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Dritter Abschnitt.
Die Wahlverwandtschaften.

Goethe's Leidenschaft für Minna Herzlieb in Jena. Die Wahlverwandtschaften; die Geschichte und der Charakter dieses Romans. Uebersichtliche Kritik. Minna Herzlieb verbeirathet sich. Goethe's Mutter stirbt.

Zu den Jenaer Freunden, die Goethe immer mit Vergnügen sah, gehörte der Buchhändler Frommann. In seiner Familie lebte als angenommenes Kind jene Minna Herzlieb, die für uns ein eigenes Interesse hat: sie ist die Ottilie in den Wahlverwandtschaften. Als Kind war sie ein rechter Liebling Goethe's gewesen; zur Jungfrau herangewachsen, übte sie auf ihn einen Zauber, gegen den seine Vernunft sich vergebens sträubte. Der Unterschied der Jahre war groß, aber wie oft schenken junge Mädchen die erste Blüthe ihrer Neigung Männern, die ihre Väter sein könnten, und wie oft glühen Männer in vorgeschrittenem Alter noch von der Leidenschaft der Jugend! In den Sonetten, die Goethe an Minna Herzlieb richtete, und in den »Wahlverwandtschaften« kann man lesen, wie stark die Gluth seiner Leidenschaft war und wie mächtig er sich dagegen wehrte. Von den Wahlverwandtschaften sagt er in den Tag- und Jahresheften: »Niemand verkennt an diesem Roman eine tief leidenschaftliche Wunde, die im Heilen sich zu schließen scheut, ein Herz, das zu genesen fürchtet. Der 3. Oktober 1809 [wo der Druck beendet ward] befreite mich von dem Werke, ohne daß die Empfindung des Inhalts sich ganz hätte verlieren können.« Wären wir über die äußeren Verhältnisse, aus denen die Wahlverwandtschaften erwuchsen, so genau unterrichtet, wie über die Geschichte des Werther, so würden wir die Erlebnisse des Dichters in jenem Roman so gut verkörpert finden wie in diesem; da aber in solchen Fällen sich auf Vermuthungen einzulassen gefährlich ist, so wage ich mich nicht über die Thatsachen hinaus, von denen ich habe Kenntniß nehmen dürfen, und beschränke mich auf die Bemerkung, daß die beiderseitigen Freunde mit Kummer und Sorge eine Neigung wachsen sahen, die zu keinem guten Ende führen konnte; daß man endlich beschloß, Minna in eine Pension zu schicken (auch in dem Roman wird Ottilie wieder in ihre Pension geschickt), und daß diese völlige Trennung beide rettete.

Die Wahlverwandtschaften im Lichte dieser Geschichte zu lesen, ist sehr interessant; wir sehen da nicht nur, aus welcher Quelle die Eingebung des Dichters entsprungen ist, sondern auch, wie Goethe die beiden Hälften seines eigenen Wesens künstlerisch darstellt – ein Punkt übrigens, den wir bereits früher (Band I. S. 258) besprochen haben.

Eduard und Charlotte haben einander in ihrer Jugend geliebt. Umstände sind dazwischen getreten, und beide haben Convenienzheirathen geschlossen, von denen sie nach einiger Zeit der Tod ihrer Gatten befreite. Nun nicht länger gebunden, beschließen Wittwer und Wittwe natürlich, den Traum ihrer Jugend zu verwirklichen. Sie heirathen sich. Zu Anfang der Geschichte sehen wir sie in friedlichem Glücke. Obgleich einige wenige stille Andeutungen einen gewissen inneren Gegensatz ihrer Naturen erkennen lassen, der zwar nicht stark genug ist, sie unglücklich zu machen, aber eine vollkommene Sympathie zu stören hinreicht, könnte doch selbst das schärfste Auge nichts entdecken, was die Dauer ihres Glückes bedrohte. Eduard hat einen Freund, den Hauptmann, der ihm fast ein Bruder ist; diesen ladet er zu dauerndem Besuche ein. Charlotte hat sich der Einladung zuerst entschieden widersetzt, da ihr eine dunkle Ahnung Uebles weissagt – »nichts ist bedeutender in jedem Zustande als die Dazwischenkunft eines Dritten« – aber sie giebt nach, weil sie ihre angenommene Tochter Ottilie aus der Schule zu nehmen und bei sich zu haben wünscht.

So werden die vier Personen dieses Drama's zusammengeführt, und kaum sind sie bei einander, als die angebornen Wahlverwandtschaften ihrer Naturen zu wirken beginnen. Charlotte und der Hauptmann werden zu einander hingezogen, ebenso Eduard und Ottilie. Der Dichter läßt das wie eine Naturnothwendigkeit sich vollziehen, so unvermeidlich und unaufhaltsam wie die chemischen Prozesse, mit denen er die geistigen Vorgänge erläutert. Ein Stück aus der Tragödie des Lebens ist in aller Realität vor uns; wir fühlen, daß es unvermeidlich, daß es schrecklich ist, und zugleich erkennen wir, daß es der moralischen Beurtheilung eine Frage zur Entscheidung bietet, bei der zwei Parteien mit ganz entgegengesetzter Lösung einander entgegenstehen werden.

Die Kritiker, welche das menschliche Leben und mithin die Kunst von einem abstrakten Gesichtspunkte beurtheilen und ohne Rücksicht auf die Thatsachen und ihre innere Nothwendigkeit die Menschennatur wie ein Schachbrett ansehen, auf dem der Spieler jeden beliebigen Zug machen kann, indem er selbst in ihren Augen nur ein todtes Werkzeug ist ohne Persönlichkeit, ohne Uebereilung, über die Möglichkeit des Irrthums erhaben – wie könnte er je übersehen, was doch für die Umstehenden so handgreiflich ist! – diese Kritiker, meine ich, werden jene Situation für eine unsittliche erklären, die der Dichter nicht hätte darstellen dürfen und die im wirklichen Leben ein ernstes Pflichtgefühl sofort überwunden haben würde.

Für andere dagegen, welche das Leben nehmen, wie es ist, nicht wie es sein könnte, welche die Menschennatur nicht so mathematisch einfach sich zurechtmachen, sondern ein Auge dafür haben, wie wunderbar verschlungen ihre Triebe sind, welche in gleichem Sinne auch fordern, daß die Kunst das Leben in seiner Wirklichkeit darstelle – für die hat jene Situation eine furchtbare Wahrheit, für die ist sie tragisch, aber keineswegs unsittlich; denn das Tragische liegt in dem Konflikt von Leidenschaft und Pflicht, von Menschentrieb und Menschensatzung. Wären Charlotte und Eduard unverheirathet, so würden jene »Wahlverwandtschaften« einfach zur Heirath führen, aber die Thatsache ihrer Ehe steht als eine Schranke da für den »verwandtschaftlichen« Trieb, und so ist der Conflikt unvermeidlich.

Die hier angedeutete Meinungsverschiedenheit besteht begreiflicher Weise unter zwei großen Klassen von Lesern. Der Roman gilt den einen für unsittlich, den andern für tief sittlich. Ich glaube, er ist weder das eine, noch das andere. Wenn jene ihn tadeln, daß er die ganze Grundlage der Ehe untergrabe, und diese ihn begeistert als tief sittlich preisen, weil er die Heiligkeit der Ehe so klar ins Licht setze, so ziehen beide nach meiner Ansicht gewisse allgemeine Folgerungen aus einem einzelnen Falle, aber sie legen doch nur ihre Deutungen in etwas hinein, was der Dichter selbst überhaupt nicht gedeutet wissen wollte. Jedes Kunstwerk hat seine Moral, sagt Hegel, aber diese Moral hängt von dem ab, der sie zieht. Es lassen sich daher jene Folgerungen beide aus dem Roman ziehen, und doch braucht keine von beiden genau zuzutreffen Die Wahlverwandtschaften schließen tragisch; deutlicher kann Goethe nicht sprechen, wenn man nur lesen will. Anm. d. Uebers.. Goethe war ein Künstler, nicht ein Vertheidiger oder Ankläger der Ehe; er zeichnete ein Bild, treu nach dem Leben, und grade weil es so treu ist, bietet es auch eben so verschiedene Seiten der Auffassung, wie die Wirklichkeit selbst, die es darstellt. Nehmen wir an, die Geschichte habe sich wirklich vor unseren Augen zugetragen – würden nicht selbst unter denen, die von den Thatsachen genau unterrichtet wären, vollständig entgegengesetzte Urtheile laut werden? Eine Geschichte zu schreiben, in der die Moral auf jeder Seite deutlich zu lesen stände, ist nicht schwer, und wenn der Verfasser vorzugsweise einen einfachen Satz der Moral erläutern will, so braucht er sich um die Wahrheit der Charakterschilderung nicht besonders zu kümmern: ihm ist ja die Charakterzeichnung nicht Zweck, nur Mittel zum Zweck, er will belehren, nicht künstlerisch befriedigen. Ganz anders verfährt der Künstler: ihm ist das Menschenleben Zweck und Ziel, ihm ist das wichtigste der Charakter seiner Menschen, und der ist ja, wie wir alle wissen, aus mancherlei Fäden gewebt: Gutes und Böses, Tugend und Schwäche, Wahrheit und Falschheit sind darin unentwirrbar in einander verschlungen.

Wer solche Bilder des Menschenlebens nicht mag und die Treue der Darstellung nicht für einen Freibrief gelten läßt, der hat nicht Unrecht, Goethe wegen der Wahl des Stoffes für die Wahlverwandtschaften zu tadeln. Aber er traf diese Wahl, weil er die Sache selbst erlebt hatte. Und den Stoff einmal zugestanden, wird es schwer, die Art der Behandlung zu tadeln; abgesehen freilich von der einen Scene, die jeden Leser verletzen muß. Von den Personen des Stückes stellen zwei die Leidenschaft dar, wie sie in verzehrender, blinder, unwiderstehlicher Gluth auf ihr Ziel losstürmt; gleich stark und ergreifend edel repräsentiren die beiden andern den ernsten Gedanken der Pflicht. Eduard und Ottilie lieben rasch, heftig, ohne Ueberlegung; sie beunruhigt kein Zweifel; ihre Empfindung ist so natürlich, nimmt sie so ganz ein, als wären sie Kinder, die zum ersten Male lieben. Aber so lebendig sie den natürlichen Trieb, so lebendig repräsentiren Charlotte und der Hauptmann die Vernunft; ihre Liebe ist nicht weniger tief, aber sie lieben wie verständige Wesen, die, weil sie Verstand haben, auch die umgebenden Verhältnisse verständig erfassen, die Gesellschaft mit ihren Einrichtungen und Gesetzen anerkennen und ihre eigenen Begierden dieser gesellschaftlichen Nothwendigkeit zum Opfer bringen. Sie überwinden sich selbst, bieten dem Leiden die Stirn, ihr Gewissen giebt ihnen Kraft und schreibt ihnen eine Haltung vor, von der Eduard und Ottilie in ihrer Leidenschaftlichkeit sich nie etwas träumen lassen.

Eduard erfährt kaum, daß ihn Ottilie wieder liebt, als er heftig auf eine Scheidung dringt, die ihn wie seine Frau frei machen werde. Unglücklicher Weise fühlt Charlotte nach langer kinderloser Ehe sich Mutter. Dadurch verwickelt sich die Lage, die bisher verhältnißmäßig einfach war. Ohne die neue Hoffnung hätte Charlotte wohl gern in die Scheidung gewilligt, aber nun kann sie nicht; die Pflicht gegen das Kind verbietet es. Alle Gründe, Eduard von seinem leidenschaftlichen Begehren abzubringen, fruchten nichts; das einzige, wozu er sich entschließt, ist sich zu entfernen und in der Entfernung die Beständigkeit seiner Leidenschaft zu erproben. Er zieht in den Krieg, zeichnet sich durch Tapferkeit aus und kehrt zurück – seine Leidenschaft so mächtig wie je. Unterdeß hat auch der Hauptmann sich entfernt. Charlotte trägt ihr Schicksal sanft und edel. Ottilie nährt im Stillen ihre Liebe zu Eduard und nimmt sich mit inniger Neigung des Kindes an. Im Einklang mit einem gewöhnlichen Volksglauben – den beiläufig die Physiologie nachdrücklich Lügen straft – hat dies Kind eine schlagende Aehnlichkeit sowohl mit Ottilie wie mit dem Hauptmann, und ist so ein lebendiger Zeuge der Leidenschaft Eduards für Ottilie und Charlottens für den Hauptmann. Wie Charlotte sich selbst stark genug fühlt, ihr Schicksal zu tragen, so giebt sie auch die Hoffnung nicht auf, Eduard werde das seine ebenso tragen lernen. Aber er bleibt unbeweglich; der Widerstand verstärkt nur sein Verlangen. Endlich rafft ein trauriger Zufall das Kind hinweg; aus Ottiliens Arm fällt es ins Wasser und ertrinkt. In der Tiefe ihres Jammers bricht ein Lichtstrahl aus der Höhe in Ottiliens Gemüth; zum ersten Male kommt ihr das Bewußtsein, daß sie »aus ihrer Bahn gewichen«, daß sie Unrecht habe, Eduard's Frau werden zu wollen. Mit diesem Bewußtsein ist auch sogleich der Entschluß da, niemals die seine zu werden. Die Tragödie vertieft sich. Ottilie ist gebrochen, verzehrt sich geistig und körperlich; Eduard, der nur in der Leidenschaft für sie gelebt hat, verharrt noch eine Weile in stummem Schmerz und findet dann Ruhe an ihrer Seite.

Das ist in seinen großen Zügen das furchtbar tragische Drama, welches Goethe mit unendlicher Sorgfalt in den Wahlverwandtschaften ausgearbeitet hat. Die Geschichte bewegt sich langsam wie im wirklichen Leben durch mannigfache Vorgänge und Zwischenfälle vorwärts, aber bei aller Langsamkeit ist sie immer verständlich und durchsichtig.

Es bedarf nur einer Hindeutung auf den Ursprung dieses Romans, und wir erkennen sogleich, wie Goethe darin sich selbst unter zwei verschiedenen Gestalten dargestellt hat, als der leidenschaftliche Eduard und als der verständige, willensstarke Hauptmann. Diese Charaktere hat er aus dem Leben, hat er aus sich selbst genommen. Als Romanfiguren sind sie meisterhaft. Eduard, der schwache, leidenschaftliche, heißblütige Eduard, hält doch selbst in den Augenblicken seiner größten Schwäche unsere Theilnahme fest. Welch ein bewunderungswürdiger Zug ist der, wo er gleich zu Anfang der Verwickelung erfährt, daß der Hauptmann sein Flötenspiel getadelt habe, und sich sofort »von allen Pflichten losgesprochen« fühlt! So sind diese leidenschaftlichen Naturen: bei jedem noch so nichtigen Vorwände fahren sie auf, wenn er ihnen nur einen Schein von Berechtigung bietet. Charlotte und der Hauptmann stehen als Repräsentanten der Pflicht und Vernunft im Gegensatz zu Ottilie und Eduard, den Vertretern des Triebes und Aberglaubens, und in diesen beiden Verstandsmenschen hat Goethe das Große erreicht, die Verständigkeit liebenswürdig zu machen. Zwei edlere Charaktere wird man nicht leicht finden, man müßte denn über die Wirklichkeit hinaus in das Gebiet der Ideale gehen.

Rosenkranz hat hervorgehoben, wie gut die verschiedenen Arten der Ehe in diesem Romane dargestellt sind. Eduard und Charlotte haben zuerst eine Convenienzheirath versucht, dann eine Heirath aus Freundschaft; jene war unglücklich, auch diese genügte nicht; es war keine Heirath aus Liebe. Daneben haben wir in der Verbindung des Grafen und der Baronesse eine von den Ehen, wie man sie in der Welt so oft findet – eine bloße Form, die auch bei andern nur als Form gilt. Darum ist der Graf als ein leichtfertiger Lebemann gezeichnet, der mit St. Simonistischen Theorien spielt und eine Ehe auf Probe wünscht, die alle fünf Jahre gekündigt werden kann.

Mit Bewunderung wird man ferner bemerken, wie die Personen des Romans in ihren Gedanken, Reden und Handlungen ohne irgend eine Schilderung oder einen erläuternden Zusatz des Dichters sich selbst geben. Die ganze Darstellung ist so objektiv, so einfach und der Gang der Erzählung bewegt sich so ruhig und in einem so behaglichem Stillleben von Einzelheiten, daß ich kaum etwas damit zu vergleichen weiß. Ausländer fühlen sich zwar durch die Menge kleiner Vorgänge, welche den Gang der Erzählung aufhalten und unsere Neugier nach der Entwickelung auf eine böse Geduldprobe stellen, bisweilen etwas gelangweilt, aber die Deutschen theilen dies Gefühl nicht; sie haben ihre Freude an der Einzelschilderung und den Absichten des Dichters, die sie dabei vermuthen. Ein befreundeter Kritiker, dessen Urtheil immer Beachtung verdient, ist der Ansicht, die langen Episoden, welche den Gang der Geschichte während Eduards Abwesenheit unterbrechen, seien künstlerische Hülfsmittel, um dem Leser ein Bild von der langsamen Bewegung des wirklichen Lebens zu geben, und in Wahrheit grenze nur in Werken der Dichtung die Lösung nahe an die Verwicklung. Ich gebe diese Ansicht der Beurtheilung des Lesers anheim; mir scheint sie mehr scharfsinnig als richtig. Ich meinerseits muß gestehen, daß die Breite, mit der Goethe die Verbesserungen im Park, die Errichtung der Mooshütte, die Wiederherstellung der Kapelle, die Anlage neuer Wege und mehr dergleichen schildert, mir außer allem Verhältniß und einigermaßen langweilig scheint. Er hatte ursprünglich nur die Absicht, eine kleine Erzählung, eine Novelle zu schreiben, und dafür war der Stoff mehr als hinreichend; aber er dehnte die Novelle zu einem Romane aus und hat damit ein Meisterwerk verdorben.

Der Stil der Wahlverwandtschaften wird in Deutschland höchlich bewundert; Rosenkranz erklärt ihn für klassisch. Wenn wir indeß bedenken, daß ein deutsches Urtheil über Goethe meist mit derselben Vorsicht ausgenommen werden muß, wie ein englisches über Shakespeare, so werden wir schon eher auf die deutschen Kritiker hören, welche den Stil der Wahlverwandtschaften nicht so unbedingt loben. In einer solchen Frage ein Urtheil zu wagen, ist für einen Ausländer eine mißliche Sache, aber das glaube ich doch behaupten zu dürfen, daß diese Prosa, mit der seiner früheren Werke verglichen oder mit dem Maße klassischer Prosa gemessen – und an einen so großen Schriftsteller darf man nur den höchsten Maßstab legen – oft schwach, kalt, mechanisch im Satzbau und wegen der überwiegend abstracten Ausdrücke ohne Leben ist. Grade so wie die Personen des Stücks zum guten Theil nur nach ihrer Lebensstellung, nicht mit persönlichen Namen genannt werden – sie heißen: der Hauptmann, der Architekt, die Vorsteherin, der Gehülfe, der Engländer, der Begleiter, der Geistliche, der Wundarzt; auch Mittler's Name ist kaum ein persönlicher – so werden auch die Dinge vielfach mit abstrakten Ausdrücken bezeichnet, concrete Wendungen dagegen vermieden, Umschreibungen der unmittelbaren Bezeichnung vorgezogen. Auch wiederholen sich gewisse stehende Redeformen bis zur Ermüdung. Daneben freilich finden sich Stellen von hoher Schönheit, Anklänge von Poesie, die keinem Leser entgehen können. Das letzte Kapitel z. B. ist ein Gedicht von einem Pathos, welches in seiner Einfachheit so ergreifend wirkt, daß man in starker Stimmung sein muß, um es mit Ruhe lesen zu können. Auch die Stelle, wo Charlotte und der Hauptmann beim matten Lichte der aufgehenden Sterne zusammen auf dem See sind, ist ein Gedicht, dessen Musik wie Verse klingt. Als letztes und zugleich glänzendstes Beispiel dieser sprachlich vollendeten Stellen sei die angeführt, wo Ottilie das Kind aus dem Wasser in den Kahn gezogen hat und es ins Leben zurückzurufen sich bemüht.

»Sie entkleidet das Kind und trocknet's mit ihrem Musselingewand. Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum ersten Mal dem steten Himmel; zum ersten Mal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust, ach! und kein Lebendiges! Die kalten Glieder des unglücklichen Geschöpfs verkälten ihren Busen bis ins innerste Herz. Unendliche Thränen entquellen ihren Augen und ertheilen der Oberfläche des Erstarrten einen Schein von Wärme und Leben. Sie läßt nicht nach, sie überhüllt es mit ihrem Shawl, und durch Streicheln, Andrücken, Anhauchen, Küssen, Thränen glaubt sie jene Hülfsmittel zu ersetzen, die ihr in dieser Abgeschiedenheit versagt sind. Alles vergebens! Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung steht der Kahn auf der Wasserfläche; aber auch hier läßt ihr schönes Gemüth sie nicht hilflos. Sie wendet sich nach oben. Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch an Kälte dem Marmor gleicht. Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Hülfe von daher, wo ein zartes Herz die größte Fülle zu finden hofft, wenn es überall mangelt. Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln hervorzublinken anfangen. Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den Kahn nach den Plantanen.«

Minna Herzlieb, die zu den Wahlverwandtschaften den Anlaß gegeben hat, wurde später eine glückliche Frau. Goethe trug den Pfeil lange im Herzen. Im Jahre 1810 gab er seiner Empfindung noch einmal in einem erotischen Gedichte Ausdruck, welches den Conflict von Liebe und Pflicht behandelte; der Inhalt gestattete indeß die Veröffentlichung nicht, und auch jetzt ist es nur handschriftlich vorhanden.

In demselben Jahre begann er seine eigene Lebensbeschreibung, deren Anfang 1811 als erstes Buch von Wahrheit und Dichtung erschien. Das Publikum nahm es begierig zur Hand und war gründlich enttäuscht. Das ist vollkommen begreiflich; so anziehend die Schrift in jeder anderen Beziehung ist, für die, welche den großen Dichter selbst als Kind und Knaben sehen möchten, ist sie eine wahre Marter. Goethe freilich war von der kalten Aufnahme sehr unangenehm betroffen; die Deutschen, äußerte er, hätten die eigene Art, nichts annehmen zu können, wie man es ihnen gebe; reiche man ihnen den Stiel des Messers, so verlangten sie die Spitze, und umgekehrt; erst wenn sie sich mit einer Sache länger befreundeten, seien sie einsichtig, gut und wahrhaft liebenswürdig. Heutzutage würde Goethe bester zufrieden sein; die meisten sehen sein Jugendleben fast nur in dem Lichte, wie er selbst von der Höhe seines sechzigsten Jahres es angeschaut und wiedergespiegelt hat; mit Recht aber und allgemein gilt »Wahrheit und Dichtung« als eine meisterhafte und getreue Darstellung einer bedeutenden Culturepoche des vorigen Jahrhunderts.

Ehe er daran ging, sein Leben zu schreiben, traf ihn der Schmerz seine Mutter zu verlieren. Sie starb am 13. September 1808 in ihrem achtundsiebenzigsten Jahre. Bis zum letzten Augenblicke war die Liebe zu ihrem Sohne, die Freude an seinem Talent, der Stolz auf ihres Wolfgangs Ruhm, und seine Liebe zu ihr auch, der Genuß ihres Alters gewesen. Er hatte sie bei sich in Weimar zu haben gewünscht, aber der Kreis alter Bekanntschaften und langjährige Gewohnheit hielt sie trotz aller Kriegsunruhen in ihrer Vaterstadt fest, wo sie allgemein verehrt wurde. Sie starb wie sie gelebt, heiter bis ans Ende. Als während ihrer letzten Krankheit noch eine Einladung an sie kam, ließ sie antworten: Frau Rath könne nicht kommen, Frau Rath müsse allweil sterben, und ihr Leichenbegängniß ordnete sie selbst so pünktlich an, daß die Weinsorte und die Größe der Bretzeln, womit die Begleiter erquickt werden sollten, genau bestimmt war; sie wollte auch im Tode keine unfreundlichen Gesichter um sich haben.



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