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Zweiter Abschnitt.
Iphigenie.

Die Iphigenie für eine griechische Tragödie zu halten, ist eine falsche Auffassung; die äußerlich nothwendige Ruhe der Entwicklung im griechischen Drama ist nicht innere Ruhe; die griechischen Dramatiker lassen die tiefsten und dunkelsten Leidenschaften spielen. Gegensatz zwischen Goethe und Euripides. Die Iphigenie ist kein griechisches, sondern ein deutsches Drama; kein Drama, sondern ein dramatisches Gedicht. Vergleichung der goethe'schen Iphigenie mit der des Euripides.

Es ist sehr charakteristisch für Schlegel, daß er die Iphigenie ein »Echo griechischen Gesanges« nannte; er liebte solche rhetorische Zierlichkeiten. Daß aber Deutschland, ein Land von Gelehrten, diese Wendung so einstimmig wiederholte und ohne alles Arg nicht anstand, Iphigenie das schönste moderne griechische Trauerspiel zu nennen, ist wirklich überraschend; nur bedenke man, welche Unzahl von schlimmsten Irrthümern über das griechische Drama herkömmlich und verbreitet sind. Eine lange Zeit galten die drei Einheiten als wesentlich für das griechische Drama, und doch lag die Thatsache vor, daß in mehreren Stücken die Einheit der Zeit offenbar vernachlässigt ist, und in zweien oder dreien die Einheit des Orts ebenfalls. Dann wieder hielt man die Vermischung des Komischen und Tragischen in demselben Stück für unzulässig, und doch ist die Thatsache handgreiflich, daß Aeschylus und Euripides diese Vermischung angewandt haben. Dann tauchte die Absurdität auf, das Schicksal sei der Angelpunkt der griechischen Tragödie, und doch ist es wiederum eine Thatsache, daß in der Mehrzahl der griechischen Trauerspiele die Schicksalsidee nur so weit Platz hat, als ihr die religiösen Anschauungen der Dichter nothwendig geben mußten, grade so wie den tragischen Auffassungen christlicher Dichter nothwendig christliche Anschauung zu Grunde liegt.

Kunstkritiker charakterisiren die Iphigenie gewöhnlich mit einer Wendung, die grade hinreicht, ihre Kritik zu verurtheilen. Iphigenie, heißt es, habe »die ganze Ruhe der griechischen Tragödie«. Man überlege nur – Ruhe in einer Tragödie! Das wäre wie Friedensstille in dem furchtbaren Aufschwellen vulkanischer Leidenschaften. Wie Aristoteles lehrt, wirkt die Tragödie durch Schrecken und Mitleid, indem sie in unserm Herzen Mitgefühl mit dem Leiden erweckt, und nun zu meinen, dies geschehe durch die »nachdenkliche Ruhe, die jeder Vers athmet«, das heißt doch nicht weniger als meinen, ein Kriegslied feure das Blut der Kämpfer am heißesten an, wenn es im Ton eines Wiegenliedes gehalten sei.

Unsere Begriffe von griechischer Kunst haben sich unvermerkt nach der griechischen Sculptur gebildet; daher vielleicht dies Gerede von Ruhe. Aber das Studium des griechischen Drama's hätte vor solchem Irrthum bewahren und zwischen der Ruhe der Entwicklung und der Ruhe des Lebens unterscheiden lehren sollen. Die leidenschaftslose Einfachheit der scenischen Darstellung bei den Griechen beruhte auf scenischer Nothwendigkeit, aber wir nennen einen Vulcan doch nicht kalt, weil auf seinem Gipfel Schnee liegt. Wäre das griechische Drama auf Bühnen wie die des modernen Europa aufgeführt und von Schauspielern ohne Kothurn und Maske dargestellt worden, so würden die leidenschaftlichen Strömungen sich aus der Tiefe an die Oberfläche gehoben und entsprechend bewegte Formen hervorgerufen haben. Aber es lagen in seiner Natur Gründe, die das verhinderten. Im griechischen Drama war alles von einem kolossalen Maaße, wie es den Bedürfnissen eines Theaterpublikums von vielen Tausenden entsprach: die Massenwirkung überwog die Rücksicht auf das Detail; so nahm das Drama mit Nothwendigkeit etwas von den Formen der Sculptur, von ihrer stattlichen Gruppirung an, und die Rücksicht auf die scenische Wirkung bedingte einen eigenen Bau, für welchen die Harmonie der Theile mit dem Ganzen maßgebend war. Langsamkeit der Bewegung wurde Gesetz, weil bei raschem Gange die Wirkung gefehlt hätte. Wer das bezweifelt, der stelle sich auf Stelzen, spreche durch ein Sprachrohr und versuche sich so am Shakespeare; dann wird er eine annähernde Vorstellung von den Hindernissen erhalten, welche die griechische Bühne ihren Spielern auferlegte; auf hohem Kothurn, um ihre Person größer erscheinen zu lassen, und durch eine klangverstärkende Maske redend, die einen einzigen festen Ausdruck hatte, konnten sie nicht spielen, wie wir jetzt das Wort verstehen, sondern nur recitiren, vermochten sie nicht den Wechsel der Leidenschaften auszudrücken, und so sah sich auch der Dichter von vorn herein gezwungen, die Leidenschaft nur in großen, festen Massen zur Darstellung zu bringen. Das sind die Gründe, weshalb der Gang des griechischen Drama's mit Nothwendigkeit langsam und einfach war.

Dringen wir aber durch die scenischen Nothwendigkeiten hindurch und beachten wir nur das dramatische Leben, welches in den griechischen Tragödien pulsirt, was für eine Art Ruhe finden wir da? Ruhe ist ein relativer Begriff. Polyphem, der Felsblöcke schleudert wie Schulknaben mit Kirschkernen spielen, würde gewiß zu unserm Straßenlärm lachen, wie wir zu dem Gesumme von Fliegen, und Moloch, wenn er die unermeßliche Oede in leidenschaftlicher Reue über seinen Fall durchheult, würde uns Menschen um unsere wildeste Verzweiflung beneiden, die für ihn Ruhe wäre. Aber mit menschlichem Maaß gemessen – wo ist der, dessen Weh »so voll Emphase tönt«, daß er sagen dürfe, im Oedipus, im Agamemnon, im Ajax schlage der Puls der Leidenschaft ruhig? Die Labdakidensage ist eins der düstersten Gewebe, das die Parzen je gewebt.

Die Gegenstände, welche die griechischen Tragiker zu ihren Stücken gewählt, sind fast ohne Ausnahme solche, bei denen die tiefsten und dunkelsten Leidenschaften wirken; im Agamemnon Wahnsinn, Ehebruch und Mord, in den Choëphoren Rache, Mord und Muttermord, im Oedipus Blutschande, in der Medea Eifersucht und Kindermord, im Hippolit blutschänderischer Ehebruch, im Ajax Wahnsinn, und so die ganze Reihe hindurch. Und diese Leidenschaften wallen in steter Strömung, und erst mit dem Schlusse des Stücks endet auch der Wechsel von Schrecken und Mitleid. Mit andern Worten: trotz der Langsamkeit der Bewegung ist das griechische Drama grade durch den Mangel der Ruhe ausgezeichnet, die ihm eigenthümlich sein soll.

Damit berühren wir den ersten tiefgehenden Unterschied zwischen Goethe und den griechischen Dramatikern. Die Ruhe, die durch äußere Umstände den Griechen aufgedrungen wurde, die für sie eines ihrer Hindernisse war, wie die Härte des Marmors den Bildhauer hemmt, die hat Goethe angenommen, ohne daß äußere Bedingungen ihn nöthigten, und die Ruhe, welche die griechischen Dramatiker nur an der Oberfläche bewahrten, hat Goethe in das innerste Leben seiner Dichtung eindringen lassen. In dem, was nebensächlich, was ein Bedürfniß der Zeit war, hat Goethe die Griechen nachgeahmt, im Wesentlichen, Charakteristischen nicht. Goethe's Iphigenie dürfen wir also nicht länger mit griechischem Maße messen. Deutsch ist das Stück. Tiefe sittliche Seelenkämpfe treten darin an die Stelle der leidenschaftlichen Kämpfe in den alten Mythen. Es ist nicht griechisch, weder an Gedanken, noch an Empfindungen. Deutsch ist es und in das mythische Skythien trägt es das Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts so gut und mit gleicher Berechtigung hinüber, wie Racine den Hof von Versailles in das Lager von Aulis versetzt hat Dieses Vergreifen in den Lokalfarben, wegen dessen man den Racine mit mehr Gelehrsamkeit als Scharfsinn verspottet hat, ist nicht nur durch die Forderungen der Kunst selbst geboten, sondern die Griechen auch haben diesen Irrthum, wenn es ein Irrthum ist, begangen. Euripides hat sich in seiner Iphigenie so grobe Anachronismen zu Schulden kommen lassen, wie nur je dem Racine vorgeworfen sind; und mit Recht hat er das gethan: er schrieb für die Mitwelt, nicht für die Vorwelt.. Worin die Iphigenie der griechischen Tragödie gleicht, ist nur zweierlei: einmal der langsame Fortschritt und die Einfachheit der Handlung, wodurch auch der Dialog eine entsprechende Ruhe erhält, und dann die Sättigung mit mythischem Stoff. Alles Uebrige ist durchaus deutsch. Schiller, der Dramatiker, erkannte das klar genug. Nachdem er (1802) die Iphigenie zum Behuf der Aufführung aufs neue mit Aufmerksamkeit gelesen, schreibt er an Körner: »Ich habe mich sehr gewundert, daß sie auf mich den günstigen Eindruck nicht mehr gemacht hat wie sonst, ob es gleich immer ein seelenvolles Produkt bleibt. Sie ist aber so erstaunlich modern und ungriechisch, daß man nicht begreift, wie es möglich war, sie jemals einem griechischen Stück zu vergleichen. Sie ist ganz nur sittlich, aber die sittliche Kraft, das Leben, die Bewegung und alles was ein Werk zu einem ächten dramatischen specificirt, geht ihr sehr ab. Goethe selbst hat mir schon längst zweideutig davon gesprochen – aber ich hielt es nur für eine Grille, wo nicht gar für Ziererei; bei näherem Ansehen aber hat es sich auch mir so bewährt.« Das klingt etwas anders als Herder's Behauptung, das Stück sei so hoch über Euripides, wie Sophokles über Euripides.

Schiller fügt indeß hinzu, das Stück werde »durch die allgemeinen hohen poetischen Eigenschaften, welche ihm ohne Rücksicht auf seine dramatische Form zukommen, blos als ein poetisches Geisteswerk betrachtet, in allen Zeiten unschätzbar bleiben.« Das heißt die rechte Saite anschlagen. Ein Drama ist es nicht, aber ein wunderbares dramatisches Gedicht. Der große feierliche Fortgang seiner Entwicklung entspricht den ebenso umfassenden wie einfachen Gedanken, die es ausspricht. Seine Ruhe ist Majestät. In der spiegelhellen Klarheit der Sprache erscheint die geistige Entwicklung der Charaktere so durchsichtig wie die Arbeit der Bienen in einem Bienenkorbe von Glas, und der stete Klang erhabener Musik, die das Gedicht durchtönt, stimmt den Leser zur Andacht, als sei er in einem heiligen Tempel. Und über allen Zauber im Einzelnen geht der eine große Zauber, der sonst griechischen Statuen vor allen andern Schöpfungen von Menschenwitz und Menschenkunst eigenthümlich angehört – die vollendete Einheit im Eindruck des Ganzen; da scheint nichts gemacht, sondern alles natürlich zu werden, da ist nichts überflüssig, sondern alles steht in organischer Zusammengehörigkeit, nichts ist zu besonderer Wirkung da, sondern das ganze ist Wirkung. Das Gedicht nimmt uns die Seele ein, aber so schön die einzelnen Stellen sind, in unserer Bewunderung denken wir selten an Einzelnheiten, wir denken an das zauberische Ganze.

Ich für mein Theil kann meiner Bewunderung für dies Werk, an sich betrachtet, kaum in andern als hyperbolischen Worten Ausdruck geben, aber als Drama stelle ich die Euripideische Iphigenie höher. Es ist sehr lehrreich, beide Stücke mit einander zu vergleichen. So hoch Goethe den Euripides an Geistesgröße überragt, als Dramatiker ist er kleiner. In rascher Skizzirung ziehe ich die Hauptlinien der Vergleichung.

Beim Euripides ist der Plan des Stücks dieser: Iphigenie lebt als Priesterin der Artemis, die sie in einer Wolke dem Opfertode in Aulis entrückt hat, in Tauris und leitet da den blutigen Dienst ihrer Schutzgöttin, an deren Altar jeder Fremde fällt, der an die unwirthliche Küste verschlagen wird. Orest und Pylades kommen, einem Orakelspruche folgend, nach Tauris, um das Bild der Göttin zu rauben und so den Orest von den Furien zu erlösen; sie werden ergriffen und der Iphigenie als Opfer zugeführt; eine Erkennung erfolgt, und sie hilft ihnen bei Ausführung ihres Planes. Auf der Flucht mit dem geraubten Bilde werden sie von den Scythen verfolgt, aber Athene erscheint, löst die Verkettung und besänftigt die Wuth des Königs Thoas.

Diese Geschichte hat Goethe modernisirt. Die Charaktere, die sittlichen Motive, die Wirkung – alles ist verändert. Seine Iphigenie, der griechischen Priesterin in allen Stücken überlegen, hat die hohe, edle, weiche, zarte Seele einer christlichen Jungfrau. Vor der Erfüllung der blutigen Pflichten, die ihr priesterliches Amt ihr auferlegt, bebt sie zurück; ihre Milde besiegt das grausame Vorurtheil des Thoas und setzt dem barbarischen Brauche der Menschenopfer ein Ziel. Sie, die selbst zum Opfertode bestimmt war, wie könnte sie ihre Hand leihen, andere zu opfern? Diese menschliche Empfindung ist modern. Keine Griechin hätte ihr persönliches Gefühl sich empören lassen gegen einen religiösen Gebrauch. Damit ist der Grundton angeschlagen, der durch das ganze Gedicht fortklingt.

Iphigenie ist traurig, sie sehnt sich nach der Heimath, trotz der Ehre, die ihr, und trotz des Segens, der andern aus ihrem Einflusse auf den König Thoas erwächst. Das Schicksal der Ihrigen quält sie. Thoas ist von leidenschaftlicher Liebe zu ihr ergriffen. Aus einem Kampfe, den er zur Rache für seinen Sohn geführt, siegreich heimgekehrt, erneuert er seine Werbung:

So lang die Rache meinen Geist besaß,
Empfand ich nicht die Oede meiner Wohnung;
Doch jetzt, da ich befriedigt wiederkehre,
Ihr Reich zerstört, mein Sohn gerochen ist,
Bleibt mir zu Hause nichts, das mich ergötze –

er spricht die Hoffnung aus, sie »als Braut in seine Wohnung einzuführen«. Sie sucht sanft auszuweichen; er tadelt das Geheimniß, in das sie sich und ihre Abkunft hülle. Nicht aus Mißtrauen, antwortet sie, sei das geschehen;

– – denn vielleicht, ach! wüßtest du,
Wer vor dir steht, und welch verwünschtes Haupt
Du nährst und schützest, ein Entsetzen faßte
Dein großes Herz mit seltnem Schauer an,
Und statt die Seite deines Thrones mir
Zu bieten, triebest du mich vor der Zeit
Aus deinem Reiche – –

Thoas erwidert mit hochherziger Zusicherung seines unwandelbaren Schutzes:

Die Göttin übergab dich meinen Händen;
Wie du ihr heilig warst, so warst du's mir.
Auch sei ihr Wink noch künftig mein Gesetz:
Wenn du nach Hause Rückkehr hoffen kannst,
So sprech' ich dich von aller Ford'rung los.

Dies Versprechen wird für die spätere Lösung ein bedeutendes Motiv und ist sehr geschickt eingeleitet. So bedrängt, bricht Iphigenie ihr Schweigen, spricht das große Wort:

Vernimm! Ich bin aus Tantalus' Geschlecht.

Thoas stutzt, aber nachdem sie ihre Erzählung ganz beendet, wiederholt er abermals seinen Antrag und wieder weist sie ihn ab; dadurch gereizt, bricht er in die Drohung aus, sie möge Priesterin bleiben, aber er wolle der Göttin nicht länger die Opfer vorenthalten, die nach alter Sitte ihr gebühren und nur auf Iphigeniens Einfluß unterblieben seien –

Das Murren meines Volks vernahm ich nicht;
Nun rufen sie die Schuld von meines Sohnes
Frühzeit'gem Tode lauter über mich.
Um deinetwillen halt' ich länger nicht
Die Menge, die das Opfer dringend fordert.


Zwei Fremde, die wir in des Ufers Höhlen
Versteckt gefunden, und die meinem Lande
Nichts Gutes bringen, sind in meiner Hand.
Mit diesen nehme deine Göttin wieder
Ihr erstes, rechtes, lang entbehrtes Opfer!
Ich sende sie hieher; du weißt den Dienst.

Damit schließt der erste Akt.

Bei dieser Auffassung des Thoas ist ein dramatischer Conflikt von vorn herein unmöglich; eine so große und hochherzige Natur kann einer Berufung an ihren Edelsinn nicht widerstehen, und so sieht der Leser gleich voraus, daß es zu einem Kampfe nicht kommen wird. Beim Euripides dagegen blickt der wilde Skythe aus dunklem Hintergrunde drohend schrecklich wie das Schicksal herein, und sehr passend erscheint er auf der Bühne erst ganz am Schluß. Wie er besänftigt werden wird, ist nicht vorherzusehen. Freilich seine Besänftigung geschieht nur durch die schlechte Aushülfe eines deus ex machina, nicht durch eine wirklich dramatische Entwirrung der verschlungenen Fäden, aber durch die Wirkung des Conflikts und die bis zum Schluß anhaltende Aufregung der Spannung wird dieser Mangel, dramatisch betrachtet, mehr als ausgeglichen. Bei Goethe ist Thoas eine sittliche, keine dramatische Figur.

Im zweiten Akt treten Orest und Pylades auf. Die Scene zwischen ihnen ist sehr undramatisch, aber als poetische Darlegung ihrer verschiedenen Naturen von großer Schönheit. Orest fühlt, es sei der Weg des Todes, den sie treten; Pylades hält fest an Hoffnung und Leben, fühlt sich »immer noch voll Muth und Lust«,

Und Lust und Liebe sind die Fittige
Zu großen Thaten.

Orest.

Große Thaten? Ja,
Ich weiß die Zeit, da wir sie vor uns sahn!
Wenn wir zusammen oft dem Wilde nach
Durch Berg und Thäler rannten, und dereinst
An Brust und Faust dem hohen Ahnherrn gleich
Mit Keul' und Schwert dem Ungeheuer so,
Dem Räuber auf der Spur zu jagen hofften;
Und dann wir Abends an der weiten See
Uns an einander lehnend ruhig saßen,
Die Wellen bis zu unsern Füßen spielten,
Die Welt so weit, so offen vor uns lag;
Da fuhr wohl Einer manchmal nach dem Schwert,
Und künft'ge Thaten drangen wie die Sterne
Rings um uns her unzählig aus der Nacht.

Pylades.

Unendlich ist das Werk, das zu vollführen
Die Seele dringt. Wir möchten jede That
So groß gleich thun als wie sie wächs't und wird,
Wenn Jahre lang durch Länder und Geschlechter
Der Mund der Dichter sie vermehrend wälzt.
Es klingt so schön was unsre Väter thaten,
Wenn es in stillen Abendschatten ruhend
Der Jüngling mit dem Ton der Harfe schlürft;
Und was wir thun ist, wie es ihnen war,
Voll Müh' und eitel Stückwerk!

Doch gelingt es Pylades nicht, dem Freunde seinen Muth mitzutheilen und die Hoffnung auf Rettung vor dem schmachvollen Tode einzuflößen, in den sich Orest ruhig ergiebt. Pylades hat den Wachen einiges über Iphigenie entlockt; er freut sich, daß es ein Weib ist, die ihr Schicksal in Händen hält

– – denn ein Mann,
Der beste selbst, gewöhnet seinen Geist
An Grausamkeit und macht sich auch zuletzt
Aus dem was er verabscheut ein Gesetz.

Er sieht die Priesterin kommen; um eine Unterredung mit ihr allein zu haben, läßt er den Orest sich entfernen; sie nimmt ihm die Ketten ab, und auf den Klang ihrer Sprache bricht er mit geschickter Wendung in die Worte aus:

O süße Stimme! Vielwillkommner Ton
Der Muttersprach' in einem fremden Lande!
Des väterlichen Hafens blaue Berge
Seh' ich Gefangner neu willkommen wieder
Vor meinen Augen.

Dann erzählt er ihr von sich und dem Freunde eine, der Wahrheit ziemlich nahe kommende Geschichte, wobei er – es ist nicht abzusehen aus welchem Grunde – falsche Namen gebraucht. Sie fragt nach Griechenland, nach den Ihrigen, und erfährt nun die Geschichte von der Schuld ihrer Mutter. Ihre Bewegung bemerkend, fragt er, ob sie dem Hause Agamemnons befreundet sei; in finsterer Ruhe antwortet sie mit einer weitern Frage nach dem Morde:

Sag' an, wie ward die schwere That vollbracht.

Er erzählt es ihr. Was sie dann erwidert, sind nur wenige kurze Worte, furchtbar ergreifend; sie verhüllt sich –

»Es ist genug! Du wirst mich wiedersehn«

und so, sehr ausweichend, endet der Akt. Der dritte Akt beginnt mit einem Gespräch zwischen Iphigenie und Orestes; sie bittet ihn die Geschichte zu beenden, die sie von dem andern nur halb gehört, und er thut das ziemlich ausführlich. Die List verschmähend, welche den Pylades ihre wahren Namen zu verheimlichen getrieben, spricht er kühn:

»Ich bin Orest!«

Das ist nun eine Erkennungsscene in aller Form, und die Natur nicht weniger als die dramatische Wirkung verlangt einen Aufschrei des Herzens von der Iphigenie, die in des Bruders Arme stürzen, sich ihm als Schwester zu erkennen geben müßte. Statt dessen läßt sie ihn ruhig weiter reden, sich gar entfernen, und entdeckt sich erst in der folgenden Scene. Das ist eher in der Weise eines angehenden Dramatikers, als was wir von einem großen Dichter erwarten. Bei Iphigeniens Nachricht faßt den Orest wieder ein Anfall seiner Raserei; als er sich erholt, fühlt er sich durch der Schwester Reinheit mit gereinigt von seiner Schuld, und nun drängt Pylades zum Raube des heiligen Bildes und zu gemeinsamer Flucht.

Offenbar ist das tragische Moment in dieser Verwicklung die Opferung eines Bruders von der Hand einer Schwester, die beide ihr geschwisterliches Verhältniß nicht ahnen, während es die Zuschauer genau kennen. Aber weit entfernt, eine so tragische Situation zu entwickeln, hat Goethe sie kaum berührt, nie sorgende Furcht in uns wachgerufen: von Anfang bis zu Ende fühlen wir keine Spannung, keine Aufregung, nur unsere Neugierde verlangt danach, das Mittel zu sehen, wodurch das schreckliche Schicksal umgangen werde. Bei Euripides dagegen drängt sich alles zusammen, um die Schrecken dieses Konflikts zu steigern. Iphigenie, früher so sanft, daß sie mit ihren Opfern weinte, rast nun wie eine Löwin, der man ihre Jungen geraubt. Sie hat geträumt, Orest sei todt, und in ihrer Verzweiflung beschließt sie, ihren Schmerz an andern auszulassen. Ihr Bruder und sein Freund werden vor sie gebracht. Sie fragt nach ihren Namen; Orest verweigert sie zu nennen. In raschem Austausch von Fragen und Antworten erkundet sie das Schicksal ihres väterlichen Hauses und erbietet sich nun, einem der beiden Gefangenen das Leben zu retten, wenn der andere für sie einen Brief nach Argos, ihrer Heimath trage. Ein großmüthiger Wettstreit, wer der Ueberlebende sein solle, schließt endlich zu Gunsten des Pylades. Die gegenseitige Erkennung wird nun so eingeleitet: Pylades schwört, den Brief zu bestellen, aber wie, fragt er, könne er sein Versprechen erfüllen, wenn sein Schiff scheitere, der Brief verloren gehe; für diesen Fall macht ihn Iphigenie mit dem Inhalt des Briefes bekannt und dabei nennt sie ihren Namen; Orest, wie natürlich, stößt einen Freudenruf aus und schließt sie brüderlich in die Arme. Der dramatische Fortgang in dieser Scene ist bewundernswürdig. Aber von da an erlahmt bei Euripides das Interesse, bei Goethe steigert es sich, vertieft sich; bei jenem ist der Höhepunkt der Leidenschaft erreicht, bei diesem erhebt sich nun erst das sittliche Interesse höher und höher; der tragische Conflikt trifft hier mehr unser sittliches Bewußtsein als unsere menschlichen Empfindungen, ist weniger ein Conflikt von Leidenschaften, als der hohe Streit von Pflicht gegen Pflicht.

Im vierten Akt geht Iphigenie mit sich zu Rathe: die beiden Männer, sagt sie,

– haben kluges Wort mir in den Mund
Gegeben, mich gelehrt was ich dem König
Antworte, wenn er sendet und das Opfer
Mir dringender gebietet. Ach! ich sehe wohl,
Ich muß mich leiten lassen wie ein Kind.
Ich habe nicht gelernt zu hinterhalten,
Noch jemand etwas abzulisten. Weh!
O weh der Lüge! Sie befreiet nicht,
Wie jedes andre, wahrgesprochne Wort,
Die Brust; sie macht uns nicht getrost, sie ängstet
Den, der sie heimlich schmiedet, und sie kehrt,
Ein losgedrückter Pfeil, von einem Gotte
Gewendet und versagend, sich zurück
Und trifft den Schützen. Sorg' auf Sorge schwankt
Mir durch die Brust. Es greift die Furie
Vielleicht den Bruder auf dem Boden wieder
Des ungeweihten Ufers grimmig an.
Entdeckt man sie vielleicht? Mich dünkt, ich höre
Gewaffnete sich nahen! – Hier! – Der Bote
Kommt von dem Könige mit schnellem Schritt,
Es schlägt mein Herz, es trübt sich meine Seele,
Da ich des Mannes Angesicht erblicke,
Dem ich mit falschem Wort begegnen soll.

Mehr als ihres Bruders Leben, ihn selbst soll sie von den Furien retten, und nur durch List kann das geschehen, da Gewalt unter den Umständen unmöglich ist. Den Griechen war das durchaus nach dem Sinne; sie liebten Betrug mehr als Gewalt; aber christliche Gewissen scheuen den Betrug als etwas Feiges und tief Unsittliches. »Die Ehre spricht – genug! das ist uns Götterwort«, so faßt Racine in einer Zeile die moderne Auffassung zusammen. » L'honneur parle; il suffit, ce sont là nos oracles.«

Auch die reine Seele dieser goethe'schen Iphigenie – die des Euripides vollführt den Betrug auf das listigste – bebt vor der Verstellung zurück, die man ihr aufgezwungen hat; nur der Erinnerung an die Güte und Achtung, mit der Thoas sie immer behandelt, bedarf es, um sie unschlüssig zu machen: des Bruders und des Freundes Rath nur habe sie gehört; »nur sie zu retten drang die Seele vorwärts«; doch jetzt hat der Bote des Königs sie erinnert, daß sie auch in Tauris Menschen verlasse; »doppelt wird ihr der Betrug verhaßt«. So tritt Pylades zu ihr, drängt von neuem zur Flucht; sie enthüllt ihm ihre Bedenken:

Pyl.: Der deinen Bruder schlachtet, dem entfliehst du.

Iphig.: Es ist derselbe, der mir Gutes that.

Pyl.: Das ist nicht Undank, was die Noth gebeut.

Iphig.: Es bleibt wohl Undank, doch die Noth entschuldigt's.

Pyl.: Vor Göttern und vor Menschen dich gewiß.

Iphig.: Allein mein eigen Herz ist nicht befriedigt.

Pyl.: Zu strenge Fordrung ist verborgner Stolz.

Iphig.: Ich untersuche nicht, ich fühle nur.

Wie modern ist Alles in dieser Subjektivität, dieser zart empfindenden Gefühlsanschauung!

Noch einmal dringt Pylades mit seiner verständigen Weltklugheit in sie:

Das Leben lehrt uns, weniger mit uns
Und andern strenge sein; du lernst es auch.
So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet,
So vielfach ist's verschlungen und verknüpft,
Daß keiner in sich selbst noch mit den andern
Sich rein und unverworren halten kann.

Da also liegt der tragische Conflikt. Wird die reine Seele dieser Iphigenie ihrem hohen Triebe untreu werden, selbst zur Rettung eines Bruders? Die Wahl ist furchtbar, der Dichter zeigt uns die Versuchung in ihrer ganzen Stärke, die menschliche Schwäche in all ihrer Weichheit, und endlich auch menschliche Größe, weibliche Größe in dem schönen Ausbruche des gepreßten Herzens: Den Göttern allein

– – leg' ich's auf die Kniee! Wenn
Ihr wahrhaft seid, wie ihr gepriesen werdet,
So zeigt's durch euern Beistand und verherrlicht
Durch mich die Wahrheit! – Ja, vernimm, o König,
Es wird ein heimlicher Betrug geschmiedet;
Vergebens fragst du den Gefangnen nach;
Sie sind hinweg und suchen ihre Freunde,
Die mit dem Schiff am Ufer warten, auf.
Der Aeltste, den das Uebel hier ergriffen
Und nun verlassen hat – es ist Orest,
Mein Bruder, und der Andre sein Vertrauter,
Sein Jugendfreund, mit Namen Pylades.
Apoll schickt sie von Delphi diesem Ufer
Mit göttlichen Befehlen zu, das Bild
Dianens wegzurauben und zu ihm
Die Schwester hinzubringen, und dafür
Verspricht er dem von Furien Verfolgten,
Des Mutterblutes Schuldigen Befreiung.
Uns beide hab' ich nun, die Ueberbliebenen
Von Tantals Haus, in deine Hand gelegt:
Verdirb uns – wenn du darfst.

Nach einer Stelle wie diese durchsuchen wir das ganze griechische Drama vergebens; so groß ist sie gedacht, daß sie auf der Bühne, wenn der Vortrag an Tiefe und Würde nur annähernd gleichkommt, von überwältigender Wirkung sein muß.

Die schließliche Lösung des Conflikts entspricht dem sanften Gange des Stücks. Thoas ist so wenig ein wilder Skythe, hat uns von seiner Hochherzigkeit schon so überzeugenden Beweis gegeben, daß wir an den Zorn nicht recht glauben, in den er zunächst ausbricht. Schon hat er fast nachgegeben, als Orest mit gezogenem Schwert hereinstürzt, um Iphigenie zur Eile zu treiben, da ihr Plan verrathen sei. Thoas ist entschlossen, das Bild der Diana nicht wegführen zu lassen, und da Orest seinerseits darauf besteht, so scheint nur die Entscheidung der Waffen übrig. Doch nun erkennt Orest seinen Irrthum; den Orakelspruch Apollo's, er solle die »Schwester« von Tauris nach Griechenland zurückbringen, hat er bisher fälschlich auf das heilige Bild Diana's gedeutet: aber auf die eigene Schwester, auf Iphigenie ging das Wort des Gottes, in deren Armen er schon die Befreiung von den Furien gefunden. Diese Deutung löst den Knoten. Iphigenie erinnert den Thoas an jenes Versprechen, sie ziehen zu lassen, wenn zu den Ihrigen »je ihr Rückkehr zubereitet wäre«; widerstrebend willigt er ein: »So geht«; aber Iphigenie will freundlicheren Abschied, und wie in schöner Harmonie klingen die letzten Worte:

Nicht so, mein König! Ohne Segen,
In Widerwillen scheid ich nicht von dir.
Verbann' uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte
Von Dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig
Getrennt und abgeschieden. Werth und theuer,
Wie mir mein Vater war, so bist du's mir,
Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele.
Bringt der Geringste deines Volkes je
Den Ton der Stimme mir ins Ohr zurück,
Den ich an euch gewohnt zu hören bin,
Und seh' ich an dem Aermsten eure Tracht;
Empfangen will ich ihn wie einen Gott,
Ich will ihm selbst ein Lager zubereiten,
Auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden,
Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen.
O, geben dir die Götter deiner Thaten
Und deiner Milde wohlverdienten Lohn!
Leb' wohl! O wende dich zu uns und gieb
Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück!
Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an,
Und Thränen fließen lindernder vom Auge
Des Scheidenden. Leb' wohl! und reiche mir
Zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte.

Thoas.

Lebt wohl!

Das ist ein rührend edler Abschluß und in vollem Einklang mit dem ganzen Drama.

Meine Bemerkungen über dies Meisterstück unsers Dichters sind bereits zu solcher Ausdehnung angewachsen, daß ich es mir versagen muß, in eine Prüfung der Beurtheilungen deutscher Kritiker einzugehen. Nur noch für den Unterschied antiker und moderner Kunst deute ich einige charakteristische Punkte an: beim Euripides sind die Furien furchtbare Erscheinungen, wirkliche Wesen, die von besondern Schauspielern dargestellt wurden, bei Goethe sind sie geistige Gebilde, nur dem inneren Auge sichtbar, nur ein leidendes Gemüth die Schaubühne, auf der sie auftreten; in gleicher Weise ist die Lösung in dem griechischen Stücke das Werk der wirklichen Dazwischenkunft der Göttin in Person, in dem Goetheschen die Wirkung einer tieferen Einsicht in die Absicht des Orakels, eine sittliche Lösung, deren Sinn Goethe in dem kurzen, schönen Worte ausgesprochen hat:

Alle menschlichen Gebrechen
Sühnet reine Menschlichkeit.



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