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Eilfter Abschnitt.
Die Campagne in Frankreich.

Goethe zum zweiten Male in Italien. Die venetianischen Epigramme. Rückkehr nach Weimar. Seine Freitag-Abende. Der Großkophta. Die Legitimität führt Krieg für Ludwig XVI. Goethe begleitet seinen Herzog zur Armee. Ist gegen Politik gänzlich gleichgültig, mit den Grundsätzen der Revolution im Widerspruch, ohne Theilnahme für die Royalisten. – Seine Schrift über diese Campagne.

Wir kehren jetzt zu unserer Erzählung zurück, aus deren Verlauf wir im vorigen Abschnitte bereits einiges vorweg genommen haben. Im Jahre 1790 übernahm Goethe die Leitung aller Anstalten für Kunst und Wissenschaft im Herzogthum und beschäftigte sich mit Einrichtung der Museen und des botanischen Gartens in Jena. Im März desselben Jahres ging er noch einmal nach Italien, um die Herzogin Amalia und Herder in Venedig zu treffen, aber Italien erschien ihm bei diesem zweiten Besuche als ein ganz anderes. Warum auch zerstörte er seine Vision? Solche Eindrücke kommen eben nicht zweimal. Er fing an zu vermuthen, an dem Zauber seines ersten Besuches sei vieles Täuschung. Die venetianischen Epigramme zeigen, gegen die römischen Elegien gehalten, den Unterschied der Stimmung. An die Stelle schmerzlicher Sehnsucht, vollen Entzückens, frischen Staunens, welche den Elegien ihren Charakter verleihen, treten hier Spott und bittere Enttäuschung. Zwar sind manche dieser Epigramme erst später geschrieben, aber der Hauptsache nach stammen sie aus dem Aufenthalt in Venedig. Einen großen Antheil an dieser veränderten Stimmung hatten die Neuheit und Ungewißheit seiner häuslichen Verhältnisse und die Unruhen der Zeit, die ihm allmälig alle Bildung zu gefährden schienen.

Kaum nach Weimar zurückgekehrt, ließ ihn der Herzog ins preußische Feldlager nach Schlesien kommen, »wo er einmal statt der Steine und Pflanzen die Felder mit Kriegern besäet finden werde«. Er ging sehr ungern hin, entschädigte sich aber durch die eifrigste Beschäftigung mit Steinen und Pflanzen und überließ dem Herzog und den Anderen das mäßige Vergnügen der Soldatenspielerei. Mitten in der beweglichsten Welt lebte er als Einsiedler in sich selbst abgeschlossen, trieb vergleichende Anatomie und arbeitete an einer komischen Oper.

Im August kehrten sie nach Weimar zurück. Die Herzogin Amalie und Herder, immer ungehaltener über seine »Zeitverschwendung an alten Knochen«, ließen ihm keine Ruhe, als bis er seine osteologischen Studien bei Seite legte und den Wilhelm Meister wieder vornahm. Doch kam er damit nicht weit; es war nicht die rechte Zeit dafür; gegen Newton zu schreiben war ein stärkerer Drang. Im Jahre 1791 wurde das Hoftheater gegründet; die Leitung übernahm er »mit Vergnügen«; doch übergehen wir diese seine Thätigkeit hier, um später seine Stellung als Theater-Direktor im Zusammenhange zu würdigen. Im Juli eröffnete die Herzogin Amalie ihre Freitagabende. In ihrer Wohnung versammelten sich zwischen fünf und acht Uhr der Herzog, die Herzogin Louise, Goethe mit seinem Kreise und einige wenige begünstigte Freunde vom Hofe, um von irgend einem Mitglied eine eigene Arbeit vortragen zu hören. Jede Art von Etikette war verbannt; die Mitglieder setzten sich wie sie kamen; nur für den Vortragenden war ein besonderer Platz bestimmt. Einen Abend trug Goethe seinen Bericht über die Familie Cagliostro's vor, ein andermal sprach er über Optik; Herder las über Unsterblichkeit, Bertuch über chinesische Farben und englische Gartenkunst, Böttiger über antike Vasen, Hufeland über sein Lieblingsthema, die Kunst lange zu leben, und Bode gab Bruchstücke aus seiner Uebersetzung des Montaigne. Wenn der Vortrag zu Ende war, setzte man sich um einen großen Tisch in der Mitte des Zimmers, nahm Kupferstiche oder eine interessante literarische Neuigkeit zur Hand und führte eine freundschaftliche Unterhaltung. Das waren ungezwungene, angenehme und interessante Gesellschaften.

Die Erwähnung des Namens Cagliostro erinnert an Goethe's Lustspiel »der Großkophta«, worin er die Pariser Halsbandgeschichte dramatisirte. Ursprünglich wollte er eine Oper daraus machen, die Reichard zu componiren hätte, und wenn der Leser sich durch dieses langweilige Lustspiel wirklich durchgearbeitet haben sollte, so wird er allerdings das Bedauern theilen, daß nicht eine Oper oder beliebig sonst was daraus gemacht ist – alles, nur nicht dieses Lustspiel. Es kann einen förmlich unglücklich machen, ein solches Machwerk unter den Schriften eines so großen Genie's zu finden, und erbittern muß es jeden gesunden Sinn, deutsche Kritiker in blinder Verehrung für Goethe ihr Lob an ein Werk verschwenden zu sehen, welches ihr überfeiner Scharfsinn doch nicht vor allgemeiner Mißachtung retten kann. Auf den Inhalt dieses Stücks mich einzulassen finde ich keinen Raum.

Nicht lange und Goethe wurde von seinen ruhigen Studien, aus seiner glücklichen Häuslichkeit fortgerissen in die Wechselfälle des Kriegslebens. Der König von Preußen und der Herzog von Braunschweig drangen an der Spitze eines großen Heeres in Frankreich ein, um Ludwig XVI. wieder auf den Thron zu setzen und die Legitimität aus den verbrecherischen Händen des Sansculottismus zu retten. Frankreich, hieß es, seufze unter der Tyrannei der Parteiungen und sehne sich nach Erlösung; die Emigranten machten es klar wie der Tag, die fremden Befreier würden von der ganzen Nation freudig aufgenommen werden und die deutschen Fürsten liehen der Sache der Legitimität willig den Arm. Karl August, dessen Soldatenliebhaberei allmälig zur Leidenschaft geworden war, erhielt das Kommando eines preußischen Kürassierregiments, Goethe folgte ihm in den Krieg, aber er ging seines Herzogs wegen, nicht aus Antheil an der Sache. Nach keiner Seite nahm er Partei; für die Legitimität hatte er keine Leidenschaft, für die Republik noch weniger. Ohne jegliches Parteiinteresse in der Politik, innigst überzeugt, daß alles Heil nur aus innerer Bildung komme, und allen politischen Unruhen hauptsächlich darum abgeneigt, weil sie die Kultur aufhielten und unmöglich machten, war er im vollsten Sinne des Worts ein Kind des Friedens und zu keiner Zeit seines Lebens vermochte er sich für große Kämpfe einen herzlichen Antheil abzugewinnen. Er machte der französischen Revolution und der deutschen Reformation den gleichen Vorwurf, sie hemmten den friedlichen Fortschritt der Entwicklung:

Franzthum drängt in diesen verworrenen Tagen, wie ehmals
Lutherthum es gethan, ruhige Bildung zurück.

Daß Männer von historischem und patriotischem Geiste gegen solche Auffassung zu Felde ziehen, ihre Gründe widerlegen und ihre Gefahren aufzeigen, hat seinen Sinn; aber daß sie gegen Goethe ihre Blitze schleudern, weil er, einmal von dieser Ansicht erfüllt, in ihrem Geiste schrieb und handelte, ist ausnehmend unsinnig. Wüßten wir nicht auch ohne dieses Beispiel schon, daß man in der Welt den Haß gegen Meinungen leicht auf die Person der Gegner überträgt, so könnten wir uns allenfalls wundern über das unsinnige Wuthgeschrei, welches sich gegen den herrlichsten deutschen Namen erhoben hat, weil er die Ansichten seiner wilden Ankläger nicht theilte – Ansichten noch dazu, welche sie meistens gar nicht angenommen hätten, wenn sie ihnen nicht durch den Gang der Ereignisse eingegeben wären, der was damals Wahnsinn schien als geschichtlich berechtigt erwiesen hat. Goethe's beschaulichen Sinn konnte der vorübergehende Lärm des Tages nicht fesseln; in den ewigen Gesetzen der Natur fand er den Anreiz und die Nahrung, welche die flüchtig verrauschenden Erscheinungen des Augenblicks Anderen boten. An den großen Fragen der Dichtkunst und Philosophie sich zu betheiligen ist ein Dichter und Philosoph allerdings gehalten, aber ihm aus einer Gleichgültigkeit in politischen Dingen ein Verbrechen zu machen, ist eben so unverständig, als etwa einem Staatsmann vorzuwerfen, er habe keinen Sinn für griechische Kunst und verstehe sich nicht auf Physiologie. Man hat auch behauptet und zwar sehr thörichter Weise behauptet, Goethe habe sich von der Politik hinweg der Kunst und Wissenschaft zugewandt, weil ihn die Politik gestört habe und er zu selbstsüchtig gewesen sei, als daß er sich um die Angelegenheiten anderer bekümmert hätte. Das ist ein Vorwurf von demselben Schlage, wie jene niedrige Verläumdung, religiöse Freisinnigkeit sei nur ein Vorwand für schlechten Lebenswandel. Als wenn geistige Zweifel nur aus losen Sitten hervorgingen! Wie wenig selbstsüchtig Goethe war, wissen die am besten, die ihn am genauesten kennen, und wenn sich von vielen, die in Patriotismus machen, das Gleiche sagen ließe, so stände es besser in der Welt und in Deutschland gewiß. Daß Goethe das Wohl der Menschheit aufrichtig wünschte und in seiner Weise mit einer fast beispiellosen Ausdauer dafür thätig war, sollte wahrlich genügen, ihn vor dem Vorwurf der Selbstsucht zu schützen, den doch nur der unpolitische Charakter seiner Bestrebungen ihm zugezogen hat. Seine Ansichten und sein Benehmen sind zwei ganz verschiedene Dinge. Jean Paul giebt ihm das Zeugniß, er habe weiter gesehen als die ganze übrige Welt, denn von Anfang der französischen Revolution bis zu Ende habe er die Patrioten gleich sehr verachtet. Zwar kann ich ein so starkes Gefühl wie Verachtung überhaupt bei ihm nicht finden; das aber ist sicher, daß während Klopstock und andere bei der Eröffnung dieses furchtbaren Schauspiels bis zum Wahnsinn begeistert und bald nachher bis zum Wahnsinn dagegen erbittert waren, Goethe durchweg seiner Ansicht ziemlich getreu blieb. Ein schönes Wort sagt: Jede Zeit hat ein doppeltes Antlitz; das eine armselig, lächerlich oder kläglich, ist dem Augenblick zugewandt; das andere groß, bedeutend und ernst, ist auf die Ewigkeit gerichtet. Das ist für keine Zeit zutreffender als für die französische Revolution. Goethe sah nur ihre zeitliche Seite; sein Mangel an geschichtlichem Sinn hinderte ihn, auch das Ewige darin zu erblicken.

Die französische Revolution verkündete drei Grundsätze, die ihm alle gleich zuwider waren. Der erste Grundsatz war der der Gleichheit, nicht etwa blos der Gleichheit vor dem Gesetz, sondern der unbedingten Gleichheit. Ihm aber hatte das Studium der Natur sowohl wie der Menschen die Ueberzeugung gegeben, die es ihm nothwendig geben mußte, daß nämlich der Einzelne in sich vollendet und insofern dem Höchsten gleich, daß aber keiner genau dem andern gleich sei.

Gleich sei keiner dem andern; doch gleich sei jeder dem Höchsten.
Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.

Das zweite revolutionäre Princip war die Lehre, alle Gewalten gehen vom Volke aus. Er glaubte nicht an die Befähigung des Volkes, sich selbst zu regieren. Selbst wenn ihr den König tödtet, sagt er, ihr wüßtet nicht, wie ihr an seiner Statt regieren solltet. Das Schicksal Frankreichs schien ihm eine Lehre für die Regierten nicht weniger als die Regierenden:

Frankreichs traurig Geschick, die Großen mögen's bedenken,
Aber bedenken fürwahr sollen es Kleine noch mehr.
Große gingen zu Grunde; doch wer beschützte die Menge
Gegen die Menge? Da ward Menge der Menge Tyrann.

Aus der gleichen Anschauung erklärte er sich auch allen Freiheitsaposteln abgeneigt:

sie waren mir immer zuwider,
Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich.

Der dritte revolutionäre Grundsatz endlich war, politische Freiheit sei dem Menschen nothwendig. Er seinerseits hatte schon zu Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn als seine Ueberzeugung ausgesprochen, diese Freiheit sei durchaus nicht nothwendig; im Egmont findet sich derselbe Gedanke, und sein ganzes Leben hindurch blieb er fest bei der Ansicht, niemand könne frei sein; die einzige nöthige Freiheit sei die, ungestört seinen Geschäften nachzugehen, sein Haus zu bestellen, seine Kinder zu erziehen, in dem kleinen Kreise seiner Existenz sich ungehindert zu bewegen. Daß selbst diese bescheidene Freiheit ohne politische Freiheit unmöglich ist, scheint ihm nicht in den Sinn gekommen zu sein; daß Polizeivorschriften auf den Einzelnen und Regierungsverordnungen auf die ganze Nation bestimmend einwirken, das übersieht er ganz.

Aber während er so zu den Grundsätzen der Revolution und der Herrschaft der Massen im offensten Widerspruch stand, war er den Royalisten ebensowenig zugethan und billigte weder ihre politischen Pläne noch ihre Handlungen. In seinen Augen war der Wahnsinn der Terroristen keine Entschuldigung für das falsche Spiel der königlichen Partei, gegen das er sich mit dem scharfen Worte erklärte:

Sage, thun wir nicht Recht? Wir müssen den Pöbel betrügen;
Sieh nur, wie ungeschickt, sieh nur, wie wild er sich zeigt! –
Ungeschickt und wild sind alle rohen Betrognen;
Seid nur redlich und so führt ihn zur Menschlichkeit an.

Ja, selbst die wüsten Klubredner und Straßenhelden schienen ihm vor den Royalisten ein Großes voraus zu haben:

Mir auch scheinen sie toll; doch redet ein Toller in Freiheit
Weise Sprüche, wenn ach! Weisheit in Sclaven verstummt.

Und zu Eckermann erklärt er geradezu, eine große Revolution sei nie die Schuld des Volkes, sondern der Regierung.

Diese Bemerkungen würden sich leicht noch weiter ausdehnen lassen durch den Nachweis, wie seine politischen Anschauungen im Laufe seiner Erziehung natürlich erwachsen seien, wie er im dreiundvierzigsten Lebensjahre zum Freiheitsapostel gar wenig befähigt gewesen, wie er an politischen Unruhen unmöglich einen bedeutenden Antheil nehmen konnte, nachdem bereits der Kern seiner Künstlernatur sich krystallisirt hatte. Aber schon ausführlich genug ist die Stellung, die er einnahm, erläutert worden, und wer sie nach dem bisher Gesagten nicht mit der verdienten Unparteilichkeit zu würdigen weiß, dem würde auch der Nachweis ihres Ursprungs und Fortgangs nicht dazu verhelfen.

Goethe hat die Campagne in Frankreich in einer besondern Schrift dargestellt; ich entnehme daraus einige interessante Einzelheiten und reihe sie auf dem Faden der Erzählung an einander.

Die Alliirten hatten den Feldzug gegen Frankreich in dem Glauben unternommen, es werde ein bloßer »militärischer Spazierritt« sein. Longwy, hatte man sie versichert, würde sich sofort ergeben und das Volk sie mit offenen Armen empfangen. In der That ergab sich Longwy, aber das Volk bewies überall den entschlossensten Widerstand. Wie Goethe die Dinge ansah, zeigen folgende Sätze: »Also kamen nun Preußen und Oestreicher und ein Theil von Frankreich, auf französischem Boden ihr Kriegshandwerk zu treiben. In wessen Macht und Gewalt thaten sie das? Sie konnten es in eignem Namen thun, der Krieg war ihnen zum Theil erklärt, ihr Bund war kein Geheimniß; aber nun ward noch ein Vorwand erfunden. Sie traten auf im Namen Ludwig's des XVI., sie requirirten nicht, aber sie borgten gewaltsam. Man hatte Bons drucken lassen, die der Commandirende unterzeichnete, derjenige aber, der sie in Händen hatte, nach Befund beliebig ausfüllte, Ludwig XVI., sollte bezahlen. Vielleicht hat nach dem Manifest nichts so sehr das Volk gegen das Königsthum aufgehetzt als diese Behandlungsart. Ich war selbst bei einer solchen Scene gegenwärtig, deren ich mich als höchst tragisch erinnere. Mehrere Schäfer mochten ihre Heerden vereinigt haben, um sie in Wäldern oder sonst abgelegenen Orten sicher zu verbergen; von thätigen Patrouillen aber aufgegriffen und zur Armee geführt, sahen sie sich zuerst wohl und freundlich empfangen. Man fragte nach den verschiedenen Besitzern, man sonderte und zählte die einzelnen Heerden. Sorge und Furcht, doch mit einiger Hoffnung, schwebte auf den Gesichtern der tüchtigen Männer. Als sich aber dieses Verfahren dahin auflöste, daß man die Heerden unter Regimenter und Compagnien vertheilte, den Besitzern hingegen, ganz höflich, auf Ludwig XVI. gestellte Papiere überreichte, indessen ihre wolligen Zöglinge von den ungeduldigen fleischlustigen Soldaten vor ihren Füßen ermordet wurden; so gesteh' ich wohl, es ist mir nicht leicht eine grausamere Scene und ein tieferer männlicher Schmerz in allen seinen Abstufungen jemals vor Augen und zur Seele gekommen. Die griechischen Tragödien allein haben so einfach tief Ergreifendes.«

Auf allen Blättern seiner Erzählung zeigt sich Goethe voll lebhaftester Theilnahme für Menschen, Wissenschaft und Natur, aber nicht im mindesten für die Sache, um welche Krieg geführt wurde. Er sieht Soldaten nach Fischen angeln, tritt zu ihnen heran und ist über ein interessantes Farbenspiel in dem klaren Wasser ganz entzückt. Beim Bombardement von Verdun tritt er in eine Batterie, die eben gewaltsam arbeitet, aber der fürchterliche dröhnende Knall abgefeuerter Haubitzen fällt seinem friedlichem Ohre unerträglich; draußen trifft er einen Fürsten Reuß. »Wir gingen, erzählt er, hinter Weinbergmauern hin und her, durch sie geschützt vor den Kugeln, welche herauszusenden die Belagerten nicht faul waren. Nach mancherlei politischen Gesprächen, die uns denn freilich nur in ein Labyrinth von Hoffnungen und Sorgen verwickelten, fragte mich der Fürst, womit ich mich gegenwärtig beschäftige, und war sehr verwundert, als ich, anstatt von Tragödien und Romanen zu vermelden, aufgeregt durch die heutige Refraktionserscheinung, von der Farbenlehre mit großer Lebhaftigkeit zu sprechen begann. Denn es ging mir mit diesen Entwicklungen natürlicher Phänomene, wie mit Gedichten: ich machte sie nicht, sondern sie machten mich. Das einmal erregte Interesse behauptete sein Recht, die Produktion ging ihren Gang, ohne sich durch Kanonenkugeln und Feuerballen im mindesten stören zu lassen.« Auch diese Gleichgültigkeit gegen die Vorgänge der Tagesgeschichte ist Goethen zum Vorwurf gewendet worden, und das von Männern, die es dem Archimedes zu hohem Lobe anrechnen, daß er während der Belagerung von Syrakus seine Studien nicht unterbrach. Mit einer merkwürdigen Naturerscheinung mitten unter dem Donner der Kanonen sich zu beschäftigen, war für Goethe eben so natürlich, wie für die Soldaten, ihre lustigen Lieder zu singen. Das Lagerleben gab ihm auch manche gute Gelegenheit, Menschen zu beobachten. Zwischen Ordnung und Unordnung, Erhalten und Verderben, Rauben und Bezahlen lebte man so hin; er erkannte, was den Krieg für das Gemüth eigentlich verderblich mache. »Man spielt den Kühnen, Zerstörenden, dann wieder den Sanften, Belebenden; man gewöhnt sich an Phrasen, mitten in dem verzweifeltsten Zustand Hoffnung zu erregen und zu beleben; hierdurch entsteht nun eine Art von Heuchelei, die einen besonderen Charakter hat und sich von der pfäffischen, höfischen, oder wie sie sonst heißen mögen, ganz eigen unterscheidet.«

Nach Aufzählung einiger kleinen Leiden des Feld- und Lagerlebens fährt er fort: »Glückselig aber der, dem eine höhere Leidenschaft den Busen füllte; die Farbenerscheinung der Quelle hatte mich dieser Tage her nicht einen Augenblick verlassen, ich überdachte sie hin und wieder, um sie zu bequemen Versuchen zu erheben. Da diktirte ich an Vogel, der sich auch hier als treuer Kanzleigefährte erwies, ins gebrochene Concept und zeichnete nachher die Figuren daneben. Diese Papiere besitze ich noch mit allen Merkmalen des Regenwetters, und als Zeugniß eines treuen Forschens auf eingeschlagenem bedenklichem Pfad.«

Sehr bezeichnend für seine Wißbegierde ist das folgende kecke Abenteuer: »Ich hatte so viel vom Kanonenfieber gehört und wünschte zu wissen, wie es eigentlich damit beschaffen sei. Langeweile und ein Geist, den jede Gefahr zur Kühnheit, ja zur Verwegenheit aufruft, verleitete mich, ganz gelassen nach dem Vorwerk la Lune hinaufzureiten. Dieses war wieder von den Unsrigen besetzt, gewährte jedoch einen gar wilden Anblick. Die zerschossenen Dächer, die herumgestreuten Weizenbündel, die darauf hier und da ausgestreckten tödtlich Verwundeten und dazwischen noch manchmal eine Kanonenkugel, die sich herüberverirrend in den Ueberresten der Ziegeldächer klapperte. Ganz allein mir selbst gelassen, ritt ich links auf den Höhen weg und konnte deutlich die glückliche Stellung der Franzosen überschauen; sie standen amphitheatralisch in größter Ruh und Sicherheit, Kellermann jedoch auf dem linken Flügel eher zu erreichen ... Ich war nun vollkommen in die Region gelangt, wo die Kugeln herüber spielten; der Ton ist wundersam genug, als wäre er zusammengesetzt aus dem Brummen des Kreisels, dem Butteln des Wassers und dem Pfeifen eines Vogels. Sie waren weniger gefährlich wegen des feuchten Erdbodens; wo eine hinschlug, blieb sie stecken, und so ward mein thörichter Versuchsritt wenigstens vor der Gefahr des Ricochetirens gesichert. Unter diesen Umständen konnte ich jedoch bald bemerken, daß etwas Ungewöhnliches in mir vorgehe; ich achtete genau darauf und doch würde sich die Empfindung nur gleichnißweise mittheilen lassen. Es schien, als wäre man an einem sehr heißen Orte, und zugleich von derselben Hitze völlig durchdrungen, so daß man sich mit demselben Element, in welchem man sich befindet, vollkommen gleich fühlt. Die Augen verlieren nichts an ihrer Stärke noch Deutlichkeit; aber es ist doch, als wenn die Welt einen gewissen braunröthlichen Ton hätte, der den Zustand so wie die Gegenstände noch apprehensiver macht. Von Bewegung des Blutes habe ich nichts bemerken können, sondern mir schien vielmehr alles in jener Gluth verschlungen zu sein. Hieraus erhellet nun, in welchem Sinne man diesen Zustand ein Fieber nennen könne. Bemerkenswerth bleibt es indessen, daß jenes gräßlich Bängliche nur durch die Ohren zu uns gebracht wird; denn der Kanonendonner, das Heulen, Pfeifen, Schmettern der Kugeln durch die Luft ist doch eigentlich Ursache an diesen Empfindungen. Als ich zurückgeritten und völlig in Sicherheit war, fand ich bemerkenswerth, daß alle jene Gluth sogleich erloschen und nicht das mindeste von einer fieberhaften Bewegung übrig geblieben sei. Es gehört übrigens dieser Zustand unter die am wenigsten wünschenswerthen; wie ich denn auch unter meinen lieben und edlen Kriegskameraden kaum einen gefunden habe, der einen eigentlich leidenschaftlichen Trieb hiernach geäußert hätte. So war der Tag hingegangen; unbeweglich standen die Franzosen, Kellermann hatte auch einen bequemern Platz genommen; unsere Leute zog man aus dem Feuer zurück, und es war eben, als wenn nichts gewesen wäre. Die größte Bestürzung verbreitete sich über die Armee. Noch am Morgen hatte man nicht anders gedacht, als die sämmtlichen Franzosen anzuspießen und aufzuspeisen, ja mich selbst hatte das unbedingte Vertrauen auf ein solches Heer, auf den Herzog von Braunschweig, zur Theilnahme an dieser gefährlichen Expedition gelockt; nun aber ging jeder vor sich hin, man sah sich nicht an, oder wenn es geschah, so war es um zu fluchen oder zu verwünschen. Wir hatten, eben als es Nacht werden wollte, zufällig einen Kreis geschlossen, in dessen Mitte nicht einmal wie gewöhnlich ein Feuer konnte angezündet werden; die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch eigentlich einem jeden Besinnung und Urtheil. Endlich rief man mich auf, was ich dazu denke, denn ich hatte die Schaar gewöhnlich mit kurzen Sprüchen erheitert und erquickt; diesmal sagte ich: von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.«

Die Nacht brachte Regen und Wind. Sie hatten sich hinter einer Erhöhung, die den schneidenden Wind abhielt, nothdürftig gelagert, als es jemand einfiel, man solle sich für diese Nacht in die Erde graben und mit dem Mantel zudecken. Sogleich machte man dazu Anstalt, und selbst Karl August verschmähte nicht eine solche »voreilige Bestattung«. Goethe wickelte sich in eine wollene Decke und schlief vortrefflich. Vergebens bemerkte ihnen ein Oberst des Regiments, die Franzosen hätten auf einem Hügel gegenüber eine Batterie stehen, mit der sie die Scheintodten im Ernste begraben und nach Belieben vernichten könnten; aber diese wollten ihre behagliche Ruhestätte nicht aufgeben und trotzten der Gefahr, um der Unbequemlichkeit auszuweichen.

Die Niederlage von Valmy, so unbedeutend sie war, entmuthigte die Preußen und belebte die Kampflust der Franzosen. Die Preußen stutzten bei dem Rufe vive la nation! womit die Republikaner auf sie eindrangen; sie sahen sich einem erbitterten Volke gegenüber, in einem fremden Lande, ohne Magazine und Vorräthe irgend welcher Art, erkannten endlich, welch einen großen Fehler sie gemacht, und begannen den Rückzug. Für Goethe war die Nachricht, daß es nun mit den Mühseligkeiten des Kriegslebens vorbei sei, unstreitig eine rechte Erleichterung. Ihn interessirte weder die Sache noch auch hatte er aus näherer Bekanntschaft mit den Heer- und Parteiführern eine höhere Meinung von ihrem Werthe zu gewinnen vermocht. »Ob ich schon, gesteht er, unter dem diplomatischen Corps echte und verehrungswürdige Freunde gefunden, so konnte ich doch, so oft ich sie mitten unter diesen großen Bewegungen fand, mich gewisser neckischer Einfälle nicht enthalten; sie kamen mir vor, wie Schauspieldirektoren, welche die Stücke wählen, Rollen austheilen und in unscheinbarer Gestalt einhergehen, indessen die Truppe, so gut sie kann, aufs beste herausgestutzt, das Resultat ihrer Bemühungen dem Glück und der Laune des. Publikums überlassen muß.«

Zufällig gerieth ihm ein Heft in die Hände, welches die Instruktion für einen Deputirten der Notablenversammlung von 1787 enthielt. Er gesteht, daß er die Blätter mit wahrhafter Rührung gelesen habe; die Mäßigkeit der damaligen Forderungen, die Bescheidenheit, womit sie abgefaßt, hätten mit den Zuständen von Gewaltsamkeit, Uebermuth und Verzweiflung, von denen er nun Augenzeuge war, völlig constatirt.

Der Rückmarsch ging langsam. Mittlerweile drangen die Franzosen überall siegreich vor; Verdun und Longwy fielen wieder in die Hände der Republikaner; Trier und Mainz ergaben sich an Custine. Von seinen persönlichen Erlebnissen lassen wir Goethe selbst berichten: »Mitten in diesem Unheil und Tumulte fand mich ein verspäteter Brief meiner Mutter, ein Blatt das an jugendlich ruhige, städtisch häusliche Verhältnisse gar wundersam erinnerte. Mein Oheim Schöff Textor war gestorben, dessen nahe Verwandtschaft mich von der ehrenhaft wirksamen Stelle eines frankfurter Rathsherrn bei seinen Lebzeiten ausschloß, worauf man herkömmlich, löblicher Sitte gemäß, meiner sogleich gedachte, der ich unter den frankfurter Graduirten ziemlich weit vorgerückt war. Meine Mutter hatte den Auftrag erhalten, bei mir anzufragen: ob ich die Stelle eines Rathsherrn annehmen würde, wenn mir, unter die Losenden gewählt, die goldene Kugel zufiele? Vielleicht konnte eine solche Anfrage in keinem seltsamern Augenblicke anlangen als in dem gegenwärtigen; ich war betroffen, in mich selbst zurückgewiesen; tausend Bilder stiegen vor mir auf und ließen mich nicht zu Gedanken kommen. Wie aber ein Kranker oder Gefangener sich wohl im Augenblicke an einem erzählten Märchen zerstreut, so war auch ich in andere Sphären und Jahre versetzt. Ich befand mich in meines Großvaters Garten, wo die reich mit Pfirsichen gesegneten Spaliere des Enkels Appetit gar lüstern ansprachen und nur die angedrohte Verweisung aus diesem Paradiese, nur die Hoffnung, die reifste rothbäckigste Frucht aus des wohlthätigen Ahnherrn eigener Hand zu erhalten, solche Begierde bis zum endlichen Termin einigermaßen beschwichtigen konnte. Sodann erblickte ich den ehrwürdigen Altvater um seine Rosen beschäftigt, wie er gegen die Dornen mit alterthümlichen Handschuhen, als Tribut überreicht von zollbefreiten Städten, sich vorsichtig verwahrte, dem edlen Laertes gleich, nur nicht wie dieser sehnsüchtig und kummervoll. Dann erblickte ich ihn im Ornat als Schultheiß, mit der goldenen Kette, auf dem Thronsessel unter des Kaisers Bildniß; sodann leider im halben Bewußtsein einige Jahre auf dem Krankenstuhle, und endlich im Sarge. Bei meiner letzten Durchreise durch Frankfurt hatte ich meinen Oheim im Besitz des Hauses, Hofes und Gartens gefunden, der als wackrer Sohn, dem Vater gleich, die höheren Stufen freistädtischer Verfassung erstieg. Hier im traulichen Familienkreise, in dem unveränderten alt bekannten Lokal, riefen sich jene Knabenerinnerungen lebhaft hervor und traten mir nun neukräftig vor die Augen. Sodann gesellten sich zu ihnen andere jugendliche Vorstellungen, die ich nicht verschweigen darf. Welcher reichstädtische Bürger wird leugnen, daß er, früher oder später, den Rathsherrn, Schöff und Bürgermeister im Auge gehabt und, seinem Talente gemäß, nach diesen, vielleicht auch nach minderen Stellen emsig und vorsichtig gestrebt: denn der süße Gedanke, an irgend einem Regimente Theil zu nehmen, erwacht ja bald in der Brust eines jeden Republikaners, lebhafter und stolzer schon in der Seele des Knaben. Diesen freundlichen Kinderträumen konnte ich mich jedoch nicht lange hingeben, nur allzuschnell aufgeschreckt besah ich mir die ahnungsvolle Lokalität die mich umfaßte, die traurigen Umgebungen die mich beengten, und zugleich die Aussicht nach der Vaterstadt getrübt, ja verfinstert. Mainz in französischen Händen, Frankfurt bedroht, wo nicht schon eingenommen, der Weg dorthin versperrt, und innerhalb jener Mauern, Straßen, Plätze, Wohnungen, Jugendfreunde, Blutsverwandte vielleicht schon von demselben Unglück ergriffen, daran ich Longwy und Verdun so grausam hatte leiden sehen; wer hätte gewagt, sich in solchen Zustand zu stürzen! Aber auch in der glücklichsten Zeit jenes ehrwürdigen Staatskörpers wäre mir nicht möglich gewesen, auf diesen Antrag einzugehen; die Gründe waren nicht schwer auszusprechen. Seit zwölf Jahren genoß ich eines seltenen Glückes, des Vertrauens wie der Nachsicht des Herzogs von Weimar. Dieser von der Natur höchst begünstigte, glücklich ausgebildete Fürst ließ sich meine wohlgemeinten, oft unzulänglichen Dienste gefallen und gab mir Gelegenheit mich zu entwickeln, welches unter keiner andern vaterländischen Bedingung möglich gewesen wäre; meine Dankbarkeit war ohne Grenzen, so wie die Anhänglichkeit an die hohen Frauen Gemahlin und Mutter, an die heranwachsende Familie, an ein Land, dem ich doch auch manches geleistet hatte. Und mußte ich nicht zugleich jenes Cirkels neuerworbener höchstgebildeter Freunde gedenken, auch so manches andern häuslich Lieben und Guten, was sich aus meinen treubeharrlichen Zuständen entwickelt hatte!«



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