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Zweiter Abschnitt.
Wilhelm Meister.

Philosophische Kunstkritik in Deutschland und Protest des gesunden Menschenverstandes. – Goethe's ursprünglicher Plan für den Meister. Abänderungen desselben. Schiller's Einwendungen. Zwiefache Beziehung des Romans auf das Schauspielerwesen und auf die Erziehung. Die Charaktere im Roman. »Künstlerischer Atheismus«. Angebliche Unsittlichkeit des Wilhelm Meister hat im Gegentheil seine tiefe und gesunde Moral. – Die »Bekenntnisse einer schönen Seele«. – Die Kritik über Hamlet. – Schillers hohes Lob.

In Deutschland ist eine Art von philosophischer Kunstkritik sehr beliebt – und auch in England zählt sie ihre Anhänger –, die sich am Wilhelm Meister fast so erbarmungslos als am Faust versucht hat und sich bei der Erklärung Shakespeare's auf den Gipfel des Unsinns steigert. Gewiß giebt es in Deutschland viele vortreffliche Kritiker, und es sollte mir leid thun, wenn mein Spott gegen Pedanten und hochmüthige Thoren auf wirklich philosophische Köpfe gemünzt zu sein schiene; aber im Namen der Kunst und des gesunden Menschenverstandes muß ich gegen den Grundirrthum und die Uebertreibungen einer Schule Verwahrung einlegen, die höchst tiefsinnig zu sein beansprucht und doch nichts ist als höchst abgeschmackt. Der Grundirrthum ist der, daß man die Kunst in Philosophie auflöst und dies dann Philosophie der Kunst nennt. Dem Kritiker liegt ein Kunstwerk vor; statt es an sich zu beurtheilen, sucht er dahinter zu kommen, sich darunter zu schleichen, dem Schöpfer des Werks in die Tiefen der Seele zu dringen; nicht zufrieden mit dem was der Künstler gegeben, verlangt er auch zu wissen was er gewollt hat, räth danach herum, und je weiter diese Absicht des Künstlers entfernt liegt auf seiner Gedankenwanderung, desto mehr ist er von seiner Entdeckung erbaut und verwirft zu ihren Gunsten jede einfache und natürliche Erklärung. So lagern sich kunstphilosophische Grillen wie ein Nebel um die Kunst und entziehen uns ihren klaren Anblick. Zwar hat von dieser angeblichen Absicht des Künstlers niemand vorher etwas gewußt, am allerwenigsten der Künstler selbst, aber das ist eben der Stolz des Kritikers; er kann sich rühmen, in die Tiefen der Künstlerseele eingedrungen zu sein. Von allem was es für den Deutschen von dieser Schule Schreckliches giebt, ist das sogenannte Oberflächliche der schrecklichste der Schrecken.

Wilhelm Meister hat solcher Kunstbetrachtungen so viele veranlaßt, ist aus den Tiefen des sittlichen Bewußtseins so vielfach construirt worden, hat schon so wunderbaren und so widersprechenden Deutungen unterliegen müssen, daß der Dichter selbst sich gewiß über seinen unbewußten Tiefsinn verwundert hätte. In dem letzten Theile dieses Romans ist offenbar manches symbolisch gemeint, und ich zweifle so wenig, daß dieses der deutschen Kunstrichtung zu Liebe geschah, wie ich zweifle, daß in Folge dessen ein Meisterstück verdorben ist. Der augenfällige Mangel an Einheit in diesem Kunstwerk hat der Einbildungskraft der Erklärer vollen Spielraum gelassen. Hildebrand hat es kühn ausgesprochen, die Idee des Wilhelm Meister sei genau die, daß er keine habe – was denn freilich unser Verständniß nicht sehr fördert.

Wir unsererseits wollen, statt uns um den Grundgedanken zu bemühen, fest an der historischen Kritik halten und nachsehen, wie weit der Ursprung und die Entstehung des Werkes über den Sinn Licht geben. Daß die ersten sechs Bücher – ohne Zweifel die besten und bedeutendsten von allen – vor der Reise nach Italien geschrieben sind, steht fest; Goethe schrieb sie, während er für das Theater thätig und Theaterdirektor, Theaterdichter und Schauspieler in einer Person war. Der Inhalt dieser Bücher läßt auf das klarste seine Absicht erkennen, die ganze Art, das Ziel und die Kunst des Schauspielers darzustellen, und in einem Briefe an Merck sagt er ausdrücklich, es sei seine Absicht, das Schauspielerleben zu zeichnen. Ob er das symbolisch meinte, kann nicht bestimmt entschieden werden. Vielleicht war das Symbolische eine Nebenansicht, vielleicht auch nicht; der Grundgedanke jedenfalls ist durchaus klar. Auch hatte er sich damals noch nicht der Symbolik in der Kunst zugewandt. Er sang wie der Vogel singt, und sein Entzücken war eine gesunde Objektivität. Am Schauspielerwesen und an der Schauspielkunst nahm er ernsten Antheil. Das Leben eines Schauspielers schien ihm ein passender Rahmen für gewisse Bilder, und darum wählte er es zum Gegenstände eines Romans. Später kam ihm gewiß der Gedanke, jene Bilder zu symbolisiren, und der Schluß des Romans ist in diesem Sinne gearbeitet.

Gervinus spricht sich nachdrücklich gegen die Ansicht aus, als habe Goethe in der ersten Anlage den Wilhelm als zur Schauspielkunst nicht befähigt darstellen wollen, und ich glaube, nach genauer Prüfung muß man ihm darin Recht geben. Statt in einer falschen Richtung befangen zu erscheinen (wie es Goethe in Bezug auf klassische Kunst selbst gewesen war), erscheint Wilhelm auch in der jetzigen Gestalt des Werkes, wo nach dem späteren Plane schon in den ersten Abschnitten manche neue Andeutungen eingestreut sind, als ein Mensch von ächtem angebornem Schauspielertalent, dem zur Vollendung nur die Uebung fehlt. Mit der Aufführung des Hamlet tritt nach dieser Seite hin der äußerste Punkt ein, und nur bis dahin geht der erste Plan. Nachdem er soweit geschrieben, reiste Goethe nach Italien. Wie sich seine Anschauungen da änderten, haben wir gesehen. Nach einem Zwischenraume von zehn Jahren nahm er den Roman wieder auf, und da er in dieser Zeit selbst eine falsche Richtung durchlebt, die Fruchtlosigkeit der Ausbildung eines unvollkommenen Talents eingesehen hatte, so änderte er den ursprünglichen Plan, machte daraus eine symbolische Darstellung des vergeblichen Strebens der Jugend nach Bildung und setzte mit sehr ungeschickter Erfindung die langweilige Geschichte von der geheimnißvollen Gesellschaft hinein, die alle Schritte Wilhelm's überwacht und ihn in seinem Irrthum bestärkt, um ihn durch Irrthum zur Wahrheit zu führen. In seinen späteren Jahren erklärte er diesen Plan für den ursprünglichen. »Der Wilhelm Meister, schreibt er in den Tages- und Jahresheften, entsprang aus einem dunklen Vorgefühle der großen Wahrheit, daß der Mensch oft etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt ist, wozu ihm Fertigkeit nicht werden kann. Hierzu kann alles gerechnet werden, was man falsche Tendenz, Dilettantismus u. s. w. genannt hat. Und doch ist es möglich, daß alle die falschen Schritte zu einem unschätzbaren Guten hinführen – eine Ahnung, die sich im Wilhelm Meister immer mehr entfaltet, aufklärt und bestätigt.« Und gegen Eckermann äußerte er: »Es gehört dieses Werk zu den incalculabelsten Produktionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt. Man sucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch blos für den Begriff ist.« Das heißt den Kern der Sache treffen. Indeß der deutsche Geist verlangt nun einmal symbolische Nahrung. »Und so, fährt Goethe fort, will man dergleichen (eine Tendenz) durchaus, so halte man sich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unsern Helden Wilhelm richtet, indem er sagt: Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand. Hieran halte man sich; denn im Grunde scheint das Ganze nichts anderes sagen zu wollen, als daß der Mensch, trotz aller Dummheiten und Verirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange.«

Schiller, der nur den zweiten Plan kannte, erklärte sich mit Recht gegen den allzu großen Raum, der dem Schauspielerwesen gegeben sei. »Es kommt mir zuweilen vor, schreibt er an Goethe, als ob Sie demjenigen Theile, der das Schauspielwesen ausschließend angeht, mehr Raum gegeben hätten, als sich mit der freien und weiten Idee des Ganzen verträgt. Es sieht zuweilen aus, als schrieben Sie für den Schauspieler, da Sie doch nur von dem Schauspieler schreiben wollen. Die Sorgfalt, welche Sie gewissen kleinen Details in dieser Gattung widmen, und die Aufmerksamkeit auf einzelne kleine Kunstvortheile, die zwar dem Schauspieler und Direktor, aber nicht dem Publikum wichtig sind, bringen den falschen Schein eines besondern Zweckes in die Darstellung, und wer einen solchen Zweck auch nicht vermuthet, der möchte Ihnen gar Schuld geben, daß eine Privatvorliebe für diese Gegenstände Ihnen zu mächtig geworden sei!« Beim zweiten Plane muß es auch als ein Fehler der Composition bezeichnet werden, daß die Einleitung fünf Bücher füllt, eines episodisch ist und nur zwei der eigentlichen Entwicklung gewidmet sind. Das ist durchaus gegen alles richtige Verhältniß. Und doch sagt Friedrich Schlegel in seiner vortrefflichen Kritik ausdrücklich, die beiden letzten Bücher seien eigentlich das ganze Werk, die andern seien nur Vorbereitungen.

Der Wilhelm Meister verfolgt zwei Aufgaben, die Verherrlichung der Schauspielkunst und die Theorie der Erziehung. Die letzten beiden Bücher handeln fast nur von der Erziehung. Sehr weise und tiefe Gedanken werden entwickelt und entschädigen uns für die Gewöhnlichkeit der Erfindung. Sonst aber stehen diese Bücher an Stil, Charakter und Interesse den ersten Abschnitten jämmerlich nach.

Im Ganzen ist Wilhelm Meister in der That ein »incalculables Werk«. Meine zuerst etwas kühle Bewunderung hat sich durch wiederholte Lektüre mächtig gesteigert und ebenso sind mir auch die Fehler klarer geworden. Die Schönheiten sind immer neu, immer wunderbar, die Fehler drängen sich in immer gleicher Schärfe auf.

Der Roman hebt mit großer dramatischer Lebendigkeit an. Marianne und die alte Barbara stehen vor uns in Umrissen so scharf, wie von Shakespeare's Hand. Die ganze Geschichte ist bewundernswerth, mit Ausnahme freilich der langen und etwas langweiligen Erzählung Wilhelm's über das Puppentheater, eine Erzählung, bei der vermuthlich mancher Leser so gut eingeschlafen ist wie Marianne. Der Gegensatz zwischen Wilhelm und dem prosaischen Werner ist auch geschickt gezeichnet. Aber die glücklichsten Züge sind die, in denen Wilhelm's Unentschlossenheit und Mangel an Ausdauer hervortritt; sie enthüllen seine eigentliche Natur; denn im ganzen Roman ist Wilhelm nicht der Held, sondern das Geschöpf der Ereignisse. Das ist mit großer Kunst durchgeführt. Götz und Egmont sind Helden; so stürmisch die Zeiten, sie stehen unerschüttert. In ihnen wollte der Dichter edle Charaktere darstellen, und er stellte sie uns dar in ihrer festen, klaren, den Verhältnissen überlegenen Individualität. Im Wilhelm Meister bewegte sich der Dichter nach einer andern Richtung; er wollte zeigen, wie Menschen, die sich von jedem äußern Einfluß bestimmen lassen, sich ändern und entwickeln. Bei einem Charakter wie Egmont wären die Wandlungen, die Wilhelm durchmacht, unmöglich; das scheint sich so von selbst zu verstehen, daß es uns Wunder nehmen muß, wie Kritiker den schwankenden Charakter Wilhelm's als einen künstlerischen Fehler tadeln können. Man könnte ebensogut die Schwankungen Hamlets tadeln. Wilhelm schwankt nicht nur leicht von einem Ding zum andern, sondern ändert auch seine Meinung über sich selbst fortwährend. Eben so wenig beständig ist er in seinen Empfindungen; von der Liebe zu der leidenschaftlichen Marianne geht er zu einer Neigung für die leichtfertige Philine über, von Philine zu der Gräfin, um diese sogleich wieder gegen die Amazone zu vergessen; schon im Begriff, Therese zu heirathen, verläßt er sie, sobald sie ihm zugesagt hat, und bewirbt sich um Natalie.

Eine interessante Eigenthümlichkeit des Romans sind die reichen Anklänge von Humor, nach denen Goethe Anlage genug zu einem humoristischen Schriftsteller hatte, nur daß sie durch andere Fähigkeiten zurückgedrängt wurde. Wilhelm's unbewußte Pedanterei und sein leidenschaftliches Verlangen, den Schmuck und Schein der Bühne auch in das Leben zu übertragen, der Graf mit seinen Phantastereien, die Erlebnisse der Schauspieler in dem Schlosse, das theatralische Costüm, mit dem Wilhelm sich aufputzt, der ganze Charakter Philine's und Friedrich's sind Beispiele dieser humoristischen Begabung.

Den Inhalt des Romans zu erzählen, hieße dem Dichter Unrecht thun; ich setze ihn als bekannt voraus, und meine Kritik hat nun leichte Arbeit. Ich brauche nur aus die wunderbare Kunst hinzudeuten, mit der die Charaktere sich entfalten. Wir sehen sie, wir durchschauen sie. Sie werden nie geschildert, sie stellen sich selbst dar. Philine z. B., eins der bezauberndsten und originellsten Geschöpfe der Dichtung, die wir so gut kennen, als hätte sie mit uns selbst kokettirt und uns zum Besten gehabt, wird niemals beschrieben; selbst wie sie aussieht, erfahren wir nicht aus der unmittelbaren Erzählung des Dichters, sondern aus dem Eindruck, den sie auf Andere macht. Daß sie eine seltsame Mischung von Leichtsinn, Edelsinn, Laune, Trotz, Zärtlichkeit und Munterkeit ist, ein lebhaftes Mädchen, eine halbe Französin, auf Anstand möglichst wenig Rücksicht nimmt, aber einen wahren Anstand für sich apart hat, der Welt ein Schnippchen schlägt, alle Regeln der Ordnung als langweilig und pedantisch verachtet, durchaus keine idealen Anflüge hat, aber auch den Schein zu heucheln verschmäht, mit allen Männern kokettirt, allen Frauen ein Greuel ist, jeden um den Finger wickelt und doch selbst denen, die ihr Böses gethan, gern gefällig und freundlich ist – das alles erzählt uns der Dichter nicht, sondern so lebt sie vor unsern Augen. Sie ist so natürlich, eine so reizende Sünderin, daß wir ihr alles vergeben. Im Ganzen ist sie die originellste und für die künstlerische Darstellung schwierigste Figur des Romans. Mignon, diese herrliche poetische Gestalt, war, einmal erfunden, leichter zu zeichnen. Alle die andern Frauencharaktere stehen zu Philine im Gegensatz, sie heben sich gegenseitig. Die krankhaft sentimentale Amelie und die schwärmerische Melina haben einen Ernst, an den Philine nicht heranreicht, aber sie haben auch die entsprechenden Fehler, von denen sie frei ist. Sie hat für alles Ernsthafte so viel Sinn, wie ein Vögelchen; munter und lebenslustig zwitschert sie durch Regen und Sonnenschein. Die Forderungen der Moral an sie zu stellen kommt uns nie in den Sinn. Moral! was weiß sie davon? nicht einmal aus dem Grüßfuß steht sie mit ihr! Doch kann sie auch nicht unsittlich genannt werden. Mit Mignon verglichen steht sie freilich der Unschuld, dem sittlichen Ernst, der hingebenden Aufopferung und dem dunklen Heimweh nach einem Jenseits gegenüber, denn Philine ist nie unschuldig gewesen; sie ist so listig und gewitzt wie ein Kätzchen; ernst kann sie nicht sein; wenn sie nicht lacht, muß sie gähnen oder weinen, Zärtlichkeit hat sie genug, aber von Hingebung weiß sie nichts, und die Heimath im fernen Jenseits – was braucht sie sich um die zu kümmern, sie, die überall ihr Nest aufschlagen kann? Wohl ist es möglich, über Philine sehr strenge zu urtheilen, aber wie manches unartige Kind entwaffnet sie unsere Strenge durch ihre Anmuth.

Ueber Mignon und ihre Lieder brauche ich kein Wort zu sagen. Maler haben versucht, von diesem seltsamen Wesen, welches die Einbildungskraft und das Herz jedes Lesers mit süßem Zauber fesselt, ein Bild zu geben, aber die Kraft des Pinsels erlahmt an der Aufgabe. Der alte Harfner ist eine wilde Bardengestalt, in ein dunkles Geheimniß gehüllt, welches erst am Schlusse sich aufklärt. Er vermehrt nicht nur die bunte Mannigfaltigkeit der Charaktere dieses Romans, seine Gesänge geben demselben auch eine Tiefe von Leiden und Leidenschaft, die in dem schlichten Kreise, wo der Roman sich sonst bewegt, nicht am Platze wäre. Diese beiden poetischen Figuren deuten von dem prosaischen Hintergründe hinaus auf eine fremde Welt von Schönheit; sie wirken wie ein Regenbogen in den Straßen von London. Serlo, Laertes, der selbstsüchtige Melina und seine empfindsame Frau treten weniger scharf hervor, sind jedoch mit meisterhafter Geschicklichkeit gezeichnet. Sobald wir von ihnen scheiden, das heißt, sobald wir die vor der italienischen Reise geschriebenen Abschnitte hinter uns haben, kommen wir zu Charakteren, wie Lothario, der Abbé, der Arzt, Therese und Natalie, und ein ganz anderer Stil der Behandlung waltet. Aus der frischen Luft der steten Natur treten wir in das Studirzimmer eines Philosophen, die Stelle des Lebens nehmen Abstraktionen ein. Das Interesse der Erzählung fällt gänzlich ab, die Behandlung der Charaktere wird eine ganz andere; sie leben nicht mehr vor uns, sie werden uns geschildert. Die Ereignisse drängen sich, haben wenig Wahrscheinlichkeit und noch weniger Interesse. Die Sprache wird schwach, bisweilen förmlich schlecht; wie die Männer und Frauen ohne Leidenschaft sind, so ist der Stil ohne Farbe und Leben. Von dem ersten Buche konnte Schiller noch sagen: »die kühnen poetischen Stellen, die aus der stillen Fluth des Ganzen wie einzelne Blitze vorschlagen, machen eine treffliche Wirkung, erheben und füllen das Gemüth«; aber die letzten beiden Bücher, mit Ausnahme der ausgezeichneten Erzählung über die Geschichte des Harfners, sind in einer Weise geschrieben, daß z. B. bei uns in England der ganze Roman trotz der wunderbaren Wahrheit und Mannigfaltigkeit der Charaktere und der Schönheit so mancher Partieen fast allgemein für langweilig gilt. In diesen letzten Büchern geht die Erzählung langsam vorwärts und handelt von ganz gewöhnlichen und unwahrscheinlichen Vorgängen; der geheimnißvolle Thurm ist vollends eine abgeschmackte Mystifikation. Was den Stil angeht, so kann man diese Abschnitte nur aufs Gradewohl aufschlagen und man wird sicher einen oder den andern finden, den Goethe schwerlich geschrieben haben würde, und der sich nur daraus erklärt, daß er diktirt hat. Hier einen zur Probe: »Sie können aber hieraus die unglaubliche Toleranz jener Männer sehen, daß sie eben auch mich auf meinem Wege grade deswegen, weil es mein Weg ist, keineswegs stören.«

Eine besondere Eigenthümlichkeit dieses Werkes ist die, welche Novalis wahrscheinlich zu der Bezeichnung »künstlerischer Atheismus« veranlaßt hat »Das Buch handelt blos von gewöhnlichen Dingen, die Natur und der Mysticismus sind ganz vergessen. Es ist eine poetisirte bürgerliche und häusliche Geschichte; das Wunderbare darin wird ausdrücklich als Poesie und Schwärmerei behandelt. Künstlerischer Atheismus ist der Geist des Buchs«. Novalis Schriften 2, 367.. Solch ein Wort sagt sich leicht, klingt gut, ist vielen Deutungen zugänglich und kann daher auf Zustimmung rechnen. Ich verstehe es dahin, daß im Wilhelm Meister der Verfasser sich jedes moralischen Urtheils enthalten hat. Personen betreten die Bühne, Ereignisse gehen an uns vorüber, Gefühle und Gedanken werden ausgesprochen, aber der Verfasser sagt uns mit keinem Worte, wie dieselben zur Moral stehen. Ueber dem thatenreichen Leben seiner Erzählung vergißt er ganz, einen moralischen Wahrspruch zu fällen; das Gute wirkt wohlthätig, aber es wird weiter nicht gelobt; das Schlechte hat böse Folgen, aber es wird nicht ausdrücklich gebrandmarkt. Wir sehen in eine Welt wo der Priester fehlt und nicht einmal der Zipfel seines Talars hineinweht. Für manche Leser ist das ein Mangel, als wenn bei Tisch das Salz fehlt; gegen so einfache, rein sachliche Darstellungen hegen sie eine förmliche Abneigung, sie werden ganz irre dabei. Mögen sie!

Ueber die Unsittlichkeit des Wilhelm Meister ist vielerlei geredet worden; es braucht hier nicht wiederholt zu werden. Was in dieser Beziehung zu sagen ist, hat Schiller richtig getroffen, als er an Goethe schrieb: »Die Jacobi'sche Kritik hat mich nicht im geringsten gewundert; denn ein Individuum wie er, muß eben so nothwendig durch die schonungslose Wahrheit Ihrer Naturgemälde beleidigt werden, als Ihr Individuum selbst ihm dazu Anlaß geben muß. Jacobi ist einer von denen, die in den Darstellungen des Dichters nur ihre Idee suchen, und das was sein soll höher halten als das was ist; der Grund des Streits liegt also hier schon in den ersten Principien, und es ist völlig unmöglich, daß man einander versteht. Sobald mich einer merken läßt, daß ihm in poetischen Darstellungen irgend etwas näher anliegt als die innere Nothwendigkeit und Wahrheit, so gebe ich ihn auf. Könnte er Ihnen zeigen, daß die Unsittlichkeit Ihrer Gemälde nicht aus der Natur des Objekts fließt, und daß die Art, wie Sie dasselbe behandeln, nur von Ihrem Subjekt sich herschreibt, so würden Sie allerdings dafür verantwortlich sein, aber nicht deswegen, weil Sie vor dem moralischen, sondern weil Sie vor dem ästhetischen Forum fehlten

Wilhelm Meister ist keine moralische Erzählung, das heißt, er ist nicht geschrieben mit der ausdrücklichen Absicht, einen allgemeinen Satz unsrer gewöhnlichen Sittenlehre zu erläutern. Aber den Roman deshalb für unsittlich zu erklären, wie man oft gethan, ist thöricht genug; denn wenn er keine moralische Tendenz hat, so hat er eben so wenig eine unmoralische. Daß er nicht zur Erbauung tugendhafter Leute geschrieben ist, mag sein; sicher aber ist er nicht zur Verbreitung des Lasters geschrieben. Nirgends ein Tugendprediger, kann der Verfasser doch auch von den strengsten Kritikern nicht ein Kuppler des Lasters genannt werden. Der Künstler hat sich begnügt, Scenen des wirklichen Lebens zu malen ohne weiteren Zusatz – das ist alles, und wenn manche von diesen Scenen Dinge betreffen, die man nach stillschweigender Uebereinkunft in der Gesellschaft nicht berührt, so weiß doch von ihnen jeder, der kein Kind ist. Wer durch solche Scenen in einem Roman moralisch mehr gefährdet wird, als wenn er sie in Zeitungen liest, dessen moralische Constitution ist so bedenklich zart und leicht zu beschädigen, daß wir ihn wirklich bedauern müssen. Hoffentlich ist indeß die Welt mit kräftigeren Naturen bevölkert, und eine kräftige Natur braucht nicht bange zu sein.

Ich habe gesagt, der Wilhelm Meister sei nicht eine moralische Erzählung, aber ich fühle mich verpflichtet zu erklären, daß ein tiefer und gesunder moralischer Sinn darin lebt und webt und in mancherlei Tönen zu jedem spricht, der Ohren hat zu hören. Aber darin muß »jeder Kranke sich selbst helfen«, und was einer daraus entnehmen kann, hängt von seiner eigenen Einsicht und Erfahrung ab. Bisweilen ergiebt sich dieser Sinn aus dem ganzen Verlauf der Erzählung; so z. B. liegt eine gesunde Moral in dem Nachweise, wie das Leben auf Wilhelm einwirkt, seinen Charakter formt, bestimmt und von dem bloßen Triebe zur Unterordnung unter die Vernunft, von träumerischer Weichheit zu männlichem Pflichtgefühl, von Selbstvergötterung zu thätiger Menschenliebe erhebt, aber diese Lehre wird nicht in der Weise eines Predigers, sondern eines Künstlers gelehrt und kann daher leicht von denen übersehen werden, die eine »Moral« nicht eher wahrnehmen, als bis man sie darauf stößt.

Die »Bekenntnisse einer schönen Seele«, welche das sechste Buch füllen, werden in manchen Kreisen so andächtig verehrt, wie die Verderbtheit des sonstigen Inhalts verabscheut. Stolberg verbrannte das ganze übrige Werk und bewahrte dieses Buch wie einen Schatz. In der That ist dies Bild einer stillen Schwärmerin, die zugleich ein origineller und fester Charakter ist, merkwürdig genug und die Einwirkung religiöser Ueberzeugungen auf das Leben, die allmäligen Fortschritte und die endliche Herrschaft des Mysticismus in dem Geiste einer Frau, die in jeder Beziehung so für die Welt gemacht schien, sind mit großer Feinheit gezeichnet. So sehr ich indeß den Werth dieses Bildes zu schätzen weiß, bedaure ich doch, daß Goethe die Bekenntnisse nicht besonders herausgegeben hat; sie unterbrechen die Erzählung in einer höchst unkünstlerischen Weise und haben mit dem sonstigen Inhalt schlechterdings nichts zu thun.

Die Kritik von Shakespeare's Hamlet im Wilhelm Meister bleibt immer noch die beste, die wir über dies wunderbare Stück haben. Mit großer Kunst ist der Hamlet so in den Roman verflochten, als sei er ein Theil desselben, und Rosenkranz rühmt diese Verflechtung nicht blos weil dadurch die Verwandtschaft zwischen Wilhelm und Hamlet hervortritt, die beide reflektirende schwankende Charaktere sind, sondern auch weil diese Tragödie für Wilhelm zu einem Prüfstein wird für sein Talent, zu einem Wendepunkt seines Schicksals.

Schiller's Kritik über dies Werk, wie er sie in seinen begeisterten Briefen an Goethe selbst gegeben hat, würde ich gern ganz mittheilen, wenn nur Platz dazu wäre, aber ich muß es an einer Stelle genug sein lassen, die zu lesen ein wahrer Genuß ist. »Es gehört zu dem schönsten Glück meines Daseins, daß ich die Vollendung dieses Produktes erlebte, daß sie noch in die Periode meiner strebenden Kräfte fällt, daß ich aus dieser reinen Quelle noch schöpfen kann, und das schöne Verhältniß, das unter uns ist, macht es mir zu einer gewissen Religion, Ihre Sache hierin zu der meinigen zu machen, alles was in mir Realität ist, zu dem reinsten Spiegel des Geistes auszubilden, der in dieser Hülle lebt, und so, in einem höheren Sinne des Worts, den Namen Ihres Freundes zu verdienen. Wie lebhaft habe ich bei dieser Gelegenheit erfahren, daß das Vortreffliche eine Macht ist, daß es auf selbstsüchtige Gemüther auch nur als eine Macht wirken kann, daß es dem Vortrefflichen gegenüber keine Freiheit giebt als die Liebe. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie sehr mich die Wahrheit, das schöne Leben, die einfache Fülle dieses Werks bewegte. Die Bewegung ist zwar noch unruhiger als sie sein wird, wenn ich mich desselben ganz bemächtigt habe, und das wird dann eine wichtige Krise meines Geistes sein; sie ist aber doch der Effekt des Schönen, nur des Schönen; und die Unruhe rührt blos davon her, weil der Verstand die Empfindung noch nicht hat einholen können. Ich verstehe Sie nun ganz, wenn Sie sagten, daß es eigentlich das Schöne, das Wahre sei, was Sie, oft bis zu Thränen, rühren könne. Ruhig und tief, klar und doch unbegreiflich wie die Natur, so wirkt es und so steht es da, und alles, auch das kleinste Nebenwerk, zeigt die schöne Klarheit, Gleichheit des Gemüths, aus welchem alles geflossen ist.«



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