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Fünftes Buch.
Krystalle.

1779 bis 1793.

Wenn sich der Most auch ganz absurd geberdet,
Es giebt zuletzt doch noch 'nen Wein.

 

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

Erster Abschnitt.
Wiedergeburt.

Uebergang vom Jüngling zum Mann. Die Iphigenie in Prosa. Die Prosawuth.

Die Entwicklung des Charakters, wie er in langsamer Wandlung aus der Regellosigkeit der Jugend zur klaren Stetigkeit des Mannesalters übergeht, läßt sich dem wachsenden Glanz der Morgenröthe vergleichen, die zuerst allmälig und dann in schweigender Schnelle die Finsterniß der Nacht zurückscheucht und endlich mit einem Strom von Licht den Himmel ruhig in Besitz nimmt. Mit solchem Bilde sei es gestattet, den Anbruch einer neuen Epoche in Goethe's Leben zu bezeichnen. Er tritt nun in eine Zeit, wo die Ausschreitungen einer erregbaren Natur immer mehr in dem Kreise der Regel sich halten, wo Ziele, unbestimmt bisher, klar werden, wo in den Tiefen seines Geistes vieles, das noch flüssig war, durch den Ernst, der dem Leben eine feste Richtung setzt, sich krystallisirt. Alle genialen Männer machen diesen Krystallisationsproceß durch; ihre Jugendzeit wird von dem Gewirr der Irrthümer und Leidenschaften getrübt, aber wenn sie diese Irrthümer überleben, so werden sie ihnen zu Gewinn. Wie die Abhänge großer Gebirgszüge von Spalten zerklüftet sind, die geschmolzene Felsmassen füllen, und wie diese Spalten voll erstarrter Lava den Dienst kolossaler Pfeiler leisten, welche die Gebirgsmassen stützen, so wirken bei genialen Männern die Leidenschaften: erst zerklüften, dann festigen sie das Leben. Der Diamant, wie man weiß, kann nur mit seinem eigenen Staube geschliffen werden: ist das nicht ein rechtes Bild für die Wahrheit, daß das Genie nur durch seine eigenen Abfälle wahrhaft belehrt werden kann?

»Geniale Menschen, sagt Kanzler von Müller, schweifen leicht über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus; im Gefühl, Außerordentliches leisten zu können, verschmähen sie oftmals die eng gezogene Schranke bürgerlicher Ordnung und, einer einseitigen Richtung aufs Ideelle hingegeben, das Studium der wirklichen Welt und ihrer Anforderungen. In Goethe dagegen finden wir von früh an zwei oft sich widerstrebende Eigenschaften innig verschwistert: eine überschwenglich produktive Phantasie und einen kindlich reinen Natursinn, dem überall ein Lebendiges begegnet und der überall thätig ins Leben einzugreifen strebt. Diese unvertilgbare Liebe zur Natur und zum praktischen Wirken schlingt sich das ganze Gewebe seines Lebens hindurch, sie schärft sein Auge für jede äußere Erscheinung, leitet die oft unruhige Thätigkeit seines Geistes zum Realen hin, wird ihm zum Gegengewicht und Heilmittel der Leidenschaften und bewahrt ihn, wie ein schützender Genius, mitten unter gefahrvollen Abwegen vor Verirrung, mitten unter Abenteuern vor abenteuerlicher Richtung.«

Goethe trat jetzt (1779) in das dreißigste Jahr. Sein Leben erhob sich nun aus den träumerischen Nebeln, die es bisher umhüllten; an die Stelle jugendlicher Zerfahrenheit trat der feierliche Mannesernst und gipfelte sein Dasein zu imposanter Einheit. Er faßte den Entschluß,

sich vom Halben zu entwöhnen,
und im Ganzen, Guten, Schönen
resolut zu leben.

Die Ursache dieser Aenderung wird gewöhnlich in seinem Aufenthalte in Italien gesucht, aber der wahre Grund lag in der nothwendigen Entwicklung seines Geistes. Daß er diesen Fortschritt lange vor der italienischen Reise gemacht hatte, das zu beweisen genügt die oberflächlichste Bekanntschaft mit der Zeit, die uns jetzt beschäftigt. Eine Stelle aus seinem Tagebuch, die ungefähr dies Datum trägt, ist dafür besonders bezeichnend. »Zu Hause aufgeräumt, meine Papiere durchgesehen, und alle alte Schalen verbrannt. Andere Zeiten, andere Sorgen! Stiller Rückblick aufs Leben, auf die Verworrenheit, Betriebsamkeit, Wißbegierde der Jugend; wie sie überall herumschweift, um etwas Befriedigendes zu finden. Wie ich besonders in Geheimnissen, dunklen imaginativen Verhältnissen eine Wohllust gefunden habe; wie ich alles Wissenschaftliche nur halb angegriffen und bald wieder habe fahren lassen; wie eine Art von demüthiger Selbstgefälligkeit durch Alles geht, was ich damals schrieb; wie kurzsinnig in menschlichen und göttlichen Dingen ich mich umgedreht habe; wie des Thuns, auch des zweckmäßigen, Denkens und Dichtens so wenig; wie in zeitverderbender Empfindung und Schattenleidenschaft gar viel Tage verthan; wie wenig mir davon zu Nutze kommen, und da die Hälfte des Lebens nun vorüber ist, wie nun kein Weg zurückgelegt, sondern vielmehr ich nur dastehe, wie einer, der sich aus dem Wasser rettete und den die Sonne anfängt wohlthätig abzutrocknen. Die Zeit, daß ich im Treiben der Welt bin, seit 1775 October, getrau ich noch nicht zu übersehen. Gott helfe weiter und gebe Lichter, daß wir uns nicht selbst soviel im Wege stehen, lasse uns vom Morgen zu Abend das Gehörige thun, und gebe uns klare Begriffe von den Folgen der Dinge, daß man nicht sei wie Menschen, die den ganzen Tag über Kopfweh klagen und gegen Kopfweh brauchen und alle Abend zu viel Wein zu sich nehmen.«

Diese Worte haben etwas wahrhaft Feierliches. Denselben Gedanken sprach er damals in einem Briefe an Lavater aus: »Die Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles Andere und läßt kaum augenblickliches Vergessen zu. Ich darf auch nicht säumen; ich bin schon weit in Jahren vor, und vielleicht bricht mich das Schicksal in der Mitte, und der babylonische Thurm bleibt stumpf unvollendet. Wenigstens soll man sagen, er war kühn entworfen, und, wenn ich lebe, sollen, will's Gott, die Kräfte bis hinauf reichen.« Und ähnlich in einem Briefe an Karl August: »Uebrigens laß ich mir von allerlei erzählen und alsdann steig ich in meine alte Burg der Poesie und koche an meinem Töchterchen (Iphigenie). Bei dieser Gelegenheit seh ich doch auch, daß ich diese gute Gabe der Himmlischen ein wenig zu cavalier behandle, und ich habe wirklich Zeit, wieder häuslicher mit meinem Talent zu werden, wenn ich je noch was hervorbringen will.«

Für seinen damaligen Fortschritt kann kein besserer Zeuge angeführt werden als die Iphigenie auf Tauris, die er zu der Zeit schrieb. Diese wundervolle Dichtung war, seltsam genug, ursprünglich in Prosa geschrieben, und erst in Italien setzte sie der Dichter in Verse um. Prosa war damals die Mode des Tages. Götz, Egmont, Tasso und Iphigenie nicht weniger als Schiller's Räuber, Fiesco und Kabale und Liebe waren in Prosa geschrieben, und als Iphigenie in poetischer Form erschien, waren die Freunde in Weimar höchlich unzufrieden; sie gaben der Prosa den Vorzug.

Diese Prosa-Wuth gehörte zu der Leidenschaft für die Rückkehr zur Natur. Verse erklärte man für unnatürlich, da sie doch, in Wahrheit, nicht unnatürlicher sind als Gesang. Wie der Gesang zur Rede, so steht die Poesie zur Prosa: er ist der Ausdruck für eine andere geistige Stimmung als die Rede. Leidenschaftliche Prosa kommt mit dem rhythmischen Triebe ihrer Bewegungen an die Poesie nahe heran, wie leidenschaftliche Rede mit ihrem wechselnden Falle dem Takte der Musik sich nähert. Die Araber geben in heftiger Erregung ihrer Sprache ein erkennbares Metrum und sprechen fast Poesie. Aber niemals ist Prosa Poesie, oder doch höchstens für einen Augenblick; und eben so wenig ist Rede Gesang. Das lernte auch Schiller einsehen; als er am Wallenstein arbeitete, schrieb er an Goethe (24. November 1797): »Ich habe noch nie so augenscheinlich mich überzeugt, als bei meinem jetzigen Geschäft, wie genau in der Poesie Stoff und Form, selbst äußere, zusammenhängen. Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetisch-rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz andern Gerichtsbarkeit als vorher; selbst viele Motive, die in der prosaischen Ausführung recht gut am Platze zu stehen schienen, kann ich jetzt nicht mehr brauchen: sie waren bloß gut für den gewöhnlichen Hausverstand, dessen Organ die Prosa zu sein scheint; aber der Vers fordert schlechterdings Beziehungen auf die Einbildungskraft, und so mußte ich auch in mehreren meiner Motive poetischer werden.«

Daß auch Goethe eine Zeit lang der Täuschung anheimfallen konnte, Prosa sei natürlicher als gebundene Rede, ist um so überraschender, da seine Gedanken von selbst melodisch flossen. Seine Seele war Gesang. Die Fähigkeit, melodisch zu singen, behielt er bis ans Ende, als schon seine Prosa in Schwäche entartet war. Auch diese Iphigenie in Prosa ist mit Versen förmlich gesättigt. Er wollte in Prosa schreiben, aber unwillkürlich nahmen seine Gedanken die poetische Form an. Eine Vergleichung der prosaischen mit der poetischen Bearbeitung ist von großem Interesse. Man sieht da nicht nur, wie häufig in jener schon die Verse sind, sondern auch, wie wenige Aenderungen nöthig waren, um das prosaische Drama in ein Gedicht umzuschaffen. Es sind eben nur die kleinen Züge, welche die Poesie über die Prosa erheben. So, um ein Beispiel anzuführen, hieß es in der prosaischen Bearbeitung: »unnütz sein ist todt sein«; jetzt ist daraus der Vers geworden:

»Ein unnütz Leben ist ein früher Tod.«

An einer andern Stelle, in der Rede des Orest (Akt 2., Sc. 1.) ist eine schöne und schreckliche Hindeutung auf Klytämnestra:

– »Besser (zu sterben) hier vor dem Altar,
Als im verworfnen Winkel, wo die Netze
Der nahverwandte Meuchelmörder stellt.«

In der prosaischen Bearbeitung ist die Andeutung nicht klar; Orest spricht da nur von den »Netzen des Meuchelmörders.«

Die Aenderungen in der Form treffen nicht das Wesen dieses Drama's: wir müssen es daher als ein Werk der Zeit ansehen, die uns jetzt beschäftigt, und gehen sofort darauf ein, es näher zu betrachten.



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