sprach klar und eingehend über gewöhnliche Dinge; mit sichtlicher Freude hörte er, daß seine Verwendung für einen jungen Künstler von Erfolg gewesen sei, und mit zitternder Hand unterzeichnete er eine Anweisung zur Auszahlung einer Unterstützung an eine junge weimar'sche Künstlerin, für die sein Wohlwollen sich interessirt hatte. Diese Unterschrift war das letzte, was er schrieb.

Am folgenden Tage wurde es zur Gewißheit, daß es mit ihm zu Ende gehe. Die Schmerzen waren gewichen, aber seine Sinne begannen zu schwinden und er hatte Augenblicke von Bewußtlosigkeit. Ruhig im Lehnstuhl sitzend, sprach er freundlich zu denen, die bei ihm im Zimmer waren und ließ sich von dem Bedienten das neue Buch Salvandy's über die Revolution bringen, in dessen Lektüre ihn die Krankheit unterbrochen hatte; er blätterte darin herum, fühlte sich aber zum Lesen zu matt und legte es wieder aus der Hand. Später ließ er sich die Liste der Personen geben, die sich nach seinem Befinden erkundigt hatten und bemerkte, man dürfe solche Beweise von Theilnahme ja nicht vergessen, wenn er wieder gesund würde. Am Abend ließ er alle Hausgenossen zu Bett gehen, nur sein alter Schreiber John durfte bei ihm bleiben, mußte sich aber ins Bett legen, da er der Ruhe so sehr bedürfe.

Am nächsten Morgen – es war der 22. März 1832 – versuchte er im Zimmer auf und ab zu gehen, aber schon nach wenigen Schritten fühlte er sich zu matt und sank wieder in den Lehnstuhl. Seine Schwiegertochter mußte sich zu ihm setzen und er begann vergnügt mit ihr zu plaudern, sprach von dem nahen Frühling und den schönen Tagen, die frische Lust werde ihn wieder herstellen. Er hatte keine Ahnung, daß sein Ende so nahe sei. Während Ottilie neben ihm saß und mit ihren beiden Händen die seine umfaßt hielt, begannen seine Gedanken zu wandern; er phantasirte. Einmal rief er aus: »Seht den schönen weiblichen Kopf – mit schwarzen Locken – im prächtigen Colorit – auf dunklem Hintergrunde!« Dann wies er auf ein Stück Papier am Boden und fragte, warum man Schiller's Briefwechsel so nachlässig herumliegen lasse. Bald darauf fiel er in einen sanften Schlaf und fragte beim Erwachen nach den Zeichnungen, die er eben gesehen habe – es waren die Bilder seines letzten Traumes. In schweigendem Jammer warteten die Seinen des Endes, das nun so schnell heraneilte. Seine Sprache wurde immer undeutlicher. Die letzten verständlichen Worte waren: »Mehr Licht!« – Die Nacht stieg herauf, und der stets nach »mehr Licht« sich gesehnt hatte, rief noch scheidend danach, als ihn die Dunkelheit des Todes überschattete.

Zuletzt machte er Zeichen mit der Hand, zog mit dem Zeigefinger Buchstaben durch die Luft, so lange er dazu Kraft hatte; endlich mit der Ebbe seines Lebens sank auch sein Finger herab und fuhr auf der Decke hin und her, die ihm über die Beine gebreitet war. Um die Mittagsstunde legte er sich ruhig in die Ecke des Lehnstuhls. Die bei ihm wachte, legte den Finger an die Lippen, um anzudeuten, er schlafe. Es war ein Schlaf, in welchem ein Leben aus der Welt schied. Goethe erwachte nicht wieder.



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