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Zehnter Abschnitt.
Goethe als Naturforscher.

Philosophische, wissenschaftliche und Kunststudien. Seine Abhandlung über die Metamorphose der Pflanzen; wird zuerst kalt aufgenommen. Anerkennung seiner Arbeiten durch St. Hilaire. Allgemeine Anerkennung seiner Entdeckung. Seine botanischen und anatomischen Studien sind im großen Stil. Seine Bemühungen in der Optik sind verfehlt. Er mißversteht Newtons Theorie. Veröffentlicht die »Beiträge zur Optik«; sie finden Widerspruch; Goethe's Hartnäckigkeit und Reizbarkeit. Die »Farbenlehre«. Seine Erklärung der Erscheinungen der Strahlenbrechung. Sein Irrthum entspringt daher, daß er die Anwendung der Mathematik in der Optik verwarf; sucht sie durch Beobachtung und Geist zu ersetzen; hatte überhaupt von Natur für die concrete Erscheinung Sinn, nicht für Abstraktionen. An einer Widerlegung Newton's versucht er sich nirgends. – Seine Erfolge in den organischen Wissenschaften. Kein Metaphysiker, aber ein Denker. Seine Entdeckung des Zwischenknochens. Anwendung der vergleichenden Methode. Die Morphologie; die Vertebraltheorie; die Metamorphose der Pflanzen. Die Theorie der Metamorphose ist später durch die Zellentheorie beschränkt. – Goethe's Gedanke einer allgemeinen Grundform. Vergleichung seiner Entdeckung mit der von Caspar Wolff. Goethe nimmt eine Verfeinerung der Pflanzensäfte, Wolfs eine Verminderung derselben an. Das Gesetz des Wachsthums und der Fortpflanzung hat Goethe klar erkannt. Einwurf gegen die morphologische Theorie. An die Stelle des Begriffs der Metamorphose tritt der der Ersetzung. Goethe's Bemühungen um die vergleichende Anatomie. Die objektive Methode. Das Gesetz der Entwicklung hat Goethe erfaßt und angewendet. Auch das Gesetz der Theilung der Arbeit im thierischen Organismus liegt schon bei Goethe ausgesprochen. Seine »Einleitung in die vergleichende Anatomie«. Das »allgemeine Bild«. – Wiefern Goethe auf die Entdeckung der Vertebraltheorie für die Schädelbildung Anspruch hat. Oken's Angriff. Goethe hat die Idee gehabt, aber Oken ist der eigentliche Entdecker.

Nachdem er mit Frau von Stein gebrochen und den Tasso beendet hatte, fing Goethe an, Kant zu studiren. Die Kritik der reinen Vernunft ist in einer philosophischen Schulsprache geschrieben, die er zu fassen völlig außer Stande war, und hätte er auch folgen können, so war doch der Inhalt mehr metaphysisch als ihm zusagte; indeß las er in dem Buche wie er im Spinoza las, und die Kritik der Urteilskraft interessirte ihn höchlich, namentlich in ihren ästhetischen Abschnitten. Durch das Studium Kant's trat er Schiller etwas näher, obgleich dieser den Anstand zwischen ihnen beiden so groß ansah, daß er an Körner schrieb: »Seine Philosophie mag ich nicht ganz: sie holt zu viel aus der Sinnenwelt, wo ich aus der Seele hole. Ueberhaupt ist seine Vorstellungsart zu sinnlich und betastet mir zuviel. Aber sein Geist wirkt und forscht nach allen Direktionen und strebt, sich ein Ganzes zu erbauen – und das macht mir ihn zum großen Mann.«

Die Vielseitigkeit seiner Thätigkeit war in der That staunenswerth. Gleich nach dem Tasso machte er die Beschreibung des römischen Carnevals, schrieb über Nachahmung der Natur und studirte mit wunderbarem Eifer die Geheimnisse der Botanik und Optik. Für seine poetische Produktivität genügt es an die römischen Elegien zu erinnern, und seine Thätigkeit auf naturwissenschaftlichem Gebiete übertraf noch alle andern. Er war gesellschaftlich in einer unangenehmen Lage und wie er nachher gestand, würde er es nicht haben aushalten können, wenn ihn nicht seine Kunst- und Natur-Studien aufrecht erhalten hätten. Sie waren ihm zu allen Zeiten Zuflucht und Trost.

Ueber Kunst hörte ihn die Welt mit Aufmerksamkeit an; über Naturwissenschaften wollte sie nichts von ihm hören, sondern wandte sich schweigend, ja selbst mit spöttischem Lachen ab. Auf beiden Gebieten war er nur Dilettant. Wenn er über Malerei oder Bildhauerkunst sprach, so verlieh zwar keine praktische Befähigung seinem Urtheil Nachdruck, und doch lauschte die Welt seinen Worten mit Ehrfurcht, oft mit Begeisterung Rauch in Berlin sagte dem Verfasser, die Begeisterung, welche Goethe's Bemerkungen über Kunst in ihm erregt hätten, sei für sein ganzes Leben von Einfluß gewesen.. Aber während die Künstler und das Publikum dem Urtheile eines Mannes von Genie, obwohl er praktisch ein bloßer Dilettant war, Gewicht und Bedeutung zuerkannten, waren die Männer der Wissenschaft nicht geneigt, ihn auf ihrem Gebiete als Autorität gelten zu lassen, weil er nicht in ihrer Schule gebildet war und nicht ihre Examina durchgemacht hatte. Bis auf den heutigen Tag hält sich der ausgemachteste Dummkopf, wenn er nur Naturwissenschaften studirt und sein Examen gemacht hat, für vollauf berechtigt, verächtlich herabzublicken auf den »Poeten«, der »in die vergleichende Anatomie hineinpfuschte«. Indeß, der Poet machte Entdeckungen und verkündete Gesetze, deren Wichtigkeit solch ein eitler Fachgelehrter nicht einmal zu würdigen weiß, so weit übersteigen sie seine Schulgelehrsamkeit.

Die Männer der Wissenschaft spotteten über Goethe bei seinen Lebzeiten und thun es heutzutage noch; nur die Bestunterrichteten nicht. Das ist erklärlich genug. Männer von Fach haben ein Recht, gegen leichtfertige Dilettanten aus der Hut zu sein, denn sie wissen, welch eine strenge Schule die Wissenschaft verlangt. Indeß, zur Vorsicht verpflichtet, sie werden abgeschmackt, wenn sie die Augen ganz schließen. Wenn der Dilettant unverdautes Zeug als große Entdeckungen vorbringt, so mag ihr Spott berechtigt genug sein, aber wenn er Entdeckungen zu Tage fördert, welche sie als Unsinn einfach ablehnen, so fällt der Spott auf sie selbst zurück. Giebt ihnen die gründliche Schule, die sie durchgemacht, wissenschaftliche Ueberlegenheit, so sollte ihnen diese Ueberlegenheit ein willigeres Verständniß geben, aber die Wahrheit ist, mit dem wissenschaftlichen Uebergewicht ist es nicht so weit her. Die Masse, eben weil sie die Masse ist, nimmt jede neue Idee nur schwer auf, außer wenn sie in der Richtung ihrer eigenen Kenntnisse liegt, und dieser Widerstand steigert sich um ein Bedeutendes, wenn die Idee von einem Manne ausgeht, der an sich keine Autorität ist. Was aber giebt Autorität? Talent und Fleiß, und beides hatte Goethe in so hohem Maaße, daß er insofern vollen Anspruch hat, Autorität zu sein.

Als Goethe seine ausgezeichnete Schrift über die Metamorphose der Pflanzen schrieb, hatte er ein doppeltes Hinderniß zu überwinden: die Neuheit seiner Gedanken und seinen Ruhm als Dichter. Wäre ein unbekannter Professor der Verfasser gewesen, so hätte zwar die Neuheit der Sache an sich das Publikum abgeschreckt, aber der unbekannteste Name in Deutschland hätte aus diesem Gebiete noch größeres Ansehen gehabt als der Name des großen Dichters. Der Buchhändler Göschen, Goethe's gewöhnlicher Verleger, lehnte nach Erkundigungen bei Sachverständigen den Druck der Schrift ab, und ein anderer Verleger übernahm sie nur in der Hoffnung, durch eine dauernde Verbindung mit dem Dichter sich später schadlos zu halten. Als die Metamorphose der Pflanzen erschien, stutzte das Publikum; es sah darin einen hübschen poetischen Einfall, nichts weiter. Die Botaniker zuckten die Achseln und bedauerten, daß der Verfasser seine Einbildungskraft nicht auf seine Gedichte beschränke. Glauben fand seine Theorie bei niemand, selbst nicht bei den nächsten Freunden. Goethe mußte erst viele Jahre warten, ehe sie zu allgemeiner Geltung kam, und auch diesen Erfolg hatte er nur der Unterstützung großer Botaniker zu verdanken. Ein Mann von bedeutender Autorität auf diesem Gebiete, August St. Hilaire Comptes rendus des Séances de l'Acad. VII, 437. Vgl. auch seine Morphologie végétale, vol. I, p. 15., hat bereits vor längerer Zeit (1838) erklärt, man habe Goethe's Theorie sehr ungerecht vernachlässigt und doch sei in den letzten zehn Jahren kaum eine Schrift über beschreibende Botanik erschienen, die nicht den Stempel der Gedanken des berühmten Schriftstellers trage. Es war wirklich der Umstand, daß der Verfasser des Werther auch der Urheber dieser Theorie war, was ihre Anerkennung verzögerte; aber es darf nicht übersehen werden, daß die Theorie von damals dem Stande der Wissenschaft meilenweit voraus war. Denn merkwürdig genug war diese selbe Lehre bereits 1759 von Kaspar Friedrich Wolff in seiner heutzutage nach Verdienst gefeierten Theoria Generationis kurz, aber bestimmt angedeutet worden Die weitere Ausführung und populärere Darstellung gab Wolff 1764 in dem deutschen Werke »Theorie von der Generation.« Das Nähere bei Goethe in der Geschichte seines botanischen Studiums.. Ich werde auf diesen Mann zurückkommen; für jetzt genügt die Bemerkung, daß selbst seine Autorität der morphologischen Theorie nicht die geringste Beachtung seitens der Botaniker zuzuwenden vermochte – ein Beweis, daß das Zeitalter für diese Idee nicht reif war.

Da es bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung meine Absicht ist zu zeigen, daß Goethe's naturwissenschaftliche Arbeiten statt des ersten Spottes endlich bei den größten Autoritäten Anerkennung gefunden haben, so würde ich meinen Zweck zu verfehlen fürchten, wenn ich nicht meine Angaben durch das Urtheil von Kennern unterstützte. August St. Hilaire sagt: »Linné hatte ein Wort hingeworfen, welches die Lehre von der Metamorphose in sich schloß: in Blüthen und Blättern walte ein und dasselbe Princip ( principium florum et foliorum idem est). Diesen Gedanken hat Goethe zu einem System entwickelt. Aber seine Schrift hatte dasselbe Schicksal wie das Wort Linnés, sie fand keine Beachtung. Die Gelehrten lasen sie nicht, weil sie meinten, da sie von einem Dichter herrühre, so könne nichts daran sein als Phantasterei. Wie schlecht verstanden sie den Goethe'schen Geist! diesen vielseitigen Geist, der jede Form annahm und stets die wählte, welche dem Gegenstande am angemessensten war. Schrieb er über wissenschaftliche Fragen, so war er ernst wie die Wissenschaft selbst. Schon hatte er für manche Art schriftstellerischer Darstellung Muster gegeben, nun gab er ein Muster von wissenschaftlicher Arbeit, und wenn seine Schrift nicht gleich die verdiente Anerkennung fand, so war das nur, weil sie für seine Zeitgenossen zu früh erschien – er hatte in die Zukunft hinausgegriffen.« Hilaire in der Morphol. vég. an der angeführten Stelle. In ähnlichem Sinne Prof. Schmidt in seiner kleinen Schrift »Goethe's Verhältniß zu den organischen Wissenschaften« S. 10.

Nach Verlauf einiger Jahre begannen einige bedeutende Botaniker seine Entdeckung zu würdigen. So erklärte sie Kieser für das umfassendste, was seit lange über die specielle Physiologie der Pflanzen gesagt worden sei. Nees von Esenbeck, einer der ersten Männer in der Wissenschaft, sagte im Jahre 1818: »Theophrastos war Schöpfer der neueren Botanik, Goethe ist ihr ein freundlicher milder Vater geworden, zu dem die Tochter menschlich empfindend und liebend, in wohlgebildeter Lieblichkeit immer zärtlicher die Augen aufschlagen wird, jemehr sie, den ersten Kinderjahren entwachsen, den Werth ihres eigenen schönen Daseins und der väterlichen Pflege erkennen lernt.« Sprengel in seiner Geschichte der Botanik erwähnt die Goethe'sche Theorie sehr oft; an einer Stelle sagt er: »Goethe's Metamorphose hatte einen zu tiefen Sinn, sprach durch Einfachheit zu sehr an, und war so fruchtbar in den nützlichsten Folgerungen, daß man sich billig nicht wundert, wenn sie weitere Erörterungen veranlaßte, obwohl mancher sich stellte, sie nicht zu achten.« Gegenwärtig ist es bereits seit einer Reihe von Jahren allgemeiner Gebrauch, in jedem botanischen Werke, das auf Wissenschaftlichkeit Anspruch macht, einen Abschnitt über die Metamorphose der Pflanzen zu geben; nach vollem Verdienst aber wird Goethe auch heute noch nur von den höchsten Autoritäten gewürdigt.

»Seit länger als einem halben Jahrhundert, sagt Goethe in der Geschichte seines botanischen Studiums, kennt man mich im Vaterlande, und auch wohl auswärts, als Dichter und läßt mich allenfalls für einen solchen gelten; daß ich aber mit großer Aufmerksamkeit mich um die Natur in ihren allgemeinen physischen und ihren organischen Phänomenen emsig bemüht und ernstlich angestellte Betrachtungen stätig und leidenschaftlich im Stillen verfolgt, dieses ist nicht so allgemein bekannt, noch weniger mit Aufmerksamkeit bedacht worden. Als daher mein seit vierzig Jahren in deutscher Sprache abgedruckter Versuch, wie man die Gesetze der Pflanzenbildung sich geistreich vorzustellen habe, nunmehr besonders in der Schweiz und Frankreich näher bekannt wurde, so konnte man sich nicht genug verwundern, wie ein Poet, der sich blos mit sittlichen, dem Gefühl und der Einbildungskraft anheim gegebenen Phänomenen gewöhnlich befasse, sich einen Augenblick von seinem Wege abwenden und, in flüchtigem Vorübergehen, eine solche bedeutende Entdeckung habe gewinnen können. Diesem Vorurtheil zu begegnen, ist die Geschichte meines botanischen Studiums verfaßt; sie soll anschaulich machen, wie ich Gelegenheit gefunden einen großen Theil meines Lebens mit Neigung und Leidenschaft auf Naturstudien zu verwenden. Nicht also durch eine außerordentliche Gabe des Geistes, nicht durch eine momentane Inspiration, noch unvermuthet und auf einmal, sondern durch ein folgerechtes Bemühen bin ich endlich zu einem so erfreulichen Resultate gekommen. Zwar hätte ich gar wohl der hohen Ehre, die man meiner Sagacität erweisen wollen, ruhig genießen und mich allenfalls damit brüsten können; da es aber im Verfolg wissenschaftlichen Strebens gleich schädlich ist, ausschließlich der Erfahrung als unbedingt der Idee zu gehorchen, so habe ich für meine Schuldigkeit gehalten, das Ergebniß, wie es mir begegnet, historisch treu, obgleich nicht in aller Ausführlichkeit ernsten Forschern darzulegen.«

Die kühle Aufnahme seines Werkes verletzte ihn nicht sehr. Er wußte, daß das Publikum jedes Talent gern in seinem Kreise bleiben sieht und auf einem neuen Gebiete nur zögernd Beifall spendet. Auch fand er das ganz natürlich; nur freilich, setzte er so stolz wie treffend hinzu, »der lebhafte Mensch fühle sich um sein selbst willen und nicht für's Publikum da.« So rechnete er denn fortwährend die Stunden seiner botanischen Studien zu den glücklichsten seines Lebens, und »völlig unschätzbar, sagt er, wurden mir diese vergnüglichen Bemühungen dadurch, daß sie Anlaß gaben zu einem der höchsten Verhältnisse, die mir das Glück in späteren Jahren bereitete: ihnen bin ich die nähere Verbindung mit Schiller schuldig.«

Neben den botanischen Studien stehen seine optischen. Die Geschichte seiner Forschungen in diesen beiden Richtungen zeigt den belehrendsten Gegensatz; sie stellt seine wissenschaftliche Methode ins Licht und seine wissenschaftlichen Vorzüge und Mängel ebenfalls. Wir werden ihn nun, statt wie bisher mit Theilnahme und Bewunderung, mit jenem Gefühl des Bedauerns begleiten, das uns der Anblick abnöthigt, einen großen Mann in einer falschen Richtung befangen zu sehen. Seine botanischen und anatomischen Forschungen sind so tüchtig, daß man sich über die Kälte ärgert, mit der das Publikum sich dagegen verhielt; seinen optischen Studien gegenüber ist die Mißachtung der Fachgelehrsamkeit wohl erklärlich.

Auch die Geschichte dieser Studien hat er geschrieben. Von Jugend auf war er geneigt, über Malerei zu theoretisiren, und wie er sehr richtig bemerkt, fühlte er sich dazu um so mehr getrieben, je weniger er zur Ausübung der Kunst eine natürliche Anlage hatte. Ueber Dichtkunst zu theoretisiren hatte er keinen Anlaß; da trug er die schaffende Kraft in sich; bei der Malerei aber suchte er »durch Verstand und Einsicht dasjenige auszufüllen, was die Natur Lückenhaftes an ihm gelassen hatte.« Der Aufenthalt in Italien wurde auch hierfür entscheidend; mit seinen Kunstfreunden verhandelte er über Farbe und Colorit, aber vergebens sprach er die kühnsten Paradoxen aus, um ihnen die Wahrheit zu entlocken; seine Freunde waren alle höchst unsicher und schwankend in ihren Anschauungen. Ebensowenig halfen ihm die physikalischen Lehrbücher. Zuletzt sah er ein, daß man »den Farben erst von Seiten der Natur beikommen müsse, wenn man in Absicht auf Kunst etwas über sie gewinnen wolle.« Man verwies ihn an Newton, aber das hergebrachte Kapitel darüber in einem Compendium brachte ihn nicht weiter. Da er die Versuche, durch welche die Newton'sche Theorie bewiesen werden sollte, niemals gesehen hatte, so beschloß er jetzt diese Phänomene selbst zu studiren. Professor Büttner in Jena lieh ihm dazu den Apparat, aber es fehlte ihm an einer dunklen Kammer mit der kleinen Oeffnung im wohlverschlossenen Fensterladen; noch andere Hindernisse kamen dazu und die Prismen lagen ungebraucht in ihrem Kasten. Büttner wurde ungeduldig; er bat wiederholt um Zurücksendung seines Apparats und schickte endlich einen Boten, um ihn abholen zu lassen. Da fiel es Goethe ein, er wolle doch noch geschwind durch ein Prisma sehen, was er seit seiner frühesten Jugend nicht gethan. Lassen wir ihn selbst erzählen: »Eben befand ich mich in einem völlig geweißten Zimmer; ich erwartete, als ich das Prisma vor die Augen nahm, eingedenk der Newton'schen Theorie, die ganze weiße Wand nach verschiedenen Stufen gefärbt, das von da ins Auge zurückkehrende Licht in so viel farbige Lichter zersplittert zu sehen. Aber wie verwundert war ich, als die durchs Prisma angeschaute weiße Wand nach wie vor weiß blieb, daß nur da, wo ein Dunkles dran stieß, sich eine mehr oder weniger entschiedene Farbe zeigte, daß zuletzt die Fensterstäbe am allerlebhaftesten farbig erschienen, indessen am lichtgrauen Himmel draußen keine Spur von Färbung zu sehen war. Es bedurfte keiner langen Ueberlegung, so erkannte ich, daß eine Grenze nothwendig sei, um Farben hervorzubringen, und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich für mich laut aus, daß die Newton'sche Lehre falsch sei!« An eine Zurücksendung der Prismen war nicht zu denken; er behielt sie und wußte den Eigenthümer zu beruhigen.

Das war denn freilich ein unglücklicher Anfang. Er begann mit einer falschen Auffassung der Newton'schen Lehre und glaubte sie dann siegreich zu widerlegen, während er doch nur seinen eigenen Irrthum bekämpfte. Newton behauptet nicht, daß eine weiße Fläche durch ein Prisma gefärbt erscheint, sondern daß sie weiß bleibt und nur die Ränder gefärbt erscheinen. Seine vermeintliche Entdeckung ließ dem Dichter nicht Rast noch Ruhe. »Ein entschiedenes Aperçü, sagt er, ist wie eine inoculirte Krankheit anzusehen, man wird sie nicht los bis sie durchgekämpft ist.« Er häufte Versuche auf Versuche, trug die Sache unaufhörlich mit sich herum und betrachtete sie von allen Seiten, aber es fiel ihm nicht ein, den einfachsten Weg zu gehen und das ABC der Optik zu lernen. Auf einen schwarzen Grund hatte er eine weiße Scheibe gebracht, welche, durch das Prisma angesehen, das bekannte Spectrum ganz nach der Newton'schen Lehre vorstellte; aber an einer schwarzen Scheibe auf hellem Grund zeigte sich dieselbe Erscheinung. »Wenn sich dort das Licht in so vielerlei Farben auflöst, sagte er zu sich selbst, so müßte ja hier auch die Finsterniß als in Farben aufgelöst angesehen werden.« Und so kam er zu dem Schlusse, nicht das Licht enthalte die Farbe, sondern durch eine Mischung von Licht und Finsterniß, von Hell und Dunkel werde sie erzeugt.

»Da ich, erzählte er, in solchen Dingen gar keine Erfahrung hatte und mir kein Weg bekannt war, auf dem ich hätte sicher fortwandeln können, so ersuchte ich einen benachbarten Physiker, meine Resultate zu prüfen. Ich hatte ihn vorher bemerken lassen, daß sie mir Zweifel in Absicht auf die Newton'sche Theorie erregt hätten, und hoffte sicher, daß der erste Blick auch in ihm die Ueberzeugung, von der ich ergriffen war, aufregen würde. Allein wie verwundert war ich, als er zwar die Erscheinungen in der Ordnung, wie sie ihm vorgeführt wurden, mit Gefälligkeit und Beifall aufnahm, aber zugleich versicherte, daß diese Phänomene bekannt und aus der Newton'schen Theorie vollkommen erklärt seien! Diese Farben gehören keineswegs der Grenze, sondern dem Licht ganz allein an; die Grenze sei nur Gelegenheit, daß in dem einen Fall die weniger refrangiblen, im andern die mehr refrangiblen Strahlen zum Vorschein kämen. Das Weiße in der Mitte sei aber noch ein zusammengesetztes, durch Brechung nicht separirtes Licht, das aus einer ganz eigenen Vereinigung farbiger, aber stufenweise über einander geschobener Lichter entspringe. Ich mochte dagegen einwenden was ich wollte: immer vernahm ich nur das erste Credo und mußte mir sagen lassen, daß die Versuche in der dunklen Kammer weit mehr geeignet seien, die wahre Ansicht der Phänomene zu verschaffen.«

Statt ihn auf den rechten Weg zu bringen, trennte ihn diese Zurechtweisung nur für immer von den Physikern, das heißt von den Männern, welche die Sache gründlich kannten; »ich war auf mich selbst zurückgewiesen,« so fährt nach den eben angeführten Worten sein Bericht ruhig und trocken fort. Seine Freunde sahen die Phänomene gern, die Ununterrichteten amüsirten sich damit, die Unterrichteten sprachen von Brechung und Brechbarkeit und glaubten sich dadurch aller weiteren Prüfung überhoben. Besondern Antheil nahm die Herzogin Louise, der er auch später seine Farbenlehre gewidmet hat. Karl August stimmte in den Eifer des Freundes mit ein; der Herzog von Gotha stellte ihm sein ganzes Physikalisches Kabinet zur Verfügung; Prinz August von Gotha verschrieb ihm aus England prachtvolle Prismen. Fürsten und Dichterlinge wähnten schon, er würde Newton vom Throne stürzen, aber die Männer der Wissenschaft lachten nur über seine Anmaßung und würdigten seine Theorie nicht einmal der Ehre einer Widerlegung. Er selbst faßt das Schicksal seiner Entdeckung in einem einzigen Satze zusammen: »unter den Gelehrten, die mir Beistand leisteten, zählte ich Anatomen, Chemiker, Literatoren, Philosophen, wie Loder, Sömmering, Göttling, Förster, Schelling (und später Hegel); hingegen keinen Physiker.« Keinen Physiker – da liegt's! – und doch scheint er nicht eingesehen zu haben, wie diese einzige Thatsache seiner ganzen Lehre den Boden ausschlug. Welches Gewicht konnte das Urtheil von Anatomen, Literatoren und Philosophen in einer solchen Streitfrage haben? Was würde man zu einem Mathematiker sagen, der gegen die gesammte Genossenschaft aller Mathematiker der Vergangenheit und Gegenwart sich auf das Zeugniß von Zoologen beriefe? Indeß läßt sich für Goethe Eines sagen und ein Bedeutendes: auch bei der Entdeckung des Zwischenknochens und bei der Metamorphose der Pflanzen hatten sich die Kenner vom Fach gegen ihn erklärt, und doch war er im Rechte gewesen. Es war daher erklärlich, daß er nun bei seinen optischen Studien den Widerspruch der Schule nicht hoch anschlug. Die Newtonianer, glaubte er, betrachteten ihn als ihren natürlichen Feind, seien hartnäckig entschlossen, althergebrachte Vorurtheile aufrecht zu erhalten; nur die Beschränktheit einer wissenschaftlichen Gilde und den Handwerkssinn, der wohl »etwas erhalten und fortpflanzen, aber nichts fördern« könne, sah er bei ihnen. Darum hielt ihn ihr Widerspruch nie auf, darum machten ihre Gründe ihn niemals wankend. Während er wohl einsah, die Optik sei zum größten Theil mathematisch, hielt er es doch für einen gründlichen Irrthum, daß man, wie jene meinten, ohne Mathematik in der Optik gar nichts ausrichten könne, und da er Mathematik so gut wie nicht verstand, so konnte er auch ihre Gründe nicht würdigen.

Seine »Beiträge zur Optik,« die er 1791 herausgab, waren gleichsam ein Fühler auf die öffentliche Meinung des großen Publikums. Man muß dem Publikum die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß es die Schrift durchaus theilnahmlos aufnahm. Die Unwissenden hatten überhaupt kein Interesse an dergleichen Fragen und liebten es gewiß nicht, sich an einen Dichter um Belehrung zu wenden; die Unterrichteten erkannten, daß er rettungslos auf dem Irrwege war. »Ueberall, gesteht Goethe, »fand ich Unglauben an meinen Beruf zu dieser Sache, überall eine Art von Abneigung gegen meine Bemühungen, die sich, je gelehrter und kenntnißreicher die Männer waren, immer mehr als unfreundlicher Widerwille zu äußern pflegte.«

Jahrelang setzte er seine Untersuchungen mit leidenschaftlicher, staunenswerther Ausdauer fort. Der Widerspruch erschütterte ihn nicht, ja, machte ihn nur um so hartnäckiger und entlockte ihm polemische Aeußerungen, die so gereizt und von so schlechtem Geschmack waren, daß es uns bei seinem sonst so ruhigen Gleichmuth Wunder nimmt. Vielleicht war das eben ein Zeichen, daß er sich im Unrecht fühlte. Sonst, wenn er mit seiner Ansicht im Recht war, war er ruhig. Die kühle Aufnahme seiner Metamorphose, die Abweisung seiner Entdeckung des Zwischenknochens, die Gleichgültigkeit gegen seine Schriften über vergleichende Anatomie – das alles ertrug er mit der heitern Ruhe eines Philosophen. Aber bei der Farbenlehre war und blieb er empfindlich und im späteren Alter ging das gar ins Komische. Eckermann erzählt davon eine bezeichnende Geschichte; er brachte im Gespräch eine Thatsache vor, welche der Farbenlehre widersprach; Goethe wurde darüber nicht blos ärgerlich, sondern wies auch die Thatsache selbst als unbegründet zurück. Ueberhaupt war er auf diesem Punkt der Farbenlehre moralisch und geistig schwach. »Auf alles was ich als Poet geleistet habe, sagte er wohl im Alter, bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir sein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf thue ich mir etwas zu gute.«

Unzweifelhaft werden meine Leser begierig sein, von dieser Farbenlehre etwas zu erfahren, und obgleich die auszügliche Darstellung, für die allein ich hier Platz habe, sie natürlich in etwas ungünstigem Lichte erscheinen lassen wird, da die zahlreichen Erläuterungen und Versuche, die ihr ein leidliches Ansehen geben, wegfallen, so wird doch der Kern der Sache ans Licht kommen.

Nach der Newton'schen Theorie ist das weiße Licht aus den drei oder sieben Farben zusammengesetzt. Statt dessen ist die Lehre Goethe's diese: Licht ist überhaupt nicht zusammengesetzt, sondern das einfachste und gleichartigste Ding was es giebt. Das Licht aus Farben zusammengesetzt zu nennen ist abgeschmackt, denn jedes farbige Licht ist dunkler als farbloses; das Licht kann also nicht ein Zusammengesetztes des Dunklen sein. Nur zwei reine Farben giebt es, Blau und Gelb, beide spielen ins Röthliche, das eine durch Violet, das andere durch Orange; auch zwei Mischfarben giebt es, Grün und Purpur. Jede andre Farbe ist entweder eine Abstufung von einer von diesen oder unrein. Die Farben haben ihren Ursprung in Veränderungen, die das Licht durch äußere Einflüsse erleidet; sie werden nicht aus dem Lichte, sondern durch das Licht entwickelt. Für die Erscheinung der Farbe bedarf es des Hellen und des Dunklen. Zunächst dem Hellen erscheint eine Farbe, die wir Gelb nennen, zunächst dem Dunklen erscheint Blau, die Mischung beider giebt Grün.

Von dem Grundirrthum der Einfachheit des Lichts ausgehend, unternimmt es Goethe, alle Farbenerscheinungen durch die »trüben Mittel« zu erklären; er behauptet, einerseits gebe es Licht, andrerseits Dunkelheit; wenn ein halb durchsichtiges Medium zwischen die beiden gebracht werde, so entstehen aus diesen Gegensätzen mit Hülfe des Mediums Farben, die in ähnlichem Gegensatze stehen, aber bald »durch einen Wechselbezug unmittelbar auf ein Gemeinsames zurückdeuten.« Das hellste Licht, durch ein sehr wenig dichtes Medium gesehen, erscheint gelb. »Nimmt die Trübe eines solchen Mittels zu oder wird seine Tiefe vermehrt, so sehen wir das Licht nach und nach eine gelbrothe Farbe annehmen, die sich endlich zum Rubinrothen steigert. Wird hingegen der höchste Grad von Dunkelheit durch ein trübes, von einem darauf fallenden Lichte erleuchtetes Mittel gesehen, so erscheint uns eine blaue Farbe, welche immer heller und blasser wird, jemehr sich die Trübe des Mittels vermehrt, hingegen immer dunkler und satter sich zeigt, je durchsichtiger das Trübe werden kann, ja bei dem mindesten Grade der reinsten Trübe als das schönste Violett dem Auge fühlbar wird.«

Zur Erläuterung dieser Theorie führt Goethe eine Menge interessanter Thatsachen an. So z. B. ist aufsteigender Rauch als ein trübes Mittel anzusehen, das vor einem hellen Grunde gelb oder röthlich, vor einem dunklen blau erscheint; auch die blaue Farbe am untern Ende einer Lichtflamme gehört zu den Fällen, wo wir das Blaue gegen einen dunklen Grund sehen. Licht erscheint in der Luft, je nach der Dichtigkeit derselben, gelb, orange oder roth, Dunkelheit erscheint in der Luft blau, z. B. beim Himmel oder entfernten Bergen.

Zur Erläuterung dieser blauen Farbe der Dunkelheit erzählt er eine merkwürdige Anekdote. Ein Maler hatte ein altes Portrait eines Geistlichen zu reinigen; als er mit einem feuchten Schwamm über den schwarzen Sammetrock fuhr, verwandelte sich dieser plötzlich in einen hellblauen Plüschrock. Natürlich überraschte die merkwürdige Erscheinung den Maler sehr; er begriff nicht, wie ein Hellblau zum Grunde des tiefsten Schwarzen liegen könne, und glaubte schon das Bild verdorben zu haben. Am andern Morgen erblickte er zu seiner Freude den schwarzen Sammetrock wieder in völligem Glanze; er konnte sich nicht enthalten, denselben an einem Ende abermals zu benetzen, wo denn die blaue Farbe abermals erschien und nach einiger Zeit wieder verschwand. Als Goethe Nachricht von diesem Phänomen erhielt, begab er sich sogleich zu dem Wunderbilde; eine wiederholte Benetzung zeigte denselben Erfolg. Er erklärte sich das Phänomen aus der Lehre von den trüben Mitteln. »Der Künstler mochte seine schon gemalte schwarze Farbe, um sie recht tief zu machen, mit einem besonderen Firniß lasiren, welcher beim Waschen einige Feuchtigkeit in sich sog und dadurch trübe ward, wodurch das unterliegende Schwarz sogleich als Blau erschien.« Die Erklärung ist sehr sinnreich, aber das Experiment zu wiederholen hat Goethen, wie er selbst hinzufügte, nicht gelingen wollen. Sachlich richtiger ist vermuthlich eine andere Erklärung von einem englischen Naturforscher. Dieser nimmt an, es sei gar kein Firniß da gewesen und die Körpertheilchen, welche schwarz reflektiren – nach der allgemeinen Ansicht die kleinsten – seien durch die Feuchtigkeit des Schwammes zu der Größe derer angeschwellt, welche Blau geben.

So auf ihren einfachsten Ausdruck zurückgeführt, bleibt die Theorie nicht mehr so verführerisch plausibel. Führen wir nun auch die Newton'sche Theorie auf den einfachsten Ausdruck zurück und vergleichen wir dann ihren Werth. Newton nimmt an, das weiße Licht ist zusammengesetzt, und er beweist es, indem er einen Lichtstrahl in seine Elemente zerlegt. Diese Elemente sind Strahlen von verschiedener Brechbarkeit und durch verschiedene Mittel von einander trennbar. Jeder Strahl bringt seine eigene Farbe hervor. Und ebenso wie in die einzelnen Strahlen zerlegen, läßt sich aus ihnen auch das weiße Licht wiederherstellen, wenn man sie in einer Sammellinse vereinigt. Selten findet sich Theorie und Experiment so in Uebereinstimmung wie grade hier bei dieser Newton'schen Theorie.

Auch Goethe's Theorie, das ist nicht zu leugnen, ist sehr plausibel, und er hat sie mit so vielen genauen Experimenten und vorzüglichen Beobachtungen unterstützt, daß er nicht nur auf den heutigen Tag noch eifrige Anhänger zählt, sondern auch die Newtonianer schwer geärgert hat; sie haben Goethe's Ansicht verächtlich abgewiesen, nicht siegreich widerlegt. Für uns Laien muß der blos theoretische Streit wohl mit der Thatsache abgethan sein, daß die überwiegende Mehrheit der Physiker überhaupt nicht auf eine Widerlegung der Goethe'schen Theorie sich eingelassen hat. Ganz unbefangen die Frage angesehen, hat nicht nur Goethe die Newton'sche Lehre offenbar mißverstanden, sondern seine eigene Theorie beruht auch auf gründlichem Irrthum. Der Irrthum ist, daß er das Dunkel als ein Positives hinstellt, statt als die einfache Abwesenheit des Lichts. Durch dieses Dunkel als ein mitwirkendes zu dem Lichte sollen Farben entstehen; das Licht selbst soll ganz farblos sein, und erst mit verschiedenen Abstufungen des Dunkel, also eines Nichts, gemischt, oder mit andern Worten: je mehr es sich vermindert, giebt es Farben, und um so dunklere, je weniger es wird. Daß sich das in sich widerlegt, ist klar: wenn Licht farblos ist, so kann keine Abschwächung, Verminderung des Farblosen Farben geben. Im Licht selbst müssen wir die Elemente der Farben suchen, und genau da findet sie die Newtonsche Theorie.

Daß Goethe diese Lehre des englischen Physikers mißverstand, haben wir gesehen; es ist nun noch kurz anzugeben, wie er die Erscheinung der Strahlenbrechung erklärt. Er stellt eine helle Scheibe, ein rundes Stück Papier etwa, auf einen dunklen Grund und sieht sie durch ein Prisma an. Durch die Brechung des Lichts findet eine Verrückung der Scheibe statt; sie erhält nach dem ursprünglichen weißen Mittelpunkte zu einen gelben, nach der entgegengesetzten Seite einen blauen Rand. Diese beiden Erscheinungen, die blaue und gelbe, zeigen sich an und über dem Weißen; soweit sie über das Schwarze reichen, nehmen sie einen röthlichen Schein an. Damit sind die »Grundphänomene aller Farbenerscheinung bei Gelegenheit der Refraktion ausgesprochen;« sie können auf mancherlei Weise variirt und verwickelt werden, immer aber lassen sie sich »auf ihre ursprüngliche Einfalt« zurückführen. Untersuchen wir die Operation, so zeigt sich, daß wir in dem einen Falle den hellen Rand gegen die dunkle, in dem andern den dunklen Rand gegen die helle Fläche scheinbar geführt, eins durch das andere verdrängt, eins über das andere weggeschoben haben. An die bekannte Erscheinung erinnernd, daß ein dunkler Gegenstand kleiner aussteht als ein heller von derselben Größe, erklärt Goethe sie daher, daß ein helles Bild mit einem dunklen Grunde, ein dunkles mit einem hellen Grunde schon in Bezug auf unsere Netzhaut in Konflikt stehe. Bei genauer Beobachtung dieses Phänomens zeigt sich, daß die Bilder nicht scharf vom Grunde abgeschnitten, sondern mit einer Art von grauem, einigermaßen gefärbtem Rande, mit einem Nebelbild erscheinen. Die prismatische Farbenerscheinung – so ist nun die entscheidende Schlußfolgerung – ist ein Nebelbild, das genau nach der Form des Hauptbildes entsteht und auch andere Bestimmungen desselben, Helle und Dunkelheit, theilt, so zwar, daß wenn z. B. das Hauptbild sich scharf vom Grunde abhebt, wie Schwarz auf Weiß, dann auch das farbige Nebenbild in seiner höchsten Energie erscheint.

Goethe hatte seine Theorie mit so vielen vortrefflichen Beobachtungen und geistreichen Erklärungen unterstützt, daß wir uns nicht wundern dürfen, unter seinen Jüngern so bedeutende Männer wie Hegel und Schilling zu finden. Aber der Grund seiner Lehre war falsch. Er leugnete die Thatsache, daß das Licht aus verschiedenen ursprünglichen Farben von ungleicher Brechbarkeit zusammengesetzt ist, und doch wird diese Thatsache nicht nur durch die prismatische Zertheilung und Wiederherstellung eines Lichtstrahls bewiesen, sondern sie ist auch die nothwendige Ergänzung des unbestreitbaren Gesetzes der Refraktion, wie es Snellius und Descartes entdeckt haben. Die daraus gezogene Schlußfolgerung, daß nämlich das Verhältniß des Sinus des Einfallswinkels für jede einzelne Farbe constant, für die verschiedenen Farben ein wechselndes ist, verlegt die Frage der Optik ganz auf das mathematische Gebiet. Damit ist der Punkt erreicht, wo nicht blos Goethe's Farbenlehre widerlegt, sondern auch die wahre Quelle seines Irrthums aufgezeigt werden kann. Von Mathematik wollte er in der Optik nichts hören; jede mathematische Darlegung der Refraktion wies er als ein verderbliches Vorurtheil ab. »Hierdurch, sagt er, regte ich die ganze Schule gegen mich auf und man verwunderte sich höchlich, wie jemand, ohne höhere Einsicht in die Mathematik, wagen könne, Newton zu widersprechen; denn daß eine Physik unabhängig von der Mathematik existire, davon schien man keinen Begriff mehr zu haben.« Nun mag es zwar zu manchen Zeiten sehr nöthig gewesen sein, gegen eine zu ausschließliche Anwendung der Mathematik in der Physik Verwahrung einzulegen, aber von der Ansicht, wie sie Goethe in den eben angeführten Worten ausspricht, hat auch seitdem kein Physiker einen »Begriff« bekommen. Für einen Dichter freilich, der nie Mathematik getrieben und nie Experimente zu machen gelernt hatte, war es natürlich genug, daß er die Mathematik nicht als das große Instrument der Physik zu erkennen vermochte. In seinem Aufsatze »über Mathematik und deren Mißbrauch« nennt er seine mathematischen Gegner »Personen, welche mit verwickelten Mitteln einfache Zwecke zu erlangen suchen«, und vergleicht sie »dem Mechaniker, der eine umständliche Maschine erfand, um den Pfropfen aus einer Flasche zu ziehen, welches denn freilich durch zwei Menschen-Arme und Hände gar leicht zu bewirken ist.« Von der Umständlichkeit der Maschine abgesehen, hätte er den Nutzen der Mathematik nicht besser deutlich machen können, als durch diesen Vergleich mit einem so brauchbaren Instrument wie ein Pfropfenzieher. Setzen wir, um seinen Irrthum vollends handgreiflich zu machen, einen andern Vergleich dem entgegen: denken wir uns einen Chemiker ohne das einfache, aber unentbehrliche Instrument – einer Wagschale. Er mag die merkwürdigsten Beobachtungen anstellen, mag neue Entdeckungen machen, mag anregend wirken in weiten Kreisen, aber alle seine Experimente werden unzuverlässig, alle seine Beobachtungen ungenau sein: kein geistig Gewicht kann ihm das fehlende der Lothe und Unzen ersetzen; das zarte Zünglein der Wage spricht das entscheidende Wort, und dies entscheidende Wort fehlt ihm. Genau was dieser Chemiker ohne Wage, war Goethe in der Optik. Er strengte sich an, durch Beobachtungen und Geist die regelrechten Experimente und die Gesetze der Mathematik zu ersetzen. »Das Prisma heruntergebracht zu haben,« erklärt Hegel kühn für das wahre Verdienst Goethe's und preist den »reinen Natursinn« des Dichters, der sich gegen die Newton'sche »Barbarei der Reflexion« empört habe. In demselben Sinne findet Schelling die Ueberlegenheit Goethe's über die Newton'sche Schule darin, daß er statt ihrer künstlich verwirrten und entstellenden Experimente die reinsten, einfachsten Offenbarungen der Natur selbst uns vorführe.

Prüfen wir diese Frage der Methode genau, so erhalten wir über Goethe's naturwissenschaftliche Befähigung überhaupt vortreffliches Licht. Ja, für seine ganze geistige Beurtheilung ist sie ein unterrichtender Beitrag. Die natürliche Richtung seines Geistes tritt in diesen optischen Studien ebenso scharf hervor wie in seiner Dichtung. Auf die concrete Erscheinung ging diese Richtung, nicht auf gedankliche Abstraktionen. Er wollte die Erscheinungen der Farben begreifen und erklären, und in der Mathematik verschwanden ihm diese Erscheinungen als solche, oder mit andern Worten: grade die Sache selbst, um die es sich handelte, entzog sich bei der mathematischen Behandlung seinem Blicke und wurde von Abstraktionen verdeckt; aus dem Lichtstrahl wurde eine Linie, aus dem Farbenspiel ein geometrisches Verhältniß. Das widerstrebte der Weise seiner Naturbetrachtung auf das Aeußerste. Aus demselben Grunde erregte auch die wunderbare Erscheinung der Polarisation des Lichts in den Händen der Mathematiker seine unbegränzte Verachtung. Er klagte über die endlosen »Zauberformeln womit der Grundsatz der Polarisation dünenartig zugedeckt werde, so daß niemand mehr unterscheiden könne, ob ein Körper oder ein Wrack darunter begraben liege.« Der Name Biot versetzte ihn förmlich in Wuth, und unablässig verspottete er die Newtonianer mit ihren Prismen und prismatischen Farbenbildern, als wenn sie so pedantisch wären, ihre dunklen Zimmer der freien Gottesluft vorzuziehen. Von seinen eigenen Beobachtungen, die er im Garten und mit einem einfachen Prisma im Sonnenlichte anstellte, sprach er so warm und poetisch, daß er darüber ganz die Frage vergaß, ob denn die natürliche und einfache Methode auch wirklich so viel sicherer sei als die künstliche der wissenschaftlichen Beobachtung. Dadurch verrieth er nur sein Mißtrauen gegen die Methode überhaupt. Dem geduldig ausharrenden Beobachter, glaubte er, würde sich die Natur enthüllen, aber

– was sie Deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst Du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.

Er suchte durch die Beobachtungen der Farben in das »offene Geheimniß« einzudringen. Darum scheiterte er mit seinen Bemühungen, und darum hatte er nach einer andern Seite hin Erfolg. Denn von so zweifelhaftem Werthe seine Farbenlehre als ein Beitrag zur Optik ist, so sehr werthvoll ist sie für die Kenntniß der Farben, deren die Künstler bedürfen. Schon oft haben Maler anerkannt, wie nützlich sie ihnen gewesen sei, und der berühmte englische Kunstkenner Sir Charles Eastlake fand sie so werthvoll und reich an bedeutenden Winken, daß er den didaktischen Theil derselben übersetzt und mit vorzüglichen Anmerkungen begleitet hat.

Abschließend dürfen wir sagen: in seinen optischen Forschungen zeigt sich der Dichter als Dichter, mit andern Worten als ein Mann außer seinem natürlichen Kreise. Weder die ursprüngliche Anlage seines Geistes noch der Gang seiner Bildung befähigten ihn zu den experimentirenden Naturwissenschaften. Zwar verdienen seine Bemühungen in dieser Richtung mit mehr Achtung behandelt zu werden, als ihnen gewöhnlich zu Theil wird, denn es sind Strebungen eines Riesengeistes, aber das treffende Wort Baco's, eine Schnecke auf dem rechten Wege komme eher zum Ziele als ein Renner auf dem falschen, gilt doch auch hier: Goethe war auf dem falschen Wege.

Ganz anders ist dagegen die Stellung, die er in den organischen Naturwissenschaften einnimmt. Da befähigten ihn seine natürliche Anlage und sein Bildungsgang gleichmäßig zu Erfolgen; da konnte er das große Instrument Combination handhaben, die für die Biologie das ist, was das Experiment für die Physik, da führte ihm die Beobachtung das nöthige Material zu. Der Dichter hatte ein scharfes Auge und eine rasche Combinationsgabe, und beides war hier Vorbedingung.

Lassen es sich meine Leser mit aller Bestimmtheit gesagt sein, und gesagt zwar nicht aus das bloße Zeugniß des Biographen und Verehrers, sondern der höchsten wissenschaftlichen Autoritäten, daß Goethe in den organischen Naturwissenschaften einen bedeutenden Platz einnimmt, nicht weil, sondern trotzdem er ein bedeutender Dichter war. Lassen sie es sich gesagt sein, daß er in diesen Wissenschaften nicht ein Dichter, ein oberflächlicher Dilettant, sondern ein Denker ist, der mit ausreichender Kenntniß zu sicherem Fortschritt ausgerüstet seinen Zeitgenossen und Nachfolgern einen Anstoß gab, der noch heute fortwirkt. Die Belege für diese steigende Anerkennung Goethe's als Naturforscher s. bei Aug. St. Hilaire: Morphologie végétale I. p. 15; Oscar Schmidt: Goethe's Verhältniß zu den organischen Wissenschaften S. 10; Joh. Müller: über phantastische Gesichtserscheinungen S. 104; Cuvier Hist. des sciences nat. IV, p. 316; Isidore Geoffroy St. Hilaire: Essais de Zoologie générale p. 139; Owen: Archetype and Homologies of the Skeleton p. 3; Helmholtz: Allg. Monatsschrift, Mai 1853; Virchow Goethe als Naturforscher.

Einen Denker in den Naturwissenschaften habe ich Goethe genannt. Er war keiner von jenen fleißigen und verdienstvollen Arbeitern, die mit dem Mikroskop und dem Secirmesser mühsam das Material zusammenbringen, aus dem sich die Wissenschaft aufbaut. Er arbeitete auch, aber auf seine Weise; überall in der Ordnung der Natur suchte er nach Bestätigung für die Ideen, die er sich nach innerer Anschauung entwickelt hatte. Ihn darum für einen abstrakten Naturphilosophen zu halten, wäre falsch. Bei seiner Naturbetrachtung stand er der Wirklichkeit nicht feindlich entgegen, seine apriorische Methode widersprach nicht dem Positiven; er begnügte sich nicht bei seinen bloßen Voraussetzungen, noch auch prüfte er sie an den Thatsachen nur obenhin; seine innere Anschauung nahm nur die Thatsachen vorweg, zu denen die Beobachtung auf ihrem Wege langsamer kam. Er schaute, so zu sagen, von den Höhen der Natur auf sie herab, aber wenn er unten im Thale etwas Neues gewahrte, stieg er sofort hinunter, um sich zu vergewissern, ob er recht gesehen. Am klarsten erläutert sich seine naturwissenschaftliche Methode durch ein Beispiel, welches er selbst in den Abhandlungen zur Osteologie anführt: »Die untere Kinnlade betrachtete ich von dem Schädel ganz getrennt und zu den Hülfsorganen gehörig, sie ward auch deshalb den Armen und Beinen gleichgestellt. Nun, ob sie schon bei den Mammalien nur aus zwei Theilen zu bestehen schien, führte doch ihre Gestalt, ihre merkwürdige Beugung, die Verbindung mit dem Oberhaupt, die aus ihr sich entwickelnden Zähne, auf die Vermuthung, daß auch hier ein Komplex einzelner Knochen zu finden sei, welche, zusammengewachsen, die merkwürdige Bildung erzeugen, die einen so wundervollen Mechanismus ausübt. Diese Vermuthung ward bestätigt durch Zergliederung eines jungen Krokodils, wobei sich zeigte, daß jede Seite aus fünf in und über einander geschobenen Knochentheilen, das Ganze also aus zehn Theilen zusammengesetzt sei. Es war belehrend und erfreulich, nach den Spuren dieser Abtheilungen auch bei Mammalien zu forschen und, wie man sie mit den Augen des Geistes zu entdecken glaubte, auf manche Kinnladen in- und auswendig aufzuzeichnen und so bestimmt den Sinnen darzubringen, was vorher die Einbildungskraft zu bezeichnen und festzuhalten kaum im Stande war.«

Ueberblicken wir seine Erfolge auf diesem Gebiete. Um den Zwischenknochen in der obern Kinnlade hatten sich die Anatomen lange gestritten. Vesalius (in der ersten Hälfte des 16. Jahrh.), einer der bedeutendsten und kühnsten Gegner der alten Ueberlieferungen Galen's, hatte mit Recht erklärt, Galen's Anatomie stütze sich nicht auf eine Kenntniß des menschlichen, sondern des thierischen Knochenbaues, und er bewies dies damit, daß Galen den Zwischenknochen gekannt habe, der doch, wie jeder Anatom wisse, nur bei Thieren sich finde. Die Anhänger Galen's wußten sich dagegen nicht zu helfen; einer von ihnen, Sylvius, behauptete kühn, vor Alters hätten auch die Menschen den Zwischenknochen gehabt, ihn aber im Laufe der Zeit durch Verweichlichung und schlechten Lebenswandel verloren. Woran die Verweichlichung nicht alles Schuld sein soll! Mehrere Jahrhunderte hindurch dauerte der Streit fort; das Dasein des fraglichen Knochens anatomisch nachzuweisen versuchte niemand. Der berühmte Camper ging gar so weit, ihn als ein Unterscheidungszeichen zwischen dem Affen und Menschen hinzustellen – eine zwiefach unglückliche Annahme, da der Knochen sowohl beim Menschen sich findet als auch, wenn er ihm fehlte, der höchsten Affenart, dem Chimpanse, grade so weit und so gut fehlt.

Wie dieser kurze geschichtliche Rückblick zeigt, war die Entdeckung Goethe's, auch wenn sie nicht von Wichtigkeit gewesen wäre, doch zum wenigsten durchaus nicht leicht; ja, sie lag so wenig in der Richtung der allgemeinen Kenntniß, daß selbst Männer wie Blumenbach sie zuerst mit verächtlichem Unglauben aufnahmen, und obgleich Loder, Spix und Sömmering ihr sofort zustimmten, dauerte es doch vierzig Jahre, ehe sie allgemein anerkannt wurde. Camper, dem Goethe seine Abhandlung im Manuscript zuschickte, fand sie sehr elegant, sehr schön geschrieben, hielt aber einen bessern lateinischen Stil für wünschenswerth! Goethe fing an, die Pedanterei der Fachgelehrten zu verachten, die einer alten Ueberlieferung zu Liebe ihren eigenen fünf Sinnen widersprechen, und klagte mit treffendem Ausdruck, daß »immerfort wiederholte Phrasen sich zuletzt zur Ueberzeugung verknöcherten und die Organe des Anschauens völlig verstumpften.«

Das Bedeutendste an dieser Entdeckung ist weniger die Entdeckung selbst als die Methode, welche zu ihr führte. Der Zwischenknochen bei Thieren enthält die Schneidezähne; auch der Mensch hat Schneidezähne, und in dem festen Glauben an die Einheit der Natur erklärte Goethe kühn, so gut wie die Zähne müsse der Mensch auch den Knochen mit den Thieren gemein haben. Die Anatomen, ganz in die Einzelheiten der Forschung verloren und der allgemeinen Auffassung entbehrend, die heutzutage der vergleichenden Anatomie zu Grunde liegt, sahen für eine solche Uebereinstimmung des Baues keine zwingende Nothwendigkeit, und zwar um so weniger als der Augenschein völlig dagegen sprach. Goethe aber wurde nicht nur von der richtigen naturphilosophischen Auffassung geleitet, sondern ergriff auch instinktiv die richtige Methode der Beweisführung, indem er die verschiedenen Formen, in denen der Knochen in der Thierwelt erscheint, mit einander verglich – eine Methode, welche jetzt in der Wissenschaft die einzige und allgemein gültige ist. Durch diese Vergleichung fand er, daß der Zwischenknochen je nach der Nahrung der Thiere und der Größe ihrer Zähne sich anders bildet, daß er bei manchen Thieren nicht von der Oberkiefer getrennt ist und daß bei Kindern die Nähte sich nachweisen lassen. Er gab zu, daß von vorn gesehen keine Spur der Nähte sich zeige, auf der inneren Seite dagegen seien sie unverkennbar. Seitdem hat die Prüfung der Schädel von Embryonen die Sache über allen Zweifel erhoben. Ich selbst habe einen solchen Schädel gesehen, wo der Knochen deutlich getrennt war, und an einem andern, den ich besitze, ist zwar die Verknöcherung an den seitlichen Nähten weit vorgeschritten, aber im Innern sind die Spuren des Zwischenknochens sichtbar.

Goethe machte seine Entdeckung im Jahre 1784 und theilte sie verschiedenen Anatomen mit. Loder erwähnt sie 1787 in seinem Handbuche. Diese Zeitbestimmung ist von Wichtigkeit, da sie das Eigenthumsrecht Goethe's schützt und den Beweis giebt, wie gleichzeitig oft Entdeckungen sind. Der große französische Anatom Vicq d'Azyr deutete in seiner, 1786 gedruckten, aber bereits 1779 in der Akademie gelesenen Abhandlung über Anatomie und Physiologie ( Traité d'anatomie et de physiologie) nicht nur ganz bestimmt (freilich ohne allen Beweis) auf den Zwischenknochen beim Menschen hin, sondern berief sich auch auf die Thatsache, daß er wirklich vorhanden sei, zur Unterstützung seiner allgemeinen Idee einer Grundform. Da haben wir dieselbe Lehre, dieselbe Entdeckung, und die Frage der Priorität ist damit zu Gunsten des französischen Forschers entschieden. Daß Goethe die seine nicht von diesem entlehnte, wird unter andern durch folgende Stelle in einem Briefe Sömmering's an Merck bewiesen: »Mein Urtheil über Vicq d'Azyr hab' ich in den Göttinger Gelehrten Anzeigen gesagt. Es ist doch immer noch das Beste. Bis jetzt wenigstens hat er Goethen nicht genannt.« Die Verbindungen zwischen den verschiedenen Ländern waren damals langsam in der Welt, und neue Entdeckungen fanden nicht sobald Widerhall. Von Vicq d'Azyr's Entdeckung wußten drei der berühmtesten Anatomen von damals, Camper, Blumenbach und Sömmering kein Wort, als Goethe mit seiner Entdeckung hervortrat. Goethe's Verdienst schmälern wir also nicht, indem wir dem Franzosen die Priorität zusprechen. Er führte die Entdeckung durch, er gab ihr einen festen Platz in der Wissenschaft, er gilt immer als der Entdecker.

Die eigentliche Bedeutung dieser Entdeckung liegt in der wissenschaftlichen Methode, für die sie ein Zeugniß ist, in der einheitlichen Auffassung aller Organismen, die sich darin ausspricht. Heutzutage ist uns eine solche Auffassung gäng und gebe. Daß sie aber nicht so ohne weiteres auf der Hand lag und ihre Anwendung nicht so leicht war, das zeigt sich an zwei glänzenden Beispielen, in denen sie Goethe verwerthete – an der Metamorphose der Pflanzen und an der Vertebraltheorie der Schädelbildung.

Geben wir dem gescheutesten Manne unserer Bekanntschaft – der nur nicht ein modernes naturwissenschaftliches Werk gelesen haben darf – eine Blume in die Hand, versichern wir ihn, Blatt, Kelch, Blumenkrone, Knospe, Stempel und Staubfäden, wie verschieden auch an Form und Farbe, seien doch alle nur gewandelte Blätter, und ebenso seien Blüthen und Frucht nur verschiedene Gestalten derselben einen Grundform, des Blattes nämlich, – und er wird zwar im Vertrauen auf unsere bessere Kenntniß sich diese Behauptung vielleicht gefallen lassen, aber im Stillen sie eben so unbegreiflich wie unwahrscheinlich finden. Stellen wir ihn vor ein menschliches Skelett, machen wir ihn auf die mannigfachen Formen desselben aufmerksam, und versichern wir ihn, jeder einzelne Knochen sei entweder ein Theil oder Zubehör eines Wirbels und der Schädel sei eine Häufung von vier verschiedenartig umgebildeten Wirbelknochen – und vielleicht nimmt er das wieder auf Treu und Glauben hin, hält es aber bei sich doch nur für eine übertriebene Feinheit naturphilosophischer Spekulation. Indeß, diese beiden wunderbaren Behauptungen sind die beiden ersten Grundsätze der Morphologie und führen sich in der Geschichte der Naturwissenschaft aus keinen andern zurück als auf Goethe. Natürlich haben Botaniker und Anatomen den von ihm ausgesprochenen Ansichten eine bedeutend andere Gestalt gegeben und sind immer näher und näher an die Wahrheit hinangedrungen, ohne freilich ganz einig geworden zu sein; aber der den Anstoß zu ihren Forschungen gegeben hat, ist Goethe.

Ich habe hier die Lehre von den Wirbelknochen (die Vertebral-Theorie) unmittelbar neben die Theorie von der Metamorphose der Pflanzen gestellt, weil seitdem der Fortschritt der Wissenschaft in die letztere eine tiefe Bresche gemacht hat. Ein viel einfacheres und viel allgemeineres Organ ist entdeckt und als Grundform anerkannt worden – die Zelle. Es giebt manche Pflanze ohne Blätter oder Spuren eines Blattes; es giebt keine Pflanze, die nicht aus einer Zelle entstammte oder aus Gruppen von verschiedenartig gestalteten Zellen zusammengesetzt wäre. Die eine allgemeine Grundform der vegetabilischen Welt ist offenbar nicht das Blatt, sondern die Zelle; das Blatt ist selbst erst eine zweite, zusammengesetzte Form. Zu Goethe's Zeit hatte man von einem Organ wie die Zelle keine Ahnung, und seit Schleiden diese wichtige Entdeckung gemacht hat, glaubt man über Goethe's Theorie ziemlich allgemein hinaus zu sein. Darf ich indeß als Laie ein Bedenken in einer so feinen Frage mir erlauben, so scheint mir die Theorie von den Zellen die Goethe'sche Lehre von der Metamorphose nur zu beschränken, nicht aufzuheben. Indem sie das Blatt nicht mehr als die unbedingt allgemeine Grundform gelten läßt, erkennt sie es doch bei den Pflanzen, die Blätter haben, noch als die Grundform an, aus der die übrigen hervorgehen.

Die ungeheure Bedeutung der Entdeckung einer Grundform für die vegetabilische Welt wird selbst die oberflächlichste Kenntniß der Lehre vom organischen Naturleben zu begreifen im Stande sein. Lassen wir uns von einem Kenner wie Helmholtz das Sachverhältniß noch deutlicher vergegenwärtigen. »Der eigenthümliche Charakter der beschreibenden Naturwissenschaften (Botanik, Zoologie, Anatomie u. s. w.) wird dadurch bedingt, daß sie ein ungeheures Material von einzelnen Thatsachen zu sammeln, zu sichten und zunächst in eine logische Ordnung, ein System zu bringen haben. Soweit ist ihre Arbeit nur die trockene eines Lexikographen, ihr System ein Repositorium, in welchem die Masse der Akten so geordnet ist, daß jeder in jedem Augenblicke das Verlangte finden kann. Der geistigere Theil ihrer Arbeit und ihr eigentliches Interesse beginnt erst, wenn sie versuchen, den zerstreuten Zügen von Gesetzmäßigkeit in der unzusammenhängenden Masse nachzuspüren und sich daraus ein übersichtliches Gesammtbild herzustellen, in welchem jedes Einzelne seine Stelle und sein Recht behält und durch den Zusammenhang mit dem Ganzen an Interesse noch gewinnt. Hier fand der ordnende und ahnende Geist unseres Dichters ein geeignetes Feld für seine Thätigkeit und zugleich war die Zeit ihm günstig. Er fand schon genug Material in der Botanik und vergleichenden Anatomie gesammelt und logisch geordnet vor, um eine umfassende Rundschau zu erlauben und auf richtige Ahnungen einer durchgehenden Gesetzmäßigkeit hinzulenken; dagegen irrten die Bestrebungen seiner Zeitgenossen in dieser Beziehung meist ohne Leitfäden umher, oder sie waren noch so von der Mühe des trockenen Einregistrirens in Anspruch genommen, daß sie an weitere Aussichten kaum zu denken wagten. Hier war es Goethe vorbehalten, zwei bedeutende Gedanken von ungemeiner Fruchtbarkeit in die Wissenschaft hineinzuwerfen.«

Ist nun Goethe auch der Entdecker der vegetabilischen Grundform und gilt er mit Recht für den Begründer der Wissenschaft der Morphologie, so drängt es mich doch, seinem Vorarbeiter Wolf volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, einem der größten Denker in der Biologie, dessen Anschauungen indeß seiner Zeit zu weit voraus waren, um sogleich Anerkennung zu finden. Goethe selbst wies im Jahre 1817 mit sichtlichem Stolz auf die Entdeckung dieses »trefflichen Vorarbeiters« hin, dessen Schriften er erst einige Zeit nach Veröffentlichung seiner eigenen Theorie kennen gelernt hatte. Daß er dieselbe nicht von Wolf entlehnt hat, geht aus der Verschiedenheit der Ansichten und der Behandlung klar hervor; auch hat er ihn, wie ich glaube, nicht ganz verstanden. Die Identität aller Pflanzentheile, sagt er, erkenne Wolf ausdrücklich an, aber »den letzten, den Hauptschritt« thue er doch nicht. »Bei der Pflanzenverwandlung sah er dasselbige Organ sich immerfort zusammenziehen, sich verkleinern; daß aber dieses Zusammenziehen mit einer Ausdehnung abwechsele, sah er nicht. Er sah, daß es sich an Volumen verringere, und bemerkte nicht, daß es sich zugleich veredele, und schrieb daher den Weg zur Vollendung widersinnig einer Verkümmerung zu.« Diese Ausstellungen erklären sich aus den verschiedenen Standpunkten der beiden Forscher: Goethe hatte den rein morphologischen, Wolf den physiologischen. Goethe irrte daher auch, wenn er Wolf vorwarf, er habe sich selbst den Weg abgeschnitten, auf welchem er unmittelbar zur Metamorphose der Thiere habe gelangen können; Wolf erkannte die Identität der Entwicklung in Pflanzen und Thieren gar wohl und sagt am Schluß des betreffenden Abschnitts seiner Schrift ausdrücklich: »Kurz, die Fledermaus ist ein vollkommnes Blatt! Das hätten Sie ihr wohl nicht angesehen. Allein die Aehnlichkeit ist nicht chimärisch, denn die Entstehungsart der beiden Dinge ist einerlei.«

Durch den Nachweis, daß schon Wolf die Identität der Pflanzentheile erkannt hatte, setzen wir den Werth von Goethe's naturwissenschaftlichen Verdiensten so wenig herab, wie es dem Ruhme des Columbus Eintrag thut, daß schon fünfhundert Jahre vor seiner Entdeckung der neuen Welt normännische Seefahrer dieselben Küsten oft berührt haben. Weder hatten die letzteren die bewußte Absicht, die neue Welt aufzufinden, noch auch ging ihre Entdeckung in den Besitz der Menschheit über; Kolumbus aber ging mit bewußter Ueberlegung ans Werk und machte seine Entdeckung zu einer menschheitlichen Errungenschaft für ewige Zeiten. Aehnlich steht es mit Wolf und Goethe. Jener entdeckte zufällig einen Naturprozeß und benutzte ihn bei seinen Forschungen nach der Theorie von der Generation nur nebenher als Beispiel, dieser dagegen war von einem bestimmten Plane geleitet, und die Botaniker erklären daher mit Recht, daß wir ihm die Idee von der Metamorphose der Pflanzen verdanken. Die Schrift, in der er (1790) diesen Gedanken darlegte, ist sehr schön und kann ohne besondere wissenschaftliche Vorbereitung gelesen und verstanden werden. Es verfolgt darin den Fortschritt der Entwicklung vom Samenkorn zum Blatt und von da zur Blüthe und Frucht. Der morphologische Theil ist vollendet, aber er hält sich bei einer physiologischen Voraussetzung sehr unnöthig auf. »Jeder obere Blattknoten, sagt er, indem er aus dem vorhergehenden entsteht und die Säfte mittelbar durch ihn empfängt, muß solche feiner und filtrirter erhalten, sich selbst feiner ausbilden und seinen Blättern und Augen feinere Säfte zubringen. Indem auf diese Weise die roheren Flüssigkeiten immer abgeleitet, reinere herbeigeführt werden und die Pflanze sich stufenweis feiner ausarbeitet, erreicht sie den von der Natur vorgeschriebenen Punkt,« tritt sie in die neue Epoche der Blüthe.

Diese Annahme steht mit der Ansicht Wolfs in gradestem Widerspruch. Auch er hält die Blüthe für umgebildete Blätter, aber umgebildet, weil sie unvollkommen und in ihrer Entwicklung aufgehalten seien; sie seien kleiner, haben weniger Saft, der Saft habe seinen Grünstoff verloren und die Farbe der Blüthe sei ein Beweis ihrer Unvollkommenheit. Bei den sinnreichen Gründen, mit denen Wolf zu erweisen sucht, daß in Blüthe und Frucht die Entwicklung aufgehalten sei, kann ich nicht näher verweilen; ich muß mich darauf beschränken, den Gegensatz zwischen seiner und Goethe's Ansicht hervorgehoben zu haben, daß nämlich jener den Grund der fraglichen Erscheinung in einer Verringerung, dieser in einer Verfeinerung der Säfte findet.

In Bezug auf den Uebergang des Blattes zur Blüthe und die Abhängigkeit desselben von der Beschleunigung oder Verzögerung der Säfte stimmt Goethe mit Wolf überein. Daß häufige, reichliche Nahrung den Blüthenstand einer Pflanze verhindert, die Blattentwicklung dagegen befördert, während mäßige, ja kärgliche Nahrung jenen beschleunigt, die Zahl der Blätter dagegen vermindert, hatte bereits Linné bemerkt. Wolf erklärt dies einfach daraus, daß bei reichlicher Nahrung auch reichliches Wachsthum stattfinde und die unvollkommnere Blattform, in welcher die Entwicklung aufgehalten erscheint, – die der Blüthe nämlich – sich nicht zeigen könne, während bei kärglicher Nahrung die Entwicklung sofort aufgehalten werde. Unglücklicher Weise aber ward diese Annahme (wie die Ansicht überhaupt, daß die Blüthen unvollkommene Blätter seien) durch die Thatsache widerlegt, daß es Pflanzen giebt, welche Blüthen tragen, ehe sie Blätter treiben. Goethe's Erklärung ist besser: »So lange noch rohere Säfte abzuführen sind, sagt er, so lange müssen sich die möglichen Organe der Pflanze zu Werkzeugen dieses Bedürfnisses ausbilden. Dringt übermäßige Nahrung zu, so muß diese Operation immer wiederholt werden, und der Blüthenstand wird gleichsam unmöglich. Entzieht man aber der Pflanze die Nahrung, so erleichtert und verkürzt man jene Wirkung der Natur; die Organe der Knoten werden verfeinert, die Wirkung der unverfälschten Säfte reiner und kräftiger, die Umwandlung der Theile wird möglich und geschieht unaufhaltsam.«

Damit berühren wir das große Gesetz des Gegensatzes zwischen Wachsthum und Entwicklung, welches so innig mit dem Gesetze der Fortpflanzung zusammenhängt. Das ist jedoch eine so umfassende Frage, daß wir sie bei unserer raschen Uebersicht eben nur andeuten können. Beachten wir indeß, daß Goethe, obgleich er durch die ohne weitere Begründung hingestellte Annahme einer Verfeinerung der Pflanzensäfte seine ursprüngliche Stellung selbst gefährdet, doch mit klarem Blick eine physiologische Wahrheit erkennt, die manchem entgeht, daß nämlich die Fortpflanzung nur eine andere Form des Wachsthums ist. »Betrachten wir, sagt er, eine Pflanze, insofern sie ihre Lebenskraft äußert, so sehen wir dieses auf eine doppelte Art geschehen, zuerst durch das Wachsthum, indem sie Stengel und Blätter hervorbringt, und sodann durch die Fortpflanzung, welche in dem Blüthen- und Fruchtbau vollendet wird. Beschauen wir das Wachsthum näher, so sehen wir, daß, indem die Pflanze sich von Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt fortsetzt, indem sie sproßt, gleichfalls eine Fortpflanzung geschehe, die sich von der Fortpflanzung durch Blüthe und Frucht, welche auf einmal geschieht, darin unterscheidet, daß sie successiv ist, daß sie sich in einer Folge einzelner Entwicklungen zeigt. Diese sprossende, nach und nach sich äußernde Kraft ist mit jener, welche auf einmal eine große Fortpflanzung entwickelt, auf das genaueste verwandt. Man kann unter verschiedenen Umständen eine Pflanze nöthigen, daß sie immerfort sprosse, man kann dagegen den Blüthenstand beschleunigen. Jenes geschieht, wenn rohere Säfte der Pflanze in einem größeren Maaße zudringen, dieses, wenn die geistigen Kräfte in derselben überwiegen. Schon dadurch, daß wir das Sprossen eine successive, den Blüthen- und Fruchtstand aber eine simultane Fortpflanzung genannt haben, ist auch die Art, wie sich beide äußern, bezeichnet worden. Die Pflanze mag sprossen, blühen oder Früchte bringen, so sind es doch nur immer dieselbigen Organe, welche, in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten, die Vorschrift der Natur erfüllen. Dasselbe Organ, welches am Stengel als Blatt sich ausdehnt und eine höchst mannigfaltige Gestalt angenommen hat, zieht sich nun im Kelche zusammen, dehnt sich im Blumenblatte wieder aus, zieht sich in den Geschlechtswerkzeugen zusammen, um sich als Frucht zum letztenmal auszudehnen.«

Was auch schließlich über seine Theorie von der Metamorphose der Pflanzen erkannt werden mag, immer bleibt es der große und einzige Ruhm eines Dichters, einen neuen Zweig der Naturwissenschaft geschaffen zu haben und zwar auf streng wissenschaftlichem Wege. Heute zählt die Morphologie berühmte Namen zu ihren Jüngern und ganze Schaaren zu ihren Anhängern. Und diese Wissenschaft verdanken wir dem Dichter des Faust.

Mehr als das: wir verdanken ihm einige der lichtvollsten und umfassendsten Gedanken über die Wissenschaft des Lebens, welche der naturphilosophischen Forschung ihre Richtung gegeben haben. Eine solche Behauptung würde auf mein Wort allein keine Geltung haben; ich gebe ihr daher, zu den schon angeführten, einen weiteren Rückhalt von Zeugnissen, deren Autorität niemand zu bestreiten wagt. Carus schreibt in seiner vergleichenden Anatomie Goethen das Verdienst zu, die richtige Methode geschaffen zu haben: »der erste Gedanke einer Metamorphose der Knochenformen – daß nämlich alle Formen nur mehr oder weniger nachweisbare Umbildungen einer und derselben Grundform sind – dieser Gedanke gehört Goethen. Die Idee der Einheit, welche die Mannigfaltigkeit der Knochentheile beherrscht, klarer auszudrücken als er es gethan, ist unmöglich. Ihre erste große Anwendung war der Nachweis, daß das Schädelgerüst aus sechs Wirbelknochen auferbaut sei.«

Damit indeß so hohes Lob den Leser nicht in die Irre führe, halte ich mich verpflichtet zu wiederholen, daß Goethe's Verdienst das eines Denkers in der Naturwissenschaft ist, nicht das eines fleißigen Entdeckers und Einzelforschers. Die allgemeine Auffassung der Gegenstände giebt er, nicht gesammeltes Material. Eine Methode zu schaffen, die Grundsätze festzustellen, auf denen sich die Wissenschaft erheben könne, das war sein großes Ziel. Wie klar seine Begriffe von Methodik waren, zeigt uns eine vortreffliche kleine Abhandlung »der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt«, die er 1793 schrieb. »Sobald der Mensch, sagt er, die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in Bezug auf sich selbst, und mit Recht: denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nutzen oder schaden.« So verfährt jede Spekulation, so lange sie noch in ihren Anfängen ist; da ist ihre Methode, die Außenwelt nach inneren subjektiven Begriffen zu bestimmen; ihren Gipfelpunkt nach dieser Seite erreicht sie in dem Hauptgrundsatze des Cartesius und Spinoza, jeder klare Gedanke sei wahr. So lange man dieser Methode folgt, herrscht die abstrakte Metaphysik, und die positive Wissenschaft ist unmöglich. Aber die positive, objektive Methode verdrängt sie. Die schwerere Arbeit beginnt, »die Gegenstände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen unter einander zu betrachten;« der »Maßstab des Gefallens und Mißfallens, des Anziehens und Abstoßens, des Nutzens und Schadens« wird bei Seite gelegt; als »gleichgültige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen die Forscher: was ist und nicht was behagt. So soll den ächten Botaniker weder die Schönheit noch die Nutzbarkeit der Pflanzen rühren, er soll ihre Bildung, ihr Verhältniß zu dem übrigen Pflanzenreiche untersuchen, und wie sie alle von der Sonne hervorgelockt und beschienen werden, so soll er mit einem gleichen ruhigen Blicke sie alle ansehen und übersehen, und den Maßstab zu dieser Erkenntniß, die Data der Beurtheilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet.« Wie klar tritt auch hier der einheitliche Grundzug des Goetheschen Geistes hervor – die »Gegenständlichkeit!« Diese Bezeichnung ist so treffend und erschöpfend, daß Goethe selbst sie auf das freundlichste annahm.

Es ist der Beachtung werth, daß das Studium der Entwicklung in der Natur wie in der Geschichte modern ist. Früher hatte man am Fertigen genug, begnügte man sich mit dem ausgewachsenen Thiere, der vollendeten Kunst, der ausgebildeten Gesellschaft; die Stufen der Entwicklung und die Gesetze des Wachsthums beachtete man nicht oder berührte sie doch nur ganz allgemein und obenhin. Jetzt ist in die Forschung ein anderer Geist gekommen. »Die Entwicklungsgeschichte, sagt Baer, der Gründer der modernen Embryologie, ist der wahre Lichtträger für Untersuchungen über organische Körper!« In der Geologie, der Physiologie, der Geschichte und in der Kunst ist man allseitig bestrebt, die Stufen der Entwicklung aufzuzeigen. Um das Gewordene zu verstehen, suchen wir das Werden zu erfassen.

Als Goethe seine naturwissenschaftlichen Arbeiten begann, war das Studium der Entwicklungsgeschichte noch in der Kindheit. Es ist sein Verdienst, daß er sich sofort auf den rechten Standpunkt und mit Merckel und Geoffroy St. Hilaire an die Spitze seiner Zeit stellte. Auch erfaßte er nicht blos den richtigen Grundsatz, er wandte ihn an. Mit Erstaunen sehen wir ihn gewisse allgemeine Gesetze der organischen Bildung, die seitdem unter den Verdiensten eines Geoffroy St. Hilaire, Baer, Milne-Edwards, Cuvier und Lamarck glänzen, klar und bestimmt voraus verkünden! Man lese nur folgende Sätze seiner Morphologie;

»Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst insofern es nur als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen, selbstständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach, gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können.

»Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese Theile einander gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommner das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Theile einander. In jenem Falle ist das Ganze den Theilen unähnlich. Je ähnlicher die Theile einander sind, desto weniger sind sie einander subordinirt. Die Subordination der Theile deutet auf ein vollkommneres Geschöpf

Zur Erläuterung des so angekündigten Naturgesetzes geben wir einige ganz gewöhnliche Beispiele. Man nehme einen Polypen und schneide ihn in mehre Stücke; jedes Stück lebt fort und zeigt alle Erscheinungen der Ernährung und Empfindung genau so wie der ganze Polyp. Man kehre ihn um wie einen Handschuh, und das Innere wird zur Haut, die Haut wird zum Magen. Der Grund davon ist, daß bei dem einfachen Bau des Polypen die Theile sowohl einander wie dem Ganzen gleichen; da sind keine scharf gesonderten Organe, die eine bestimmte Funktion und nur diese eine hätten; jeder Theil erfüllt jede Funktion, grade wie unter Wilden jeder sein eigener Schneider, Schmied, Koch und Polizist ist. Bei einem Thiere von einer höheren Ordnung dagegen ist der Bau aus ungleichen Theilen zusammengesetzt und jeder Theil hat seine eine und besondere Funktion; ein solches Thier kann nicht in Stücke zertheilt werden, die einzeln fortlebten wie zuvor; ein solches Thier läßt sich seine Haut nicht im Handumdrehen in einen Magen verkehren, und könnte in der bürgerlichen Gesellschaft sich nicht selbst die Kleider machen oder die Waffen schmieden: die Theilung der Arbeit, die seine höhere Stellung bezeichnet, hat es der gleichmäßigen Befähigung für alles beraubt.

Das Gesetz, welches Goethe, wie ich glaube, als der erste verkündet hat, steht heutzutage in jedem zoologischen Werke. Eine Form desselben ist das sogenannte Baer'sche Gesetz, daß die Entwicklung vom Gleichen zum Ungleichen, vom Allgemeinen zum Besonderen fortgeht; aber den Anspruch auf die Entdeckung lehnt, wie mir scheint, Baer selbst mit den Worten ab, »dieses Gesetz der Ausbildung sei wohl nie verkannt worden«; sein Verdienst ist die glänzende Beweisführung und Anwendung. Auch das Gesetz der Theilung der Arbeit im thierischen Organismus, als dessen Entdecker der berühmte französische Zoologe Milne-Edwards gilt, liegt in den angeführten Sätzen Goethe's bereits klar enthalten. Noch bestimmter endlich ist Cuvier's Grundsatz von der Unterordnung der Theile darin ausgesprochen. Damit soll den Verdiensten dieser großen Männer nicht zu nahe getreten, noch auch Goethe auf anderer Kosten verherrlicht werden; ich führe dies alles nur aus dem biographischen Gesichtspunkte an, als Beweis daß Goethe auf den höchsten Standpunkt seiner Zeit sich gestellt und als Denker in der Wissenschaft Gedanken gedacht hat, denen später die bedeutendsten Forscher allgemeine Verbreitung gegeben haben. Wer Geschichte kennt, weiß ja doch, daß Entdeckungen nicht dem einzelnen Manne, sondern einer Zeit angehören, daß alle Entdeckungen ihre Vorspiele gehabt haben und daß die Welt den Ruhm des Entdeckers mit Recht dem zugesteht, der die Entdeckung nutzbar macht, nicht dem, der nur ihre Möglichkeit erkennt.

Es ist ferner zu beachten, daß Goethe's Vorwegnahme nicht, wie so manche andere, blos leichter und trügerischer Schein ist oder auf einer unbestimmten und zufälligen Aeußerung beruht. Er gelangte nicht blos zu einem flüchtigen Einblick in die Wahrheit, er beherrschte das Gesetz vollkommen, und zwar weil er die ganze Reihe der Anschauungen beherrschte, in deren Zusammenhang es gehört. So war er in seinem, 1795 geschriebenen »Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die allgemeine Anatomie« bestrebt, eine Methode zu schaffen; er wies darauf hin, wie durchaus unfruchtbar die damalige Art der vergleichenden Beobachtung sei, weil man nicht nur die Thiere mit dem Menschen und unter einander verglich und sich durch den Mißbrauch mit dem Begriff der Endursachen immer weiter von der Idee eines lebendigen Wesens entfernte, sondern auch den Menschen zum Maßstab selbst für die unvollkommneren Thiere nahm, statt mit den einfachsten Bildungen zu beginnen und allmälig zu den höheren aufzusteigen. Ein Jahr darauf veröffentlichte Geoffroy St. Hilaire, ohne jede Ahnung von den in Weimar und Jena betriebenen Forschungen, seine Abhandlung über die Makis und begann damit seine Erneuerung der Wissenschaft. Wie Goethe ging auch er auf die Herstellung eines Typus, eines »allgemeinen Bildes« aus, nach welchem sich jeder organische Bau sollte erklären lassen. Dieser Gedanke eines »anatomischen Typus, eines allgemeinen Bildes, worin die Gestalten sämmtlicher Thiere, der Möglichkeit nach, enthalten wären,« war ein wahrhaft wissenschaftlicher Gedanke und hat herrliche Frucht getragen. Man hüte sich wohl, ihn für eine platonische Idee anzusehen; er ist keine metaphysische Wesenheit, nur ein wissenschaftlicher Kunstgriff. Goethe sagt ausdrücklich, nicht für einen Augenblick dürfe man an die wirkliche Existenz dieses Typus glauben, obgleich er ein verallgemeinerter Ausdruck dessen sei, was wirklich existire. Diese Mahnung hat man nicht immer beachtet, namentlich in Deutschland nicht, wo z. B. Oken bösen Mißbrauch mit dem Typus getrieben hat.

So anziehend auch Goethe's Abhandlungen über vergleichende Anatomie sind, kann ich doch im Einzelnen nicht bei ihnen verweilen. Sie sind so reich an bemerkenswerthen Gedanken, daß in einer Lebensbeschreibung kein Platz dafür ist. Ich muß daher den Leser auf die Schriften selbst verweisen und bemerke nur noch, daß auch der von Lamark in der Zoologie eingeführte wichtige Grundsatz von dem bestimmenden Einflusse der äußeren Verhältnisse auf die Verschiedenheit der organischen Bildungen bereits von Goethe ausgesprochen und sogar in der Anwendung übertrieben ist.

Eine persönliche Frage, welche durchaus in das biographische Gebiet fällt, muß uns etwas ausführlicher beschäftigen. Es handelt sich darum, ob Goethe auf die Entdeckung der Bildung des Schädels aus Wirbelknochen Anspruch hat. Oken nämlich hat diesen Anspruch einen Akt lügenhafter Eitelkeit genannt, andere haben ihn wenigstens scharf bestritten.

Es waren bereits funfzehn Jahre nach Goethe's Tode verflossen, als Oken (im siebenten Hefte der Isis von 1847) seine Anklage vorbrachte und das Sachverhältniß in seiner Weise erzählte; eine unmittelbare Widerlegung war also nicht möglich. Ich gestehe, daß mich Okens Bericht vollständig erschütterte und die peinlichsten Zweifel über Goethe's Benehmen in mir erregte. Schon die Ähnlichkeit des äußeren Hergangs, wie ihn beide erzählen, muß stutzig machen. Goethe fand bei einem Spaziergange auf den Dünen bei Venedig Dies ist jetzt außer durch Goethe's eigene Angabe in späteren Jahren, auch erwiesen durch das Zeugniß seines Briefes an Frau Herder, aus Venedig 4. Mai 1790; darin erzählt G. die Geschichte genau so, wie er sie später darstellte. einen glücklich geborstenen Schafschädel und erkannte bei näherer Prüfung augenblicklich, daß nicht, wie er bis dahin geglaubt, blos die hinteren Schädelknochen, sondern die Gesichtsknochen gleichfalls aus Wirbeln abzuleiten seien; den Uebergang vom ersten Flügelbeine zum Siebbeine sah er ganz deutlich vor Augen. Und nun Okens Erzählung! Auf einer Wanderung im Harz fand er den Schädel eines Hirsches; bei näherer Prüfung rief er sofort aus, das sei eine Wirbelsäule. Goethe machte seine Entdeckung 1790; Oken die seinige 1806, und 1807 sprach er sie in einer akademischen Gelegenheitsschrift aus. Er war damals noch Privatdocent in Göttingen, und wie er selbst zugesteht, wußte Goethe ohne Zweifel nichts von seiner Existenz – ein Geständniß, das man wohl beachten wolle. Er schickte seine Abhandlung nach Jena, wo er eben zum Professor ernannt worden, und da Goethe Curator dieser Universität war, so hält Oken damit die ganze Sache für entschieden; er meint, Goethe würde gewiß seinen Anspruch auf den Ruhm der Entdeckung bestritten haben, wenn er nicht die Gerechtigkeit desselben anerkannt hätte. Indeß ist dieser Umstand durchaus nicht entscheidend; wir werden gleich hören, daß Goethe seine Gründe hatte zu schweigen. Lassen wir einstweilen Oken weiter erzählen. »Ich schickte natürlich Goethe ein Exemplar zu. Diese Entdeckung hat ihm so gefallen, daß er mich einlud, in den Osterferien 1808 auf acht Tage zu ihm nach Weimar zu kommen, was ich auch gethan. Diese Lehre, anfangs verachtet und verspottet, wurde nachher mit so viel Eifer ergriffen, daß mehrere es versuchten, dieselbe auf allerlei Schleichwegen als die ihrige einzuschwärzen. So lange diese Lehre verhöhnt wurde, schwieg Goethe; als sie aber Ruhm zu versprechen anfing, so entstand allmälig unter den Weimaranern, welche gern alles ihrem Goethe zuschrieben, was neues in Jena zum Vorschein kam, ein Gemurmel, daß diese Idee auch von ihm herrühre. Um diese Zeit kam Bojanus, Professor in Wilna, nach Weimar, wo er bei Verwandten wohnte. Daselbst hörte er nun von dem Gemurmel über Goethe's Entdeckung, schenkte ihr halb Glauben und schickte mir darüber dieses Gerede zu, das ich ohne Bedenken in der Isis abdrucken ließ (1818). Darauf zeigte ich nun an, daß ich meine Entdeckung gemacht habe im Spätjahre 1806 am Schädel eines Hirsches auf einer Harzreise. Nun Bojanus die Sache zur Sprache gebracht hatte, bekam Goethe's Eitelkeit Muth und er kam hinterher, dreizehn Jahre nach meiner Entdeckung, und sagte, er sei seit dreißig Jahren von dieser geheimen Verwandtschaft überzeugt und habe die Betrachtungen darüber immer fortgesetzt.«

Warum schwieg Goethe, als Oken zuerst seine Entdeckung verkündete? und warum erhob Oken seine Anklage nicht, als Goethe noch lebte? Auf die erste Frage findet sich die Antwort in Goethe's eigenen Schriften. In dem kleinen Abschnitte seiner osteologischen Abhandlungen, welcher die Überschrift führt: »das Schädelgerüst aus sechs Wirbelknochen auferbaut«, erwähnt er, wie er zuerst drei, dann sechs Wirbelknochen anzuerkennen veranlaßt worden, die Ausbildung dieses Gedankens ins Einzelne möglichst bedacht und mit Freunden vertraulich besprochen habe, welche auf ihre Weise die Betrachtung verfolgten. »Im Jahre 1807, fährt er fort, sprang diese Lehre tumultuarisch ins Publikum, da es ihr denn an vielem Widerspruch und einigem Beifall nicht fehlen konnte. Wieviel ihr aber die unreife Art des Vortrags geschadet, möge die Geschichte dereinst auseinandersetzen.« Dieser Tadel gegen den Vortrag wird jedem begreiflich erscheinen, der Oken gelesen hat und Goethe's Abneigung gegen Metaphysik kennt. In seinen Tag- und Jahresheften (1807) erzählt er, daß gerade zu jener Zeit, wo er die alte Entdeckung von 1790 mit Voigt und Riemer verhandelte, beide ihm »mit Erstaunen« die Nachricht von dem Oken'schen Programm brachten, – » wie sie, da sie noch leben, Zeugniß geben können.« Warum aber machte er seinen früheren Anspruch nicht geltend? »Ich ersuchte die Freunde sich stille zu halten; denn daß in jenem Programme die Sache nicht geistreich durchdrungen, nicht aus der Quelle geschöpft war, fiel dem Wissenden nur allzusehr in die Augen. Es geschahen mancherlei Versuche mich reden zu machen, allein ich wußte zu schweigen.«

Dies ist für mich ein vollständig überzeugender Beweis. Die angeführten Stellen traten viele Jahre vor Oken's Anklage in die Oeffentlichkeit und beschuldigten ihn in den bestimmtesten Ausdrücken, daß er einen Gedanken, den Goethe mit Hülfe seiner Freunde genauer auszuführen beschäftigt war, in unreifer Gestalt veröffentlicht habe; ja, mehr als das: Goethe berief sich darin auf das Zeugniß zweier ehrenwerther und achtbarer Männer, die noch am Leben die Wahrheit seiner Angabe bestätigen könnten. So lange durch dieses Zeugniß Voigt's und Riemer's die Sache für immer entschieden werden konnte, sagte Oken kein Wort, und erst als keine Zeugenaussage mehr möglich war, entschloß er sich zu sprechen. Wegen seines Stillschweigens auf die zuerst angeführte Stelle rechtfertigt er sich zwar damit, er sei darin nicht genannt worden und habe keine Neigung gehabt, sich in endlose Unannehmlichkeiten verwickeln zu lassen, aber in der zweiten Stelle ist er doch so deutlich bezeichnet, als wenn er bei Namen genannt wäre, und das »Erstaunen« der Freunde Goethe's über die Veröffentlichung einer Entdeckung, die sie für Goethe's alleiniges Eigenthum hielten, verlangte auch wohl eine Antwort. Daß trotzdem Oken das Verdienst hat, die Vertebraltheorie in die Wissenschaft eingeführt und wissenschaftlich begründet zu haben, will ich dabei ausdrücklich anerkennen. Virchow ist anderer Ansicht; er nimmt die Priorität für Goethe in Anspruch.

Um diesen, schon sehr angewachsenen Abschnitt über Goethe's naturwissenschaftliche Forschungen abzuschließen, muß ich noch darauf hinweisen, daß die Zeitfolge derselben vor der übersichtlichen Zusammenfassung des so mannigfaltigen Stoffes hat zurückstehen müssen. Auch seine verschiedenen Abhandlungen habe ich nicht einzeln angegeben; man findet sie in den letzten Bänden seiner Werke wohl geordnet. Meine Absicht war hauptsächlich, die Richtungen seines Geistes aufzudecken, seine wissenschaftlichen Erfolge und Irrthümer darzulegen, die Stelle nachzuweisen, welche die Naturwissenschaft in seinem Leben einnahm, und die Meinung, er habe in die Wissenschaft nur hineingepfuscht als Künstler mit ihr gespielt, als durchaus irrig zu widerlegen. Was Buffon dem Plinius nachrühmt, er habe jene Leichtigkeit im Großen zu denken, welche das Wissen vervielfältigt ( cette facilité de penser en grand qui multiplie la science), das läßt sich mit Wahrheit auch von Goethe sagen, und nur als Denker auf diesem großen Gebiete nehme ich für ihn einen hohen Platz in Anspruch.



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