Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechster Abschnitt.
Der zweite Theil des Faust.

Wahrhaft seine Meinung darüber zu sagen, ist schwierig. Vergleichung des Eindrucks des ersten und des zweiten Theils. Der Charakter des zweiten Theils. Unter welchen Bedingungen es erlaubt ist zu symbolisiren. Der zweite Theil des Faust ist verfehlt.

Bei diesem Gedichte befinde ich mich in einer größern Verlegenheit als bei irgend einem andern Goethe'schen Werke. War es schon bisher eine schwierige Aufgabe, von dem Werke, das uns gerade beschäftigte, eine entsprechende Anschauung zu geben und meine Kritik darüber auszusprechen, so steigert sich im gegenwärtigen Falle diese Schwierigkeit noch durch das Bewußtsein, daß ich mich mit einer ganzen Zahl von Goethefreunden im Widerspruch finde, und zwar mit Männern, die nicht etwa unwissend noch auch in Vorurtheilen befangen, sondern klare und kluge Köpfe sind. Diese Goethefreunde halten den zweiten Theil des Faust für ein Werk, dessen Werth unser Fassungsvermögen übersteige; es soll alles überbieten, was Goethe sonst geschaffen, es soll ein Schatz sein von tiefer und mystischer Weisheit, ein Wunder an Ausführung. Andere dagegen, und die zu Goethe's treuesten Schülern gehören, sind der Ansicht, das Werk habe nur ein mäßiges Interesse, stehe sehr weit hinter dem ersten Theile zurück und sei nach Anlage und Ausführung ausgesucht verfehlt. Zu diesen gehöre ich. Ich habe versucht, das Werk verstehen zu lernen, mich auf den rechten Standpunkt zu stellen, von dem aus ich es am besten genießen könnte, aber statt mir die Dunkelheiten aufzuklären und meinen Genuß zu erhöhen, wie bei den andern Werken des Dichters, haben diese wiederholten Versuche nur den ersten Eindruck mehr und mehr bestätigt. Nun kann das zwar lediglich meine eigene Schuld sein, da, wie Goethe sagt, »in der Dämmerung auch die leserlichste Handschrift unleserlich wird«, und die Erfahrungen, die ich und andere beim ersten Theile des Faust gemacht haben, sollten mich warnen, nicht so vorschnell im Urtheil zu sein, indeß auf die Möglichkeit hin, daß künftige Erleuchtung mich zu andern Ansichten bringen werde, darf ich doch nicht zurückhalten, was jetzt meine Ueberzeugung ist. Nicht für die Richtigkeit, nur für die Aufrichtigkeit unserer Ansichten müssen wir einstehen.

Es kommt hinzu, daß zwar der erste Eindruck so gut beim ersten wie beim zweiten Theile des Faust ein Gefühl von Enttäuschung ist, aber die Bedenken, die uns bei jenem aufstoßen, sind ganz anderer Art als bei diesem. Der erste Theil kann uns, so lange wir nicht näher mit ihm vertraut sind, wohl lückenhaft, ungleichartig, irreligiös, nicht philosophisch genug scheinen und dergleichen mehr, aber selbst ein einmaliges Lesen genügt, uns eine Vorstellung von dem Reichthum seines Inhalts, seinem Pathos, seiner poetischen Schönheit, seiner scharfen Charakterzeichnung zu geben. Mit andern Worten: der Kern des Gedichts ergreift und fesselt uns, und nur gegen Einzelheiten in der Ausführung richtet sich unsere Kritik. Beim zweiten Theile ist es gerade umgekehrt. Nicht an den Einzelheiten nehmen wir Anstoß, sondern an dem Gedichte als Ganzem; nicht an der Ausführung, sondern an der ganzen Anlage, an dem Plane und der Auffassung. Und was ist die Folge? Beim ersten Theile beseitigt nähere Bekanntschaft unsere Einwendungen und steigert unsere Bewunderung, beim zweiten verstärkt sie unser Mißfallen und klärt uns über die Gründe desselben auf.

Wenn wir uns erinnern, daß Goethe's Werke Beiträge zur Kenntniß seines Lebens, ja, Theile seines Lebens, Ausdrücke seiner eigenen Erlebnisse, Bilder der verschiedenen Stadien seiner Entwicklung sind, so erhält eine Prüfung dieses Erzeugnisses seiner späteren Jahre ihr besonderes Interesse, und zugleich wird der Leser danach einsehen, warum ich meine Bemerkungen über den zweiten Theil für diesen besondern Abschnitt zurückbehalten habe, statt sie der Besprechung des ersten Theiles anzuhängen: die beiden Theile des Faust sind zwei Gedichte, nicht zwei Theile eines Gedichts; der Abstand zwischen ihnen in Auffassung und Behandlung ist so groß wie der der Jahre zwischen ihrer Abfassung. Nehmen wir die beiden Werke von ihrer biographischen Seite. In früheren Abschnitten haben wir beobachtet, wie Goethe's Hinneigung zum Mysticismus und zur Reflexion sich allmälig entwickelte; als Keim schon in frühen Jahren bemerkbar, ist sie mit ihm herangewachsen, hat im späteren Alter seine besseren Kräfte überwuchert und den klarsten und naivsten aller Dichter dahin gebracht, daß er für Symbole schwärmt, wie ein Priester der Isis. Wer das Ziel und die Aufgabe der Kunst darin sieht, Symbole für die Philosophie zu schaffen, und das thut mancher, der wird freilich diesen Fortgang als ächten Fortschritt loben; wer dagegen den Künstler nicht so dem Denker unterordnet, kann in dem Vordringen der Reflexion nur ein Zeichen des Verfalls sehen. Es ist zwar durchaus richtig, daß die moderne Kunst, da sie die Verwicklungen des modernen Lebens darzustellen hat, einen starken Zusatz von Reflexion verlangt, aber das Ueberwiegen der Reflexion ist ein Zeichen des Verfalls. Es ist damit genau so wie mit der Knochenbildung im thierischen Organismus: für jeden etwas verwickelten Organismus ist ein Knochengerüst nothwendig, aber Verknöcherung ist Ursache und Folge einer Abnahme der Lebenskraft. Um der Sache ganz auf den Grund zu kommen, müssen wir einen Hauptpunkt festhalten; das ist folgender: Will der Künstler gewisse philosophische Begriffe durch Symbole zum Ausdruck bringen, so darf er nie vergessen, daß, da die Kunst Darstellung ist, seine Symbole in sich selbst einen Reiz haben müssen, der von ihrer Bedeutung unabhängig ist. Die Formen durch die er wirkt, die Symbole, durch die er spricht, müssen in sich selbst eine Schönheit und ein Interesse haben, welche auch die leicht würdigen können, die den verborgenen Sinn nicht fassen. Fehlt ihnen das, so hören sie auf Kunst zu sein, sie werden zu Hieroglyphen. Ein Beispiel aus der Musik mag das erläutern. Beethoven hat wohl in seinen Symphonien große Gedanken ausgesprochen, und für den, der sie zu deuten weiß, erhalten seine entzückenden Melodien dadurch einen neuen Reiz; wenn aber die Melodien ihren Zauber nicht in sich selbst tragen, wenn sie nicht die Seele mit innigem Entzücken erregen, dann mag der Sinn noch so tief sein, sie werden unbeachtet verklingen; denn das erste Erforderniß der Musik ist nicht, daß sie große Gedanken darstelle, sondern daß sie die Seele mit musikalischen Regungen erfüllt und bewegt. So ist's auch beim Dichter: wenn er nur tiefe Gedanken hat, aber nicht über den Zauber gebietet, uns den Ausdruck, den er diesen Gedanken giebt, in Herz und Seele dringen zu lassen, so verfehlt er seinen Zweck; denn das erste Erforderniß der Poesie ist, daß sie uns rührt, nicht daß sie uns belehrt.

Ist das Vorstehende richtig, so ist der zweite Theil des Faust verfehlt, weil ihm die erste Bedingung eines Gedichtes abgeht. Was er auch sonst sein mag, niemand wird behaupten, er sei interessant. Die Scenen, die Vorgänge und die Charaktere haben nicht an sich jenen Zauber, der uns im ersten Theile fesselt. Sie erhalten ihr Interesse durch die Gedanken, als deren symbolischer Ausdruck sie gelten, und nur in dem Verhältnis, wie unser Scharfsinn die Räthsel löst, wird unser Interesse an ihrer Form erregt. Mephisto, früher eine so wunderbare Gestalt, ist nun zu einem bloßen Instrument des Dichters geworden; Faust hat jede Spur von Individualität verloren, sein Gefühl pulsirt nicht mehr. Diesen Wechsel werden nun zwar die Kritiker der philosophischen Schule als nothwendig darstellen, da im zweiten Theile des Faust an die Stelle des Individuellen das Generelle trete, und sie können sich dabei auf Goethe selbst berufen. »Der erste Theil, sagte er, ist ganz subjektiv, es ist alles aus einem befangeneren, leidenschaftlicheren Individuum hervorgegangen; im zweiten Theil aber ist fast gar nichts Subjektives, es erscheint hier eine höhere, buntere, hellere, leidenschaftlosere Welt«, und, fügte er hinzu, das müsse so sein, da ja Faust unter würdigeren Verhältnissen in höhere Regionen eintrete. Indeß, wenn der Dichter auch den Boden wechselte, wo liegt die Nothwendigkeit, auch die Art der Behandlung zu ändern? wenn er Faust in höhere Regionen leitete, mußte er darum statt der Seelenkämpfe eines Individuums allgemeine Abstraktionen geben? Vor allem: er war nicht gezwungen, aus dem eigentlichen Gebiete der Kunst auf das der Philosophie überzugehen und die Schönheit dem Gedanken zu opfern. Der Mangel dieses zweiten Theiles liegt nicht darin, daß die Gedanken so versteckt sind, sondern in der Dürftigkeit des poetischen Lebens, welches diese Gedanken beseelen. Der Sinn könnte noch so versteckt sein, wenn nur das Sinnbild schön wäre. Auch den ersten Theil des Faust verstehen wir vielleicht nicht, wenigstens streiten die Kritiker darüber und werden ewig im Streit bleiben, aber über seine Schönheit sind sie ziemlich einer Ansicht. Beim zweiten Theil dagegen müssen wir erst der Bedeutung sicher sein, ehe wir an der Form uns freuen oder auch nur an sie denken; das Gedicht regt unsere Empfindungen nicht an, und seine Symbole und Allegorien lassen uns kalt, da sie der inneren Schönheit entbehren. Ich spreche natürlich nur von dem Gedichte als Ganzem; im Einzelnen hat es viele ausgezeichnet schöne Stellen, manche gedankenreiche Verse und gelungenen Spott, aber es ist nicht eine einzige Scene, nicht ein einziger Charakter oder Vorgang darin, der in unserm Gedächtniß lebte, wie die Scenen, Charaktere und Vorgänge des ersten Theils.

Mit dem Mangel an plastischer Kraft hängt der an dramatischer Einheit eng zusammen. Beide erklären sich aus demselben Grunde: das geistige Auge des Dichters hatte nicht mehr die Sammelkraft der Jugend, seine Hand packte nicht mehr so fest und hielt was sie schaffte nicht mehr in der sichern Richtung wie ehemals. So ist in diesem Bilde wohl noch mancher Strich klar und scharf gezeichnet, zumal in den Partieen, welche Goethe in besseren Tagen gemacht hatte, aber als Ganzes ist das Bild zerflossen und verschwommen, fast so schlimm wie die Wanderjahre. So wenig der Vergleich mit einer Zauberlaterne beim ersten Theile des Faust zutraf, so gut paßt er auf den zweiten. Gehen wir, um das zu beweisen, auf den Inhalt des Gedichts näher ein.

In der ersten Scene sehen wir Faust auf blumigen Rasen gebettet, unruhig, schlafsuchend; es ist Morgendämmerung, Geister umschweben ihn, Ariel singt von Aeolsharfen begleitet, er bittet die Elfen, Faust's Herz zu besänftigen, sein Inneres von erlebtem Graus zu reinigen. Die Elfen antworten mit einem reizenden Chorgesang, singen dem Unglücksmann süßen Frieden zu –

Fühl' es vor! Du wirst gesunden;
Traue neuem Tagesglück –

und fordern ihn zu thätigem Handeln auf:

Säume nicht Dich zu erdreisten,
Wenn die Menge zaudernd schweift;
Alles kann der Edle leisten,
Der versteht und rasch ergreift.

Ungeheures Getöse verkündet das Herannahen der Sonne; Faust erwacht. Auch in seiner Seele ist es nach der dunklen Nacht, die auf Gretchen's Tod folgte, hell geworden; »des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig«, der neue Morgen erquickt ihn und erfüllt ihn mit neuer Thatkraft:

Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen,
Zum höchsten Dasein immer fort zu streben.

Er vertieft sich in das Naturschauspiel um ihn her, begrüßt das ewige Licht, aber kaum hervorgetreten blendet ihn die Sonne schon; er wendet sich dem Wasser zu, das vor ihm von dem Felsen stürzt; in seinen zerstiebenden Strahlen spielt die bunte Pracht eines Regenbogens –

Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach und Du begreifst genauer:
Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben.

Die Scene verwandelt sich; wir sind am Hof des Kaisers. Da sieht's schlecht aus. Der Kanzler klagt, das Volk trete Recht und Gesetz mit Füßen; der Heermeister beschwert sich über die Soldaten, die widerspänstig seien und das Reich plündern, statt es zu beschützen; der Schatzmeister jammert über die leeren Kassen, der Marschall über die theure Zeit. Die Scene ist sehr ergötzlich, voll beißenden Spottes und Schelmerei. Mephisto ist als Hofnarr verkleidet; »sag, weißt Du Narr nicht auch noch eine Noth«, fragt ihn der Kaiser; er antwortet nach seiner Art: er begreife nicht, wie unter solchem Herrn und solchen Räthen Noth sein könne; Gold gebe es genug, gemünzt und ungemünzt liege es in der Erde, und zu Tage werde es geschafft durch »begabten Mann's Natur- und Geisteskraft«. Sofort unterbricht ihn der Kanzler, der hinter dergleichen Reden Ketzerei wittert:

Natur und Geist – so spricht man nicht zu Christen.
Deßhalb verbrennt man Atheisten,
Weil solche Reden höchst gefährlich sind.
Natur ist Sünde, Geist ist Teufel.

Nicht auf solchen Grundlagen, fügt er hinzu, ruhe seines Kaisers Reich; nur zwei Geschlechter gebe es, die würdig seinen Thron stützen:

Die Heil'gen sind es und die Ritter;
Sie stehen jedem Ungewitter
Und nehmen Kirch' und Staat zum Lohn.

Gewiß ist das alles sehr witzig, aber wir würden mehr Freude an dem Spaß haben, wenn er in den Plan des Stücks deutlich verwoben wäre; so fehlt es an jeder Verknüpfung, Faust ist nicht einmal zugegen. Gleich unverständlich ist die folgende Scene. Ein Maskenspiel wird zur Unterhaltung des Kaisers aufgeführt; es ist so wild und mannigfaltig wie möglich, allerliebste Verse und treffende Spöttereien sind darin, aber der Leser fühlt sich verwirrt, er weiß nicht, was er daraus machen soll, wo es hin will. Die nächste Scene spielt im Lustgarten des Kaisers; der eigentliche Inhalt ist eine Satire auf das Papiergeld. Der Kaiser hat während des Gaukelspiels, ohne es zu wissen, den betreffenden Befehl unterzeichnet; rasch ist die Ausführung gefolgt; Mephisto's Prophezeihung ist eingetroffen: begabten Mann's Natur- und Geisteskraft hat aus Papier Gold geschafft; alle Welt ist zufrieden, das Volk jubelt, jeder macht Pläne für die Zukunft; auch der Kaiser läßt es gelten und bedankt sich für die allgemeine Wohlthat bei Faust, der zu Anfang dieser Scene ohne jede Ankündigung oder Motivirung als Urheber des Fastnachtsspiels eingeführt ist. Reicher Stoff das alles für die Erklärer des Faust, aber der Leser fühlt sich nicht sonderlich gefördert. In der folgenden Scene sind Faust und Mephisto allein in einer finsteren Gallerie; dieser begreift nicht, warum sie sich aus dem lustigen Treiben des Hofes in düstere Gänge verlieren; aber Faust hat dem Kaiser versprochen, ihm Paris und Helena heraufzubeschwören, und verlangt nun von Mephisto, er solle sich an's Werk machen. Den aber geht das Heidenvolk nichts an, »es haust in seiner eignen Hölle«, und Helena ist nicht so leicht zu haben wie Papiergeld. Doch giebt's ein Mittel; Faust muß die »Mütter« aufsuchen. Wer sind die Mütter?

Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch wen'ger eine Zeit.

Zu ihnen führt kein Weg; es geht

in's Unbetretene,
Nicht zu Betretende; ein Weg an's Unerbetene,
Nicht zu Erbittende.

In »ewig leerer Ferne« wohnen sie; im »tiefsten, allertiefsten Grund«, den ein glühender Dreifuß bezeichnet.

Bei seinem Schein wirst Du die Mütter sehn;
Die einen sitzen, andre stehn und gehn,
Wie's eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,
Des ew'gen Sinnes ew'ge Unterhaltung,
Umschwebt von Bildern aller Creatur;
Sie sehn Dich nicht, denn Schemen sehn sie nur.

Noch einmal: wer sind die Mütter? Das hat mir niemand erklären können. Goethe hat auf alles Andringen Eckermann's nur die eine Andeutung gegeben, er habe den Namen beim Plutarch gefunden; die Hegelianer halten die Mütter für die abstrakten Kategorien ihrer Logik – ich muß den Leser auf seinen eigenen Scharfsinn verweisen. Faust indeß läßt sich durch die Unbestimmtheit des Weges und des Zieles nicht abhalten; stampfend versinkt er, und ächt mephistophelisch ruft ihm Mephisto nach: »Neugierig bin ich, ob er wieder kommt«.

Die folgenden Scenen spielen wieder in den kaiserlichen Gemächern. Mephisto übt seine Zauberkünste, heilt eine Dame von ihren Sommerflecken, eine andere von ihrem lahmen Fuß, giebt einer dritten einen Liebestrank und weiß sich kaum vor dem Zudrang der Rath- und Hülfesuchenden zu retten. Endlich beginnt das Schauspiel. Faust steigt aus der Erde herauf, der Dreifuß mit ihm; ein leichter Nebel wallt von ihm empor, aus dem Paris hervortritt, den die Damen entzückend, die Herren mäßig schön finden; dann erscheint Helena, welche den umgekehrten Eindruck macht; Mephisto meint: »hübsch ist sie wohl, doch sagt sie mir nicht zu«; Faust aber kann sich in seinem Entzücken gar nicht mäßigen; vergebens ermahnt ihn Mephisto, sich zu fassen, die Geister, die er selbst geschaffen, nicht für wirklich zu nehmen; bei ihren Gunstbezeugungen wird Faust eifersüchtig auf Paris; er berührt die Erscheinung, eine Explosion erfolgt, die Geister gehen in Dunst auf, und besinnungslos wird Faust von Mephisto davongetragen. So endet der erste Akt.

Wenn wir für einen Augenblick von der symbolischen Bedeutung dieser Scenen und dem gelegentlichen Reiz der Darstellung absehen, so bleibt wenig zu bewundern, und damit ist alles gesagt. Denn wenn wir selbst die Symbolik uns gefallen lassen, wie gewisse Kritiker thun, und die tiefen Gedanken und den beißenden Spott anstaunen, welche all' dem Gaukelspiel zu Grunde liegen, so bewundern wir doch nur den Denker, nicht den Künstler, und rühmen wohl das Gedicht, aber nicht wegen dichterischer Vorzüge. Danach darf es nicht überraschen, wenn Leser, die den verborgenen Sinn nicht erfassen oder eben nichts Großes darin finden, in ihrer Bewunderung etwas lau sind.

Im zweiten Akte liegt Faust in seinem alten Studirzimmer schlafend auf einem Bett, ihm zur Seite Mephisto. Ein Famulus tritt herein, von dem wir erfahren, daß Wagner seit dem Verschwinden seines Herrn, auf dessen Wiederkunft er täglich harrt, in tiefer Zurückgezogenheit alchymistische Studien betreibt. Dann kommt unser alter Bekannter, der Schüler, den Mephisto einst gehänselt; inzwischen ist er Baccalaureus geworden und so dünkelhaft wie er früher schüchtern war; er ist ein Idealist nach Fichte'scher Weise, und in dem Unsinn, den er mit viel Behagen auskramt, muß das Fichte'sche Ich tüchtig herhalten.

Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein –

und während Mephisto bei Seite bemerkt, »der Teufel stellt dir nächstens doch ein Bein«, fährt er lustig fort:

Dies ist der Jugend edelster Beruf!
Die Welt sie war nicht eh' ich sie erschuf;
Die Sonne führt' ich aus dem Meer herauf;
Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf –

und in dem Tone weiter, bis er höchlich von sich erbaut abgeht. »Original, fahr hin in Deiner Pracht!« ruft Mephisto hinter ihm drein.

In der nächsten Scene tritt Mephisto in Wagner's Laboratorium. Dieser heißt ihn willkommen, bittet ihn aber leise zu sein; er ist grade auf dem Punkte, einen Homunculus (Menschlein), den er in einer Phiole fabrizirt, fertig zu machen. Es sind vorzügliche Sachen in dieser Scene; besonders komisch und charakteristisch ist die Sprache, die Wagner führt; er ist ganz stolz auf seine wissenschaftliche Menschenfabrikation:

– – wie sonst das Zeugen Mode war,
Erklären wir für eitel Possen.

Für die Thiere mag die alte Methode noch gut sein, jedoch

Der Mensch mit seinen großem Gaben
Muß künftig reinern, höhern Ursprung haben,
Und so ein Hirn, das trefflich denken soll,
Wird künftig auch ein Denker machen.

Aus viel hundert Stoffen, »durch Mischung – denn auf Mischung kommt es an –« wird man

Den Menschenstoff gemächlich componiren,
In einen Kolben verlutiren,
Und ihn gehörig cohobiren.
Was man an der Natur Geheimnißvolles pries,
Das wagen wir verständig zu probiren,
Und was sie sonst organisiren ließ,
Das lassen wir krystallisiren.

Wozu denn Mephisto trocken bemerkt, das sei ihm nichts Neues; er habe schon in seinen Wanderjahren »krystallisirtes Menschenvolk« gesehen.

Der Homunculus wird wirklich fertig, erweist sich aber als ein sehr undankbarer Sohn; während er Mephisto und Faust zu der klassischen Walpurgisnacht zu führen verspricht, heißt er sein Väterchen zu Hause bleiben bei alten Pergamenten.

Den Schluß des Aktes nimmt die klassische Walpurgisnacht ein. Sie ist das Gegenstück zu der auf dem Brocken im ersten Theil; wie diese das deutsche Hexen- und Zauberwesen, so stellt sie die übernatürliche Welt dar, wie sie die Griechen sich bevölkerten. Hier wie an jedem Vergleichungspunkte der beiden Gedichte zeigt sich der gewaltige Abstand zwischen ihnen. Die Walpurgisnacht des ersten Theils ist ganz im Geist der alten Faustsage, Mephisto und die Hexen gehören zusammen, auf dem Blocksberg ist er »Herr vom Haus«, und natürlich muß er auch dem Faust, dem er für den Augenblick dient, seine dortigen Herrlichkeiten zeigen; hier aber auf den pharsalischen Feldern, wo die klassische Walpurgisnacht spielt, ist sein »Lustrevier« nicht, von einer klassischen Walpurgisnacht »hat er nie vernommen«, Homunculus muß ihn führen und erst mit thessalischen Hexen lüstern machen, und als er da ist, findet er sich »doch ganz und gar entfremdet« –

Zwar sind auch wir von Herzen unanständig,
Doch das Antike find' ich zu lebendig.

Lag die deutsche Walpurgisnacht wenn auch nicht unmittelbar im Stoffe, doch innerhalb des Stoffes, so führt in die klassische Walpurgisnacht nur das subjektive Belieben des Dichters. Vielleicht verführte ihn der Gedanke, den nordischen Bocksfuß mit der antiken Welt in unmittelbaren Gegensatz zu bringen; wenigstens hat er die Ironie, welche in der Berührung Mephisto's mit dem fremden Elemente liegt, mit sichtlichem Behagen gezeichnet. Eine ähnliche Verschiedenheit zeigt sich in der Behandlung. Die Walpurgisnacht auf dem Brocken ist objektiv, dem Stoff gemäß behandelt und, von dem kleinen Auswuchs des Intermezzo »Oberon's und Titania's goldene Hochzeit« abgesehen, so knapp gehalten, wie es ein solches Phantasiegemälde zuließ. Die klassische Walpurgisnacht dagegen ist ein wahres Gemengsel, worin Goethe allerlei kleine Bruchstücke, die im Laufe der Jahre bei ihm entstanden waren, ohne große Sorgfalt zusammengeworfen hat. Was hat er nicht alles da hineingebracht! Außer Faust, Mephisto und Homunculus die Erichtho, schnarrende Greife, Ameisen »von der kolossalen Art«, Arimaspen, Sphinxe, Sirenen, den Peneios und seine Nymphen, den Chiron und die Manto, verschiedene Erdbeben, »in der Tiefe brummend und polternd«, auch redend, Pygmäen, Imsen und Daktyle, die Kraniche des Ibykus, Lamien und Empusen, Anaxagoras und Thales, Oreaden, Dryaden und Phorkyaden, Nereiden und Doriden, Telchinen von Rhodos, Tritonen, Psyllen und Marsen, Proteus, Nereus und Galatea – es ist eine Schaar so groß, daß er, um den Schlußchor erschöpfend zu bezeichnen, ihn »All Alle« überschreiben muß! Daß in solcher Menge die Hauptpersonen sich ganz verlieren, daß bei solchem Geschwirre jede Harmonie fehlt, braucht kaum gesagt zu werden; diese klassische Walpurgisnacht wird niemand lesen, ohne daß es ihm wie ein Mühlrad im Kopf herum geht.

Faust's Antheil an der klassischen Walpurgisnacht besteht wesentlich in einer Unterredung mit Chiron, den er nach der Helena fragt, welche dieser noch in ihrer reizendsten Jugendschönheit gekannt hat; seine Schilderung erregt das Verlangen nach ihr noch heftiger, und er beschließt, sie mit Hülfe der Sibylle Manto aus der Unterwelt heraufzuholen. So wird, wenigstens äußerlich, der dritte Akt vorbereitet, in welchem Helena erscheint. Der dritte Akt war ursprünglich ein besonderes Gedicht »Helena« und wurde als solches veröffentlicht. Es ist ein Werk aus Goethe's bester Zeit, in einem Stil behandelt, den wir sonst im ganzen zweiten Theil des Faust vermissen, lichtvoll und kraftvoll geschrieben. Aber so sehr ich diese Partie bewundere, ich muß doch bedauern, daß so viel Poesie und Schönheit zum guten Theil rein weggeworfen ist. Die Frage ist auch hier, wie weit in einem Kunstwerke der Gedanke die Form überwiegen, wie weit es allegorisch sein darf. Carlyle, in seiner ausführlichen Besprechung der Helena, verweist auf Bunyan's Pilgerreise, das erste allegorische Buch aller Zeiten, und meint, weder sei Bunyan grade der beste Theologe, noch die Theologie grade die anziehendste Wissenschaft, und doch lebe die Pilgerreise in der dankbaren Erinnerung so vieler Tausende eine sonnigere Unsterblichkeit als alle theologischen Abhandlungen, alle Romane und Gedichte unserer Literatur. Diese Hinweisung aber, wenn ich irgend richtig sehe, rettet nicht den zweiten Theil des Faust oder die Helena im besondern, sondern verurtheilt beide; denn wer darf behaupten, daß der zweite Theil des Faust oder die Helena bei der Welt in lieber Erinnerung stehe?! Wer freilich Räthselworte liebt und Deutungen, für den ist das Werk unerschöpflich; wer schöne Verse liebt und tiefe Geistesblitze, für den wird es immer anziehend sein und bleiben; aber wer ein Meisterwerk zu finden hofft, wird sich stets täuschen. Ein Kuß von Gretchen ist tausend allegorische Helena's werth!

Der Inhalt des dritten Aktes ist kurz der: Helena wird vor der Rache ihres Gatten, der sie nach ihrer Heimkehr aus Troja dem Tode geweiht hat, von dem Königspalaste in Sparta durch Zauber in eine mittelalterliche Burg entrückt, wo Faust als Fürst regiert; er empfängt sie festlich und bietet ihr seine Hand an; aus ihrer Vermählung – die Vermählung der antiken und mittelalterlichen Poesie ist damit gemeint – entspringt mit schnellem Wachsthum Euphorion-Byron, der Repräsentant der romantischen Poesie; der Knabe genießt in raschem Fluge die Freuden der Welt, strebt maßlos und unbändig von der Erde aufwärts; ein zweiter Ikarus breitet er seine Flügel aus und stürzt entseelt zu der Eltern Füßen. Helena bereitet sich, ihm in's Schattenreich zu folgen, sie umarmt Faust, ihr Körperliches verschwindet, nur Kleid und Schleier bleiben ihm in den Armen; dann lösen sich die Gewande in Wolken auf, heben Faust selbst in die Höhe und ziehen mit ihm davon.

Im vierten Akt beginnt endlich Faust dem Thatendrange Raum zu geben, von dem ihm die Elfen zu Anfang des Stückes sangen: er begeistert sich dafür, dem Meere Land abzugewinnen. Da spielt der kaiserliche Hof wieder herein; der Kaiser ist von seinen Feinden bedrängt, Mephisto vertreibt das feindliche Heer durch Wasserstürze von den Bergen; zum Lohn belehnt der Kaiser – auch sonstige Bilder des Lehnsstaates werden zugleich vorgeführt – Faust mit dem Meeresstrande des ganzen Reichs. Im fünften Akte sehen wir Faust auf seinem neuen Gebiete in glänzendem Besitze und eifriger Thätigkeit. Mit dem Besitze ist die Habsucht gekommen und die Unzufriedenheit; er ist alt geworden, hart und trübsinnig. Da treten um Mittelnacht vier graue Weiber an die Thür seines Palastes: der Mangel, die Schuld, die Sorge, die Noth. Die drei andern suchen vergebens Eingang; die Sorge schleicht sich durch's Schlüsselloch ein. Als Faust sie erblickt, heißt er sie sich entfernen. »Ich bin am rechten Ort«, erwidert sie; »hast du die Sorge nie gekannt?« Er habe immer rastlos gestrebt und gewünscht, antwortet er, nur begehrt und nur vollbracht und so sein Leben durchstürmt, erst groß und mächtig, nun weise und bedächtig; den Erdkreis kenne er genug, nach drüben sei die Aussicht verwehrt, und durchaus in Goethe's eigenem Sinne schließt er:

Thor, wer dorthin die Augen blinzend richtet,
Sich über Wolken seines Gleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um;
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm
.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.

Als er die Macht der Sorge anzuerkennen sich weigert, haucht sie ihn an: er erblindet. Allein »im Innern leuchtet helles Licht«; trotz seiner Blindheit will er sein begonnenes Werk, einen großen Kanal, vollenden.

Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
Verpestet alles schon Errungne;
Den faulen Pfuhl auch abzuziehn,
Das Letzte wär' das Höchsterrungne.
Eröffn' ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch thätig-frei zu wohnen.


Ja, diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Aeonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick.

So hat er das entscheidende Wort gesprochen; »nun mag die Todtenglocke schallen, es ist die Zeit für ihn vorbei«; er sinkt todt zurück, das Leben ohne Ruhe ist zur Ruhe. Und so weit das Problem des Faust eine erschöpfendere Lösung finden kann, als ich sie am Schluß meiner Besprechung des ersten Theils angedeutet habe, so weit ist sie nach meiner Ansicht in seiner letzten Rede gegeben: die ringende Seele, die sich in persönlicher Anstrengung und persönlicher Befriedigung nach verschiedenen Richtungen versucht und keine Ruhe gefunden hat, gelangt endlich zur Erkenntniß der großen Wahrheit, daß der Mensch für den Menschen da ist und daß nur, wenn er für die Menschheit wirkt, sein Streben ihm dauerndes Glück schaffen kann. Faust wird gerettet; Engel führen ihn aus den Händen Mephisto's und seiner Geister in die Regionen der Seligen, wo ihm Gretchen entgegenschwebt:

Wer immer strebend sich bemüht,
Den können sie erlösen.



 << zurück weiter >>