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Vierter Abschnitt.
Politik und Religion.

Goethe's Bekanntschaft mit Beethoven. Wieland stirbt. Deutschlands Erhebung gegen Napoleon. Goethe's Gleichgültigkeit in politischen Dingen; sein künstlerischer Ernst. Vorwurf der Irreligiosität. Wechsel in seinen religiösen Ansichten. Abneigung gegen alles Dogmatische. Bekehrungsversuche von Auguste Stolberg und Goethe's ablehnende Antwort. Seine Theosophie, Ethik und Religion. – Goethe im hohen Alter. Orientalische Studien. »Der West-Oestliche Divan«. – Reise nach Frankfurt; wie man ihm dort huldigte.

Die letzten Jahrzehnte des Goethe'schen Lebens mit nur annähernder Vollständigkeit im Einzelnen zu erzählen, würde einen besonderen Band erfordern. An Stoff ist kein Mangel; noch im Jahre 1865 ist in Sulpiz Boisserées Briefen und Tagebüchern ein für die letzten zwanzig Lebensjahre des Dichters außerordentlich reiches und interessantes Material erschlossen worden. In seinen Briefen und denen seiner Freunde und Bekannten findet sich reiche Auswahl, aber unglücklicher Weise werden die Materialien grade da am vollständigsten, wo das Interesse an der Geschichte abzunehmen beginnt. Vom sechzigsten bis zum zweiundachtzigsten Jahre ist eine lange Zeit, aber es ist eine Zeit, wo Personen und Dinge nicht mehr auf den Menschen einwirken; der Charakter ist fertig und kann keinen neuen Anstoß erhalten. Da hört die Lebensbeschreibung auf und der Nekrolog beginnt. Von allem und jedem, was Goethe that und studirte, jedem Ausflug, den er machte, jeder Erkältung und jedem Zahnweh, woran er litt, jeder Person mit der er verkehrte, umständlich Rechenschaft zu geben – ich glaube, man ist auch in Deutschland so weit gekommen, um sich das sparen zu können.

Seine Bekanntschaft mit Beethoven erwähne ich indeß wegen des unauslöschlichen Interesses, das sich an die beiden Namen knüpft, und wegen einer nothwendigen Abwehr. Sie trafen sich in Teplitz, verlebten einige Tage mit einander und schieden jeder mit der tiefsten Bewunderung für des andern Genie. »Aber, fügt Beethovens Biograph Schindler hinzu, aber obgleich Beethoven die Geduld Goethe's mit ihm (seines schlechten Gehörs wegen) gepriesen hat, so ist es doch Thatsache, daß der große Dichter und Minister den Musiker nur zu bald vergaß, und als er ihm im Jahre 1823 mit geringer Mühe einen wesentlichen Dienst hätte leisten können, auf einen ganz submissen Brief unsern Meister nicht einmal einer Antwort würdigte.« Das ist so die übliche Art, Anschuldigungen zu erheben, das auch die Art von Beweis, bei der man sich beruhigt. Thatsächlich liegt hier nichts vor, als daß Beethoven an Goethe geschrieben und daß Goethe nicht geantwortet hat. Beethoven's Brief enthielt die Bitte, Goethe möge den Großherzog veranlassen, auf seine Messe zu subscribiren; darauf keine Antwort zu erhalten, mochte sehr kränkend fein, aber Goethe's Schweigen ohne weiteres aus bösem Willen zu erklären, ist doch durchaus ungerechtfertigt und bei der bekannten Freundlichkeit Goethe's, bei seiner Bewunderung für Beethoven, seiner wiederholten Verwendung bei Karl August für so manche wohlthätige Handlung müssen wir seinem Schweigen lieber jede andere Deutung geben als die des argwöhnischen Beethoven und seines Verehrers Schindler.

Kehren wir nach dieser Abschweifung zu dem Laufe unserer Erzählung zurück. Das Jahr 1813, in welchem die Freiheitskriege begannen, war für Goethe ein sorgenvolles Jahr. Es eröffnete sich mit einem schmerzlichen Verluste; sein alter Freund Wieland starb – ein Schlag, der ihn tiefer erschütterte, als seine nächsten Freunde geglaubt hatten. Herder, Schiller, die Herzogin Amalie, seine Mutter und nun Wieland – einer nach dem andern sanken sie dahin, ließen ihn einsam bei fortschreitendem Alter; einem nach dem andern mußte er den Nachruf sprechen. Zum Andenken Wielands, »des edlen Dichters, Bruders und Freundes« hielt er in der Freimaurerloge in Weimar eine Rede, die ein rechtes Muster einer liebenswürdig anerkennenden und doch wahrhaften Lobrede ist und von jedem gelesen werden sollte, der ein klares Bild von dem Lebensgange und der Natur des feinsinnigen Sängers des Oberon gewinnen will. Als Beispiel, in wie geistreicher Weise Goethe solche Aufgaben anzufassen und zu behandeln wußte, stehe hier der erste Satz seiner Rede: »Ob es gleich dem Einzelnen unter keiner Bedingung geziemen will, alten ehrwürdigen Gebräuchen sich entgegenzustellen, und das, was unsere weisen Vorfahren beliebt und angeordnet, eigenwillig zu verändern, so würde ich doch, stände mir der Zauberstab wirklich zu Gebote, den die Muse unserem abgeschiedenen Freunde geistig anvertraut, ich würde diese ganze düstere Umgebung augenblicklich in eine heitere verwandeln: dieses Finstere müßte sich gleich vor ihren Augen erhellen, und ein festlich geschmückter Saal mit bunten Teppichen und munteren Kränzen, so froh und klar als das Leben unseres Freundes, sollte vor Ihnen erscheinen. Da möchten die Schöpfungen seiner blühenden Phantasie Ihre Augen, Ihren Geist anziehen, der Olymp mit seinen Göttern, eingeführt durch die Musen, geschmückt durch die Grazien, sollte zum lebendigen Zeugniß dienen, daß derjenige, der in so heiterer Umgebung gelebt und dieser Heiterkeit gemäß auch von uns geschieden, unter die glücklichsten Menschen zu zählen, und keineswegs mit Klage, sondern mit Ausdruck der Freude und des Jubels zu bestatten sei.«

Bald kamen schwere Sorgen. Die politischen Unruhen des Jahres 1813 störten seine Pläne. Deutschland erhob sich gegen die Gewaltherrschaft Napoleon's; Goethe hielt diese Erhebung für hoffnungslos. Als Körner, der Vater des Dichters, in Aussichten auf bessere Zeiten sich erging, fuhr er ihn mit den heftigen Worten an: »Ja, schüttelt nur an euren Ketten! Der Mann ist euch zu groß, ihr werdet sie nicht zerbrechen, sondern sie nur noch tiefer in's Fleisch ziehen!« Noch viele andere zweifelten gleich ihm an dem Erfolge, aber die Nation glücklicher Weise nicht. Während die Patrioten den Zorn der Nation zu einem Widerstande der Verzweiflung anfachten, suchte sich der Dichter »aus der Gegenwart zu retten, weil es unmöglich sei, in der Nähe von so manchen Ereignissen nur leidend zu leben, ohne zuletzt von Sorge, Verwirrung und Verbitterung wahnsinnig zu werden«. Wie immer, nahm er seine Zuflucht zu der Kunst. Er dichtete die Balladen »der Todtentanz«, »der getreue Eckardt« und »die wandelnde Glocke«, schrieb den Aufsatz »Shakespeare und kein Ende« und beendete das dritte Buch von Wahrheit und Dichtung, ja, er flüchtete bis in die Geschichte China's, in deren Studium er sich begrub, und grade am Tage der Schlacht bei Leipzig schrieb er für seine Lieblings-Schauspielerin, Madame Wolf, den Epilog zu dem Trauerspiele Essex. Als ein besonderes Zusammentreffen mag dabei erwähnt sein, daß grade am 18. Oktober das Medaillon Napoleon's, welches in Goethe's Arbeitszimmer hing, von der Wand herunter fiel.

Daß er so vor den Wirren der Politik bei der Poesie Schutz suchte, haben patriotische Schriftsteller mit reichlichem Hohn getadelt; sie finden keine andere Erklärung dafür als: er sei ein Egoist gewesen. Andere patriotische Schriftsteller, darunter sogar Ultrarepublikaner, wie Karl Grün, haben ihn beredt vertheidigt. Mögen die Herren das unter sich ausfechten! Ich halte es nicht für nöthig, meinen früheren Erwägungen über Goethe's Verhältniß zur Politik (s. oben S. 207 u. folg.) neue hinzuzufügen. Die ihm einen Vorwurf daraus machen, daß er so war, wie er war und nicht wie sie sind, hören doch aus keine Gründe. Mag man hervorheben, daß er in seinem vierundsechzigsten Jahre keine Aber zum Politiker gehabt haben könne, da er sich bis dahin von aller Politik sorgfältig fern hielt – es hilft nichts. Mag man nachweisen, daß er nicht in einer Stellung war, die ihn zu thätigem Eingreifen aufgerufen hätte – es hilft nichts. Der Stein des Anstoßes scheint zu sein daß er keine Kriegslieder schrieb, keine Proclamationen erließ, sondern sich von dem Lärm der Tagesgeschichte so viel wie möglich fern hielt. War das strafbar, so war wenigstens sein Grund dabei nicht strafbar. Man urtheile über sein Benehmen, was man Lust hat, aber man urtheile nicht falsch über seine Motive. Ein solches Benehmen der Feigheit oder der Besorgniß vor persönlicher Gefahr zuzuschreiben, ist angesichts all der Zeugnisse, die wir sonst über seinen Charakter haben, eine Infamie. Als der allmächtige französische Eroberer den Herzog von Weimar bedroht – wie wild vor Zorn haben wir Goethe da gesehen! Da handelte es sich um ein persönliches Unrecht, welches er deutlich begreifen konnte und zu bekämpfen gefaßt war. Für seinen fürstlichen Freund wollte er an den Thüren Balladen singen, für die Nation hatte er keine Stimme, und warum? Aus dem einfachen Grunde, weil es keine Nation gab. Er erkannte dagegen nicht, was jetzt klar bewiesen ist, daß die deutschen Stämme damals durch nationale Begeisterung und gemeinsamen Haß gegen Frankreich einig waren, und weil er das nicht erkannte, so glaubte er, eine Verbindung uneiniger Deutscher würde im Kampfe mit einem Napoleon gewiß vernichtet werden. Er hatte Unrecht; der Erfolg hat seine Ansicht als irrig erwiesen, aber aus einer irrigen Ansicht darf man keine Anklage gegen die Ehrlichkeit seiner Gesinnung machen.

In dieser Beziehung verdient das Zeugniß des Historikers und Patrioten Luden alle Beachtung, der den Eindruck einer merkwürdigen Unterredung, die er mit Goethe nach der Schlacht bei Leipzig hatte, in die Worte zusammenfaßt; »In dieser Stunde bin ich aus das innigste überzeugt worden, daß diejenigen im ärgsten Irrthume sind, welche Goethe beschuldigen, er habe keine Vaterlandsliebe gehabt, keine deutsche Gesinnung, keinen Glauben an unser Volk, kein Gefühl für Deutschlands Ehre oder Schande, Glück oder Unglück. Sein Schweigen bei den großen Ereignissen und den wirren Verhandlungen dieser Zeit war lediglich eine schmerzliche Resignation, zu welcher er sich in seiner Stellung und bei seiner genauen Kenntniß von den Menschen und den Dingen wohl entschließen mußte«. Luden hatte Goethe ausgesucht, um ihn für seine »Nemesis«, eine patriotische Zeitschrift, zu gewinnen. Aber dieser rieth ihm ab. »Glauben Sie ja nicht,« sagte er, »daß ich gleichgültig wäre gegen die großen Ideen Freiheit, Volk, Vaterland. Nein; diese Ideen sind in uns; sie sind ein Theil unseres Wesens, und niemand vermag sie von sich zu werfen. Auch liegt mir Deutschland warm am Herzen. Ich habe oft einen bitteren Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im Einzelnen und so miserabel im Ganzen ist. Eine Vergleichung des deutschen Volkes mit andern Völkern erregt uns peinliche Gefühle, über welche ich aus jegliche Weise hinwegzukommen suche, und in der Wissenschaft und in der Kunst habe ich die Schwingen gefunden, durch welche man sich darüber zu heben vermag: denn Wissenschaft und Kunst gehören der Welt an und vor ihnen verschwinden die Schranken der Nationalität, aber der Trost, den sie gewähren, ist doch nur ein leidiger Trost und ersetzt das stolze Bewußtsein nicht, einem großen, starken, geachteten und gefürchteten Volke anzugehören.« Auch von Deutschlands Zukunft sprach er, nur sah er diese Zukunft erst in weiter Ferne. »Uns Einzelnen bleibt inzwischen nur übrig, einem Jeden nach seinen Talenten, seiner Neigung und seiner Stellung, die Bildung des Volkes zu mehren, zu stärken und durch dasselbe zu verbreiten nach allen Seiten, und wie nach unten, so auch, und vorzugsweise, nach oben, damit es nicht zurückbleibe hinter den anderen Völkern, sondern wenigstens hierin voraufstehe, damit der Geist nicht verkümmere, sondern frisch und heiter bleibe, damit es nicht verzage, nicht kleinmüthig werde, sondern fähig bleibe zu jeglicher großen That, wenn der Tag des Ruhmes anbricht.« Verständige Worte das, wie wenig sie auch dem enthusiastischen Patrioten munden mochten! Von diesen allgemeinen Betrachtungen zu der Zeitschrift sich wendend, äußerte Goethe über das »Erwachen und die Erhebung des deutschen Volkes zur Freiheit« seine Bedenken in folgenden Worten: »Ist denn wirklich das Volk erwacht? weiß es, was es will und was es vermag? Haben Sie das prächtige Wort vergessen, das der ehrliche Philister in Jena seinem Nachbar in seiner Freude zurief, als er seine Stuben gescheuert sah und nun, nach dem Abzüge der Franzosen, die Russen bequemlich empfangen konnte? Der Schlaf ist zu tief gewesen, als daß auch die stärkste Rüttelung so schnell zur Besinnung zurückzuführen vermöchte. Und ist denn jede Bewegung eine Erhebung? Erhebt sich, wer gewaltsam aufgestöbert wird? Wir sprechen nicht von den Tausenden gebildeter Jünglinge und Männer, wir sprechen von der Menge, von den Millionen. Und was ist denn errungen oder gewonnen worden? Sie sagen, die Freiheit; vielleicht aber würden wir es richtiger Befreiung nennen; nämlich Befreiung, nicht vom Joche der Fremden, sondern von einem fremden Joche. Es ist wahr, Franzosen sehe ich nicht mehr und nicht Italiäner, dafür aber sehe ich Kosaken, Baschkiren, Kroaten, Magyaren, Kassuben, Samländer, braune und andere Husaren

Das ist bewunderungswürdig weise gesprochen und noch heutzutage der Beachtung werth Wer die Kehrseite nicht übersehen will, der lese die Berichte Goethe's an den Großherzog über die bekannte Maßregelung der Okenschen Isis im J. 1817 (Briefwechsel II., S. 88 ff.); da ist von Entschlossenheit allerdings mehr, von Freiheitssinn aber viel weniger zu merken, als man bei Goethe wünschen und vermuthen möchte. Anm. d. Uebers.. Der so dachte, hätte, auch wenn er in dem Alter des Enthusiasmus gestanden, gewiß nicht zu den Enthusiasten jener Zeit gehört. Vielmehr, wie er auf den Vorwurf, daß er keine Kriegslieder geschrieben, gegen Eckermann erwiderte: »Wie hätte ich die Waffen ergreifen können ohne Haß! und wie hätte ich hassen können ohne Jugend! Hätte jenes Ereigniß mich als einen Zwanzigjährigen getroffen, so wäre ich sicher nicht der Letzte geblieben, allein es fand mich als einen, der bereits über die ersten sechzig hinaus war. Auch können wir dem Vaterlande nicht auf gleiche Weise dienen, sondern jeder thut sein Bestes, je nachdem Gott es ihm gegeben. Ich habe es mir ein halbes Jahrhundert lang sauer genug werden lassen. Ich kann sagen, ich habe in den Dingen, die die Natur mir zum Tagewerk bestimmt, mir Tag und Nacht keine Ruhe gelassen und mir keine Erholung gegönnt, sondern immer gestrebt und geforscht und gethan, so gut und so viel ich konnte. Wenn jeder von sich dasselbe sagen kann, so würd' es um alle gut stehen. Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen! Das wäre meine Art gewesen! Aus dem Bivouak heraus, wo man Nachts die Pferde der feindlichen Vorposten wiehern hört: da hätte ich es mir gefallen lassen! Aber das war nicht mein Leben und nicht meine Sache, sondern die von Theodor Körner. Ihn kleiden seine Kriegslieder auch ganz vollkommen. Bei mir aber, der ich keine kriegerische Natur bin und keinen kriegerischen Sinn habe, würden Kriegslieder eine Maske gewesen sein, die mir sehr schlecht zu Gesicht gestanden hätte. Ich habe in meiner Poesie nie affectirt. Was ich nicht lebte und was mir nicht auf die Nägel brannte und zu schaffen machte, habe ich auch nicht gedichtet und ausgesprochen. Wie hätte ich nun Lieder des Hasses schreiben können, ohne Haß!«

Im Zusammenhang mit seiner Gleichgültigkeit gegen Politik und wesentlich die Ursache davon war sein künstlerischer Ernst. Aus diesen Ernst hat man die höchst seltsame Anklage gegründet, daß er das Leben nur als Künstler angesehen habe. Das ist eine stehende Redensart geworden; wer je etwas von Goethe gehört hat, hat auch davon gehört; mit der Zuversicht fester Ueberzeugung spricht man es aus, und ganze Bände von Tadel meint man darin zusammenzufassen. Prüfen wir die Anklage.

Wenn ein Mann sich einer speciellen Wissenschaft widmet, seine Zeit, Gedanken und Neigungen ihr hingiebt, so erstaunen wir über seine Energie und loben seinen leidenschaftlichen Eifer; aber wir machen ihm aus seinem Ernst kein Verbrechen, wir sagen von einem Liebig nicht, er sehe das Leben nur als Chemiker an, von einem Gauß nicht, er sehe es nur als Mathematiker an, von einem Humboldt nicht, er sehe es nur als Naturforscher an. Daß jede große Thätigkeit den Geist mit Nothwendigkeit von andern Gebieten abziehen muß, wird als selbstverständlich anerkannt. Warum soll nun die Kunst von diesem bedeutenden Vorrechte ausgeschlossen sein? warum der Künstler, der es mit seiner Kunst ernst meint, ausgeschlossen sein von der Toleranz, die man dem Naturforscher willig gewährt? Ich weiß nur einen Grund: die Leute wollen die Kunst nicht für etwas Ernstes gelten lasten. Weil sie unmittelbar zu unserm Genusse beiträgt, soll sie ein Kind des Luxus, des Müßigganges sein, und wer sich nicht zu der Höhe der Auffassung erheben kann, die einen Goethe und Schiller beseelte, ist wohl im Stande, es für eine bloße Redensart und Selbstüberhebung zu halten, wenn diese von der Kunst als der höchsten Form menschlicher Cultur sprechen. Freilich, wer in der Malerei und Sculptur nur Mittel zur Ausschmückung seiner Prachtzimmer und Gallerien, in der Musik nur einen Vorwand für eine Loge im Opernhause, in der Poesie nur eine angenehme Erholung sieht, der mag wohl Recht haben, von Malern, Bildhauern, Musikern und Dichtern nicht eben groß zu denken. Aber ich will gern annehmen, daß meine Leser nicht zu dieser Klasse Menschen gehören, und darf daher von ihrer richtigeren Würdigung erwarten, daß sie für den Anspruch der Kunst, als eine der vielen Formen nationaler Cultur ernstlich anerkannt zu werden, ein günstiges Urtheil fällen. Und dies zugegeben, so folgt auch, daß, je ernster ein Künstler seinen Beruf erfaßt und betreibt, desto größere Ehre ihm gebührt.

Nun war Goethe eine zu tief ernste Natur, um nicht was er angriff, ernst zu nehmen, und während er ein Leben des Genusses und behaglicher Muße hätte führen können, führte er ein ernstes und arbeitsames Leben. »Genuß verachten und der Arbeit leben«, ohne einen andern Lohn als die Thätigkeit selbst, als die Freude an der Entwicklung – das war seiner Natur eine Nothwendigkeit. Er war wissenschaftlich thätig mit einem ausdauernden Fleiß, als müßte er damit sein Brod verdienen, und doch lohnte ihn nicht Gold, nicht Beifall, ja gegen schwere Entmuthigung hatte er anzukämpfen. Auf dem Gebiete der Kunst, dem Hauptgebiete seiner geistigen Strebungen, rang er natürlich nach Vollständigkeit und suchte sich seinen Stoff überall. So wenig man aber einen Beobachter der menschlichen Natur tadeln wird, der in den flüchtigsten Erscheinungen des täglichen Verkehrs, im Theater, im Ballsaal, auf der Straße, wo er geht und steht, Stoff für seine Betrachtungen sammelt, und so wenig man ihm darum nachsagen wird, er sehe das Leben nur als Philosoph an und – das soll ja darin liegen – fühle nicht wie sein Geschlecht, eben so wenig kann man Goethe ein Verbrechen daraus machen, daß er stets bemüht war, aus dem Leben Stoff für seine Kunst zu ziehen.

Nach allem diesen steht für die Behauptung, Goethe habe das Leben nur als Künstler angesehen, die Sache so: entweder hat sie den Sinn, daß er als Künstler nothwendig die Kunst zu seiner Hauptbeschäftigung im Leben gemacht habe, dann ist die Redensart eine Plattheit; oder der Sinn ist, er habe sich von den Mühen und dem Treiben seiner Mitmenschen zurückgezogen, um mit dem Leben zu spielen und es sich als ein angenehmes Schauspiel einzurichten, dann ist die Redensart eine Verleumdung. Mögen meine Leser entscheiden. Zeigt sich Goethe in dem Leben, das ich ihnen hier vorgelegt habe, arm an Wohlwollen, an Liebe, an Teilnahme für andere und anderer Thun? oder zeigt sich seine Natur so eingehüllt in Eigenliebe und so kühl berechnend, daß das Leben ihr ein bloßes Spielzeug je hätte werden können? Wenn die Frage verneint werden muß, dann wolle man doch endlich davon still sein, Goethe habe das Leben nur als Künstler angesehen.

Wie für seine Gleichgültigkeit in politischen Dingen, wird Goethe von einer andern und noch heftigeren Partei wegen seines angeblichen Mangels an Religion angegriffen. Wer Goethe's Werke lesen kann, ohne darin einen tief religiösen Sinn zu gewahren, der nimmt die Bezeichnung Religion ausschließlich für seine eigenen Ansichten in Anspruch, und wer darin die Entdeckung macht, daß Goethe nicht rechtgläubig war, der entdeckt – die Sonne am hellen Mittag. Nie hat er darauf Anspruch gemacht, rechtgläubig zu sein. Seine religiösen Erfahrungen begannen früh, und mit ihnen seine Zweifel. Nun giebt es zwar Leute, die schon den Zweifel für ein Verbrechen halten, aber keine Menschenseele, die einmal gekämpft, die einmal gerungen hat mit quälenden Gedanken, die zu ehrlich gewesen ist, sie leichtfertig zu verjagen oder aus Furcht vor den Folgen des Zweifels in übereilten Schlüssen zu ersticken, wird so hart und unwürdig aburtheilen. Tennyson sagt sehr wahr:

Rechtschaffner Zweifel, glaubt mir, hat in sich
Mehr Glauben als Bekenntnisse verrathen.
Er focht mit Zweifeln, Stärke zu gewinnen,
Er wollte nicht, daß blind sein Urtheil sei,
Sah seiner Brust Gespenst ins Antlitz frei,
Und schlug es nieder. So könnt' er gewinnen,
Daß er mit starkem: Glauben ward belohnet.

Wie wir gesehen haben, änderten Goethe's religiöse Ansichten oft ihre Richtung. Bisweilen neigte er sich zu den strengsten Sekten, bisweilen verlor er sich tief in Skepticismus. Fräulein von Klettenberg näherte ihn dem Glaubensbekenntniß der Brüdergemeinde, aber Lavaters unbewußte Heuchelei und die bewußte Heuchelei und sittliche Versunkenheit der Priester in Italien wandelten allmälig seine Achtung vor den christlichen Kirchen in offene und bisweilen höhnische Verachtung gegen Priester und Pfaffen. In den verschiedenen Zeiten seines langen Lebens äußerte er sich so verschieden, daß ein Pietist und ein Voltairianer ihn beide als den ihrigen betrachten könnten, und beide mit demselben Scheine von Recht. Das Geheimniß dieses Widerspruchs löst sich einfach: er hatte ein tiefes religiöses Gefühl, und zugleich hegte er den schärfsten Zweifel gegen die meisten positiven Glaubenslehren. So kam es, daß er gegen die Angriffe der Encyklopädisten das Christenthum immer vertheidigte; aber wenn ihm bibelgläubige Christen ihren Glauben aufdrängen wollten, so verletzte ihn das, und er wies sie mit einer »nicht-christlichen« Erwiderung ab. Gegen die Encyklopädisten richtet sich seine Aeußerung: »Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich«; auch das tiefe und fruchtbare Wort: »Nur das Gesetz kann uns die Freiheit geben« gehört hierher: wir sind nicht frei, heißt das, wenn wir nichts Höheres über uns anerkennen, sondern wenn wir es anerkennen und, indem wir beweisen, daß ein Höheres in uns lebt, in Demuth uns erhöhen. Als ein Beispiel von der Uebereinstimmung Goethe's und Schiller's in ihren sittlichen Anschauungen und zugleich als bezeichnende Probe der Verschiedenheit ihrer Ausdrucksweise stelle ich die Verse her, mit denen Schiller genau denselben Gedanken ausgedrückt hat:
Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron.
Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sklavensinn, der es verschmäht;
Mit des Menschen Widerstand verschwindet
Auch des Gottes Majestät. Anm. des Uebers.

Andrerseits setzte er der dogmatischen Anschauung als Grundregel entgegen, daß alle Vorstellungen von der Gottheit nothwendig unsere individuellen Vorstellungen sein müssen, die für uns Geltung haben, aber nicht gleichmäßig für andere. Jeder hat seine eigene Religion, muß sie als individuellen Besitz haben; ihr sei jeder treu, das wirkt viel mehr, als wenn sich einer dem andern anzupassen sucht!

Im Innern ist ein Universum auch;
Daher der Völker löblicher Gebrauch,
Daß Jeglicher das Beste, was er kennt,
Er Gott, ja seinen Gott benennt.

»Ich glaube an Gott, sagt er, das ist ein schönes, löbliches Wort, aber Gott anerkennen, wo und wie er sich offenbare, das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden.« Er erklärte sich im tiefsten Sinne des Worts für einen Protestanten, und als solcher wollte er sich »die Freiheit erhalten, sein reines Innere ohne Bezug auf irgend eine bestimmte Religion religiös zu entwickeln«. In Bezug auf die Aechtheit der Bibel war er der Ansicht, nur das sei ächt, was wahrhaft ausgezeichnet sei, mit der reinsten Natur und Vernunft in Einklang stehe und auch jetzt noch zu unsrer höchsten Entwicklung beitrage. Die Evangelien hielt er alle vier für durchaus ächt, »denn, sagt er, es ist in ihnen der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist. Fragt man mich: ob es in meiner Natur sei, ihm anbetende Ehrfurcht zu erweisen, so sage ich: durchaus! Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen Offenbarung des höchsten Princips der Sittlichkeit. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren, so sage ich abermals: durchaus! Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind. Fragt man aber, ob ich geneigt sei, mich vor einem Daumenknochen des Apostels Petrus oder Paulus zu bücken, so sage ich: Verschont mich und bleibt mir mit euren Absurditäten vom Leibe! ... Mag die geistige Cultur immer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will, – über die Hoheit und sittliche Cultur des Christenthums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen. Es wird dahin kommen, daß endlich Alles nur Eins ist. Auch das leidige protestantische Sektenwesen wird aufhören und mit ihm Haß und feindliches Ansehen zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und Schwester. Denn sobald man die reine Lehre und Liebe Christi, wie sie ist, wird begriffen und in sich eingelebt haben, so wird man sich als Mensch groß und frei fühlen und auf ein Bischen so oder so im äußern Cultus nicht mehr sonderlichen Werth legen. Auch werden wir alle nach und nach aus einem Christenthum des Wortes und Glaubens immer mehr zu einem Christenthum der Gesinnung und That kommen.« Er war zweiundachtzig Jahre alt, als er sich so aussprach. Zehn Jahre früher legte er auf das christliche Element noch nicht so positiven Nachdruck. Ein überraschender Anlaß kam ihm damals, sich über religiöse Fragen zu erklären. Nach länger als vierzig Jahren trat die Freundin seiner Jugend, Auguste Stolberg, noch einmal – zum letztenmal – in brieflichen Verkehr mit ihm. In einem Briefe vom 15. Oktober 1822 machte sie den Versuch, ihn zu bekehren. Der Brief liest sich recht eigen, so viel Liebenswürdigkeit, so viel herzlicher Antheil, so viel gutmüthige Christlichkeit spricht daraus. Die Hauptstelle lautet:

»Ich las in diesen Tagen wieder einmal alle Ihre Briefe nach – the songs of other times – die Harfe von Selma ertönte – Sie waren der kleinen Stolberg sehr gut, und ich Ihnen auch so herzlich gut – das kann nicht untergehen, muß aber für die Ewigkeit bestehen: diese unsere Freundschaft – die Blüthe unserer Jugend, muß Früchte für die Ewigkeit tragen, dachte ich oft – und so ergriff es mich beim letzten Ihrer Briefe, und so nahm ich die Feder. – Sie bitten mich einmal in Ihren Briefen, »Sie zu retten«; – nun maße ich mir wahrlich nichts an, aber so ganz einfältigen Sinnes bitte ich Sie, retten Sie sich selbst ... Ich habe den einen Wunsch, einen dringenden Wunsch ausgesprochen, den ich so oft wollte laut werden lassen: o ich bitte, ich flehe Sie, lieber Goethe, abzulassen von Allem, was die Welt Kleines, Eitles, Irdisches und nicht Gutes hat, – Ihren Blick und Ihr Herz zum Ewigen zu wenden. – Ihnen ward viel gegeben, viel anvertraut, wie hat es mich oft geschmerzt, wenn ich in Ihren Schriften fand, wodurch sie so leicht andern Schaden zufügen. – O, machen Sie das gut, weil es noch Zeit ist, – Bitten Sie um den hohem Beistand und er wird Ihnen, so wahr Gott ist, werden. – Ich dachte oft, ich könnte nicht ruhig sterben, wenn ich nicht mein Herz so gegen den Freund meiner Jugend ausgeschüttet hätte – und ich denke, ich schlafe ruhiger darum ein, wann mein Stündlein schlägt.« Nach einigen raschen Rückblicken auf ihre Lebensschicksale fährt sie fort: »So gerne nähme ich auch die Hoffnung mit mir hinüber, Sie, lieber Goethe, auch einst da kennen zu lernen. Ich bete für Sie, daß Sie es ganz erfahren mögen, wie freundlich und gütig der Herr ist, wie glücklich die auf ihn trauen ... Ich reiche Ihnen freundschaftlich meine Hand. Ihr Andenken ist nie in mir erloschen und meine Theilnahme für Sie immer lebendig geblieben. Meine Wünsche für Ihr wahres Wohl auch. Ich will, so lange ich lebe, noch recht für Sie beten. Mögten Sie sich darin noch recht mit mir vereinigen – Mein Erlöser ist ja auch der Ihrige, es ist auch in keinem andern Heil Seligkeit zu finden. Ob Sie wohl noch an mich dachten? Bitte, schreiben Sie mir ein paar Worte.«

Goethe antwortete, freundlich abwehrend, liebevoll schonend, im Geiste achter Humanität; sein Brief ist nach Form und Inhalt so bezeichnend, daß ich ihn wörtlich gebe:

»Von der frühsten, im Herzen wohl gekannten, mit Augen nie gesehenen theuren Freundin endlich wieder einmal Schriftzüge des traulichsten Andenkens zu erhalten war mir höchst erfreulich-rührend; und doch zaudere ich unentschlossen was zu erwidern sein möchte. Lassen Sie mich im Allgemeinen bleiben, da von besonderen Zuständen uns wechselseitig nichts bekannt ist.

»Lange leben heißt gar vieles überleben, geliebte, gehaßte, gleichgültige Menschen, Königreiche, Hauptstädte, ja Wälder und Bäume die wir jugendlich gesäet und gepflanzt. Wir überleben uns selbst und erkennen durchaus doch dankbar, wenn uns auch nur einige Gaben des Leibes und Geistes übrig bleiben. Alles dieses Vorübergehende lassen wir uns gefallen; bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegenwärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit.

»Redlich habe ich es mein Lebelang mit mir und andern gemeint und bei allem irdischen Treiben immer auf's höchste hingeblickt; Sie und die Ihrigen haben es auch gethan. Wirken wir also immerfort so lang es Tag für uns ist, für andere wird auch eine Sonne scheinen, sie werden sich an ihr hervorthun und uns indessen ein helleres Licht erleuchten.

»Und so bleiben wir wegen der Zukunft unbekümmert! In unseres Vaters Reiche sind viele Provinzen, und da er uns hier zu Lande ein so fröhliches Ansiedeln bereitete, so wird drüben gewiß auch für beide gesorgt sein; vielleicht gelingt alsdann was uns bis jetzo abging, uns angesichtlich kennen zu lernen und uns desto gründlicher zu lieben. Gedenken Sie mein, in beruhigter Treue ...

»Vorstehendes war bald nach der Ankunft Ihres lieben Briefes geschrieben, allein ich wagte nicht es wegzuschicken, denn mit einer ähnlichen Aeußerung hatte ich schon früher Ihren edlen wackern Bruder wider Wissen und Willen verletzt. Nun aber, da ich von einer tödtlichen Krankheit in's Leben wieder zurückkehre, soll das Blatt dennoch zu Ihnen, unmittelbar zu melden: daß der Allwaltende mir noch gönnt, das schöne Licht seiner Sonne zu schauen; möge der Tag Ihnen gleichfalls freundlich erscheinen und Sie meiner im Guten und Lieben gedenken, wie ich nicht aufhöre mich jener Zeiten zu erinnern, wo das noch vereint wirkte, was nachher sich trennte.

»Möge sich in den Armen des allliebenden Vaters alles wieder zusammen finden.«

Von Gott hatte Goethe dieselbe Vorstellung wie Spinoza: er war Pantheist, nur war sein Pantheismus kein mathematischer wie der Spinoza's, sondern ein poetischer. Das ganze Universum nahm er als göttlich, nicht als eine leblose Masse, sondern als die lebendige Offenbarung göttlicher Thatkraft, die immer fort sich wirksam erweist. Paulus sagt, Gott lebt in allen Dingen und alles lebt in ihm. Die Wissenschaft lehrt uns immer aufs neue und nachdrücklich, daß die Welt stets im Werden ist. Die Schöpfung geht fort; nicht ist die Welt ein für allemal geschaffen als ein fertiges Ding, das sich nun vergnüglich ansieht, sie ist geschaffen und wird immer noch geschaffen. Die Urkräfte des Lebens sind so frisch und stark wie vor Ewigkeiten und wirken unter neuen Formen durch höhere und immer höhere Wandlungen fort.

Goethe's Religion war überwiegend concret, fromm verehrte er die Wirklichkeit; er hielt die Wirklichkeit an sich für heiliger, als die Dichtung sie je machen könnte. Die Menschennatur war ihm etwas Heiliges und der Menschenleib ein Tempel des Heiligsten. Das ist eine griechische Anschauung, aber auch der Lehre Spinoza's verwandt. Wie dieser die Menschennatur zu begreifen strebte, statt wie andere sie zu verwünschen oder zu verspotten, so strebte auch Goethe vor allem die Außenwelt zu begreifen, weil sie ihm göttliche Offenbarung war. Der geheimnißvolle Wechsel von Geburt und Tod, die zarten Regungen des Lebendigen, wie es sich erschließt und jedes nach seiner Ordnung sich entwickelt, die immerwährende Bewegung am »Webstuhl der Zeit«, welcher »der Gottheit lebendiges Kleid wirkt« – darin war für ihn das ewig neue Gotteswort. Die Gewißheit der Einheit des Menschengeistes mit der Welt war die Grundlage wie seiner Weltanschauung im Allgemeinen, so auch seiner religiösen Ueberzeugung.

War' nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt' es nie erblicken:
Lag' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?! –

In diesem kurzen Worte ist Goethe's religiöse Grundanschauung zwar natürlich nicht erschöpft, aber im kleinsten Raum klar abgespiegelt.

Mit der Auffassung von Gott hing seine sittliche Anschauung eng zusammen. Sein Gottesdienst war Naturdienst, seine Sittenlehre eine Idealisirung der Menschheit. Der Mensch war ihm die höchste Offenbarung des Göttlichen auf Erden, und darum die höchste Offenbarung der Menschheit sein sittliches Ideal. Zuerst müssen wir entsagen, uns auf das Mögliche beschränken lernen; in dieser ersten Beschränkung liegt dann der Keim zur Aufopferung für unsere Mitmenschen, und aus der Liebe zu unsern Mitmenschen entspringt wahre Frömmigkeit. »Wie gewisse Naturerscheinungen, vom sittlichen Standpunkte angesehen, uns zu der Annahme zwingen, daß es ein ursprüngliches Böses giebt, so (sagt er) zwingen uns wieder manche andere Erscheinungen zu der Annahme eines ursprünglichen Guten. Wenn diese Quelle des Guten in's Leben einströmt, so nennen wir sie Frömmigkeit, wie es die Alten thaten, die sie als die Grundlage aller Tugend ansahen. Sie ist die Kraft, welche der Selbstsucht das Gegengewicht hält, und wenn sie durch ein Wunder plötzlich für einen Augenblick in allen Menschen wirksam sein könnte, so wäre die Erde auf einmal von allem Bösen frei«.

Es würde ein Leichtes sein, aus seinen Werken eine Reihe von Sätzen zusammenzustellen, in denen sich die edelste Sittlichkeit ausspricht; aber seine Werke sind durchweg mit einer Sittlichkeit gesättigt, die zu jedem unbefangenen Herzen spricht, und zeichnen sich mehr noch durch die Freiheit von allen gemeinen, niedrigen, selbstsüchtigen und engherzigen Gedanken aus, als daß sie unmittelbar Moral lehrten. Das Gerede von Unsittlichkeit, welches sich bisweilen gegen sie erhoben hat, stammt nur von jener Lieblosigkeit, die jeden Andersdenkenden verklagt. Wer Goethe's Werke lesen kann und nicht fühlt, daß der sie geschrieben von den edelsten Empfindungen beseelt und von der reinsten Liebe für die Menschheit durchglüht war, dem habe ich nichts zu sagen als das Wort im Faust: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst.« Ich hörte in Berlin eine vorzügliche Geschichte, wie Carlyle bei einer Tischgesellschaft das niedrige Gerede über Goethe's Irreligiosität in seiner eigenthümlich sarkastischen Weise zur Ruhe brachte. Gewisse Frömmler bedauerten unter vielen Stoßseufzern, daß ein so großer Geist, ein so göttliches Genie sich nicht dem Dienste der christlichen Wahrheit gewidmet habe u. dgl. m. Carlyle schwieg eine Zeit lang, zerrte ingrimmig an seiner Serviette; die ihn kannten, sahen, daß etwas kommen würde; endlich sagte er langsam und nachdrücklich: »Meine Herren, kennen Sie die Geschichte von dem Manne, der die Sonne heruntermachte, weil er sich nicht die Cigarre daran anstecken könne?« Diese Bombe brachte das feindliche Feuer vollständig zum Schweigen. Nicht ein Wort wurde erwidert. »Ich hätte ihn küssen mögen!« rief der enthusiastische Künstler aus, der mir diese Geschichte erzählte. Anm. des Verf.

Wessen man ihn aber auch sonst beschuldigt haben mag, nie hat man ihm vorgeworfen, daß er jemals in dem Streben ermüdet sei, sich selbst allseitig zu entwickeln und die Bildung seiner Nation zu befördern. In dem Bilde seiner späteren Lebensjahre ist etwas wahrhaft Großartiges, so viel Ruhe und doch so viel Thätigkeit. Statt mit den Jahren zu erkalten, wird seine Theilnahme an der Welt von Jahr zu Jahr lebhafter; jede neue wissenschaftliche Entdeckung, jede neue Erscheinung in der Literatur, jeden Fortschritt der Kunst erfaßt er mit der Lernbegierde eines Kindes und ist immer bereit, mit Wort und That die Strebenden zu fördern. Die schon erwähnten Auszeichnungen Boisserée's geben dafür die zahlreichsten Belege.

Im Jahre 1811 suchte Boisserée im Interesse seines Werkes über den Kölner Dom die Bekanntschaft Goethe's; es kam darauf an, den »alten Heiden« wieder für die Gothik zu gewinnen, den Lobredner des Straßburger Doms nun für den Kölner Dom zu interessiren. Es gelang vollkommen, und da der jüngere Freund mit Verehrung kam und der ältere die Tüchtigkeit des andern rasch respectiren lernte, so erwuchs zwischen ihnen trotz der Verschiedenheit der Jahre, trotz der räumlichen Trennung bald ein schönes inniges Verhältniß, welches bis zu Goethe's Tode fortdauerte. Auch hier wieder zeigt sich die ganze Herzlichkeit der Goethe'schen Natur; ein menschlich reines Wohlwollen, eine Herzensgüte und Herzenswärme tritt uns entgegen, die das frühere Gerede von Eiseskälte und Selbstsucht und steifer Vornehmheit geradezu unbegreiflich erscheinen läßt.

Hören wir Boisserée selbst, wenigstens die erste Eroberung soll er uns erzählen. Unterm 3. Mai 1811 schreibt er seinem Bruder: »Ich komme eben von Goethe, der mich recht steif und kalt empfing; ich ließ mich nicht irre machen und war wieder gebunden und nicht unterthänig. Der alte Herr ließ mich eine Weile warten, dann kam er mit gepudertem Kopf, seine Ordensbänder am Rock; die Anrede war so steif vornehm als möglich. Ich brachte ihm eine Menge Grüße; »recht schön«, sagte er. Wir kamen gleich auf die Zeichnungen, das Kupferstichwesen u. s. w. Ja, ja, schön, hem, hem. Darauf kamen wir an das Werk selbst, an das Schicksal der alten Kunst und ihre Geschichte. Ich hatte mir einmal vorgenommen, der Vornehmigkeit eben so vornehm zu begegnen, sprach von der hohen Schönheit und Vortrefflichkeit der Kunst im Dom so kurz als möglich, verwies ihn darauf, daß er sich durch die Zeichnungen ja selbst davon überzeugt haben würde, – er machte bei allem ein Gesicht, als wenn er mich fressen wollte. Erst als wir von der alten Malerei sprachen, thaute er etwas auf; bei dem Lob der neugriechischen Kunst lächelte er«; dann machen Gespräche über gemeinsame Freunde den alten Herrn noch freundlicher, das Lächeln wird häufiger, er ladet Boisserée zu Tische ein. Zwei Tage darauf schreibt dieser: »Mit dem alten Herrn geht's mir vortrefflich; bekam ich auch den ersten Tag nur einen Finger, den andern hatte ich schon den ganzen Arm«. Kunstgespräche der verschiedensten Art über die Cornelius'schen Zeichnungen zum Faust führten zu einer gründlichen Prüfung der B.'schen Zeichnungen vom Kölner Dom. »Alle Einwendungen des Alten gegen die eigene vaterländische Erfindung der gothischen Baukunst verstummten, und alles, was er gegen den Straßburger Münster zu sagen hatte, ließ er bald fallen. Er brummte, als ich bei ihm mit den Zeichnungen allein war, wirklich zuweilen wie ein angeschossener Bär; man sah, wie er in sich kämpfte und mit sich zu Gericht ging, so Großes je verkannt zu haben. Je tiefer wir in die Untersuchung der Thürme kamen, desto höher stieg sein Erstaunen«. Die Einzelheiten »drangen ihm die lebhafteste Bewunderung ab, und es freute mich, daß er sich von selbst grade hier an das dickste verwickeltste Ende machte, worin so tiefe Schönheit und Geist verborgen liegt, und wozu ich noch immer so wenige Menschen habe bewegen können; da sieht man doch, wo der rechte Sinn zu Hause ist« ... »Er lobte recht mit aller Wärme und allem Gewicht meine Arbeit. Ich hatte das erhebende Gefühl des Sieges einer großen schönen Sache über die Vorurtheile eines der geistreichsten Menschen, mit dem ich recht eigentlich einen Kampf hatte bestehen müssen. Ich gewann hauptsächlich dadurch, daß ich rein die Sache wirken ließ und immer nur auf die Gelegenheit bedacht war, wann ich sie am besten wirken lassen konnte; er äußerte sich auch ganz demgemäß über das Werk« ... »Ich fühlte die uns im Leben so selten beschiedene Freude, einen der ersten Geister von einem Irrthum zurückkehren zu sehen, wodurch er an sich selber untreu geworden war; ich sagte ihm, wie hoch ich den Beifall schätze, von ihm, der diese Kunst gewissermaßen ein für allemal abgefertigt gehabt, wie sehr mich das entschädigte für den leider unentbehrlichen Beifall der großen Welt, zumeist der Fürsten, die gewöhnlich jedem Hanswurst und Schauspieler denselben schenken. Ich sprach wie eben meine Stimmung mir eingab, ich weiß nicht, wie ich die Worte setzte, sie mußten meine Bewegung kund geben, denn der Alte wurde ganz gerührt davon, drückte mir die Hand und fiel mir um den Hals, das Master stand ihm in den Augen.« Später sagte ihm Boisserée, »es stehe ihm so gut an, daß er in seinem Alter für alles von Bedeutung, sei es auch seiner bisherigen Ansicht fremd, doch immer jugendlich empfänglich geblieben; das gefiel ihm«.

So knüpfte sich in wenigen Tagen ein enges Freundschaftsverhältniß; Boisserée konnte sich rühmen, den großen Mann so rasch erobert zu haben wie Schiller zwanzig Jahre vorher; da ist von Excellenz und dem sonstigen Kanzleistil nicht mehr die Rede; schon in einem der ersten Briefe spricht B. ganz in dem Tone eines berechtigten jungen Freundes: »Sie haben es mir zu deutlich gezeigt, daß Sie mich lieb gewonnen. Ja, meine ganze Denkart und Ansicht der Welt, so verschieden sie sein mag, scheint sich mit der Ihrigen freundlich verbinden und Ihnen in manchen Studien erfreulich sein zu können. Gerade diese stete Forderung dessen, was da wirklich und leibhaftig ist, bei allem Suchen und Erkennen eines höheren geistigen Lebens, bei allem Spiel einer freien, schöpferischen Einbildungskraft, bei aller Innerlichkeit eines tiefen Gefühls, gerade dieser treue ruhige Sinn für menschliches Maß und Wahrheit überhaupt, den ich bei keinem unserer ausgezeichneten Geister, die ich kennen gelernt, so gesunden, wie bei Ihnen, eben das ist es, worin ich einen Grund zu entdecken geglaubt, aus dem mir trotz meinem ungeheuren Abstand von Ihren großen Eigenschaften ein freundschaftliches Verhältniß mit Ihnen erwachsen kann, das zur Erhebung meines ganzen Treibens und Thuns wie ein edler Wein wirken und Ihnen eben dadurch schon zu einem Wohlgefallen gedeihen muß ... Wie sollte mir, auch schon bei meiner Liebe für das deutsche Alterthum, nicht die ganze Seele gegen Sie erfüllt sein? – der Sie, der erste deutsche Mann seiner Zeit, am frühesten und mächtigsten deutsche Sinnesart und Weise wieder ins Leben eingeführt und dadurch alles Gute, was in diesen Tagen ähnliches oder für die Erkennung und Erhaltung der Werke unserer Voreltern geschieht, zuerst begründet haben, und wie sollte ich mich scheuen, da ich bei der Freiheit der Mittheilung, die Sie mir gewährt, überzeugt bin, nicht mißverstanden zu werden«.

Noch eine andere Stelle mag zur Charakterisirung dieses Freundschaftsverhältnisses hier angeführt sein. Bald nachher erwähnte Goethe in seiner Lebensbeschreibung die Bemühungen B.'s um die deutsche Baukunst mit so freundlicher Anerkennung, daß dieser ihm in tiefer Rührung dankte (20. December 1812): »Ihre feste, ernste Liebe leuchtet mir freundlich und ermunternd im dunkel wogenden Strom der Zeit, wie ein unverlöschbares Licht aus ferner höherer Heimath. Solche Theilnahme bei. dem Bewußtsein einer großen, schönen Sache giebt Zuversicht und Hoffnung, trotz der großen Schwierigkeiten doch das Ziel zu erreichen, dem ich mein Leben gewidmet habe, und noch an mir selber auf eine andere Art das gute Wort zu erfahren, welches Sie von sich mit einem wahrhaft heiligen Gefühl der Verehrung für das gemeinsame Göttliche im Menschen aussprechen. Eben dieser empfängliche herzliche Sinn für die ganze Sie umgebende Welt macht Ihr Leben in Hinsicht der Bildung, der Sitten und Denkart seiner Zeit recht eigentlich zum wahrsagenden Spiegel derselben. Es gleicht einem klaren, tiefen Strom, den wir allwärts wo er vorüberzieht, ein Bild aufnehmen sehen von der Landschaft, von den Menschen, ihrem Treiben und seinem Verkehr mit ihnen, während er uns in seinen stillen Thälern, von dunklen Felsen eingeschlossen oder vom gestirnten Himmel umwölbt, seine eignen Geheimnisse kund giebt. Diese Bekenntnisse sittlich-religiöser Eröffnungen sind recht erwünscht in einer Zeit, wo jeder in seinen Busen greift nach dem, was einzig Bestand hat über Wechsel und Wandel. Es kann nichts lehrreicher und wirksamer sein, da Sie uns früher immer nur die Wahrheit in der Hülle der Schönheit vorgeführt, als daß Sie ihr zur Seite nun auch die ernste, nackte Wahrheit aufdecken. Denn Sie allein unter den Deutschen haben die Gabe, alles was Sie wollen, selbst das schwerste und geheimnißvollste, was in den engen Kreis der Frommen und Gelehrten gebannt schien, zur allgemeinen Betrachtung und Erkenntniß zu bringen.«

Damit muß es genug sein; das Weitere mag man bei Boisserée selbst nachsehen, namentlich in dem Tagebuche über die Zeit, welche er mit Goethe 1815 zusammen am Rhein verlebte. In diesen Auszeichnungen ist über die vielseitigen literarischen sowohl wie persönlichen Beziehungen Goethe's ebensoviel unterrichtendes wie über seine edle und liebevolle Natur erfreuliches zu finden. Ein schönes Wort G.'s über Schiller verdient fortzuleben: »er war der letzte Edelmann, möchte man sagen, unter den deutschen Schriftstellern, sans peur et sans reproche.«

In die Einzelheiten seiner Kunstbestrebungen und der sich daran knüpfenden Studien, für welche die B.'schen Aufzeichnungen ein wahres Repertorium sind, dürfen wir nicht eingehen, weil das zu weit führen würde. Sein Streben war fortdauernd an Thätigkeit und Vielseitigkeit das eines Mannes, der noch viele Jahre vor sich zu haben glaubte. Noch mit siebzig Jahren war Goethe jünger als mancher mit fünfzig, und im zweiundachtzigsten Jahre besprach er den großen Streit zwischen Cuvier und Geoffroy St. Hilaire über vergleichende Zoologie in einer wissenschaftlichen Abhandlung, die wenige Menschen in ihrer besten Zeit hätten schreiben können. Aber nach Ansicht einiger Physiologen ist der Mensch mit siebenzig Jahren überhaupt noch nicht alt. Flourens z. B. behauptet, zwischen dem fünfundfünfzigsten und dem siebzigsten Jahre sei der Mensch in seiner männlichen Periode, und Reveillé Parise erklärt, zwischen dem fünfundfünfzigsten und fünfundsiebzigsten Jahre, und bisweilen noch später, erlange der Geist eine wahrhaft auffallende Spannkraft, Festigkeit und Stärke; grade da stehe der Mensch auf der Höhe seiner Kraft ( c'est véritablement l'homme ayant atteint toute la hauteur de ses facultés). Auch bietet die Geschichte der Wissenschaft und Literatur einige schlagende Beispiele von geistiger Thätigkeit im hohen Alter. Ein Beispiel von lange fortgesetzter dichterischer Befähigung ist Sophokles, der mit achtzig Jahren sein Meisterwerk geschrieben haben soll. Die Reflexion behält oft ihre Kraft und scheint sie durch Vermehrung des Stoffes sogar noch zu steigern, aber mit der schöpferischen Thätigkeit ist es anders. Doch zeigt Goethe selbst in seinen spätesten Jahren eine außerordentliche Fruchtbarkeit. In seinem einundachtzigsten Jahre vollendete er den zweiten Theil des Faust, in seinem fünfundsechzigsten schrieb er den West-Oestlichen Divan, und wenn diese Werke auch denen seiner früheren Jahre keineswegs gleichzustellen sind, so müssen sie als Früchte, die eine untergehende Sonne gezeitigt hat, doch wunderbar genannt werden.

Der West-Oestliche Divan war ihm eine Erholung von den Wirren der Zeit. Statt sich an der europäischen Politik zu ärgern, erfreute er sich an dem Studium der Geschichte und Poesie des Orients. Er fing sogar an, orientalische Sprachen zu treiben, und hatte sein Vergnügen daran, die zierlichen Schriftzüge der arabischen Sprache nachmachen zu können. Hammer, de Sacy und andere hatten ihm hinreichenden Stoff gegeben, und seine dichterische Thätigkeit gab dem Stoff bald die Form. Aber schmückte er sich auch mit dem Turban und schlug den Kaftan über die Schultern, ein wahrer Deutscher blieb er doch. Mochte er Opium rauchen und Foukah trinken, er träumte deutsch und sang deutsch. Das giebt dem »Divan« seinen eigenthümlichen Charakter: er ist »west-östlich«, die Bilder darin gehören dem Osten, die Empfindungen dem Westen an. Grade wie er in den römischen Elegien sich in die klassische Vergangenheit geworfen hatte und deren Formen mit unübertroffener Leichtigkeit und vollem Zauber wiedergab und dabei doch niemals original und deutsch zu sein aufhörte, ebenso bleibt auch in dieser Welt des Ostens der Dichter des Westens unverkennbar. Er folgt der Karavane auf ihrem langsamen Zuge durch die Wüste, hört Bülbül, die Nachtigall des Ostens, am Rande sprudelnder Springbrunnen ihr melancholisches Lied singen, lauscht voll Andacht den Lehren Mahomed's und entzückt sich an Hafisens Klängen. Die Vereinigung der beiden Elemente ist höchst glücklich. In der deutschen Literatur begann damit eine neue Epoche. Die Lyriker folgten plötzlich seinem Beispiele, ließen ihre Kriegslieder und sangen die Gesänge des Ostens. Auf den Spuren des deutschen Hafis wanderten Rückert und Platen unter Rosen und Gazellen, und andere Dichter ahmten ihnen willig nach. Sollte es nicht scheinen, als läge im deutschen Charakter eine angeborene Abneigung gegen politische Tätigkeit, da in den beiden großen Perioden der deutschen Geschichte, in den Kreuzzügen und in den Freiheitskriegen, die Dichter Deutschlands aus der stürmischen Betrachtung ihrer Zeit flohen und in einem ganz verschiedenartigen Gedankenkreise sich poetische Eingebung suchten? Die Minnesänger wußten von nichts als Liebe und Lust zu singen, während rings um sie her der Waffenlärm ritterlicher Thaten erklang, und die neueren Dichter schöpften ihre Begeisterung nur aus der Welt der Romantik und des Orients, während »um der Welt alleinigen Besitz« der Kampf tobte. Dies ist um so mehr zu beachten, als man Goethe heftig getadelt hat, daß er »im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten« aus der Politik sich geflüchtet, und doch sollte, was man an den jungen Dichtern lobt, bei dem Dichtergreise wohl Entschuldigung finden.

Der West-Oestliche Divan ist in zwölf Bücher getheilt, sehr verschieden an Inhalt und dichterischem Werthe. Alles in allem läßt sich auf Goethe anwenden, was er von Hafis sagt:

Sei das Wort die Braut genannt,
Bräutigam der Geist;
Diese Hochzeit hat gekannt,
Wer Hafisen preist.

Wie viel er von eigenen Erlebnissen in die östlichen Formen gekleidet hat, wissen wir nicht. An einer Stelle, im Buche Suleika, spricht er offenbar von sich selbst; sehr zierlich läßt er den Reim das verrathen, der statt des angenommenen Namens Hatem den wirklichen »Goethe« verlangt:

Du beschämst, wie Morgenröthe
Jener Gipfel ernste Wand,
Und noch einmal fühlet Hatem (Goethe)
Frühlingshauch und Sonnenbrand.

Die Anmuth, mit der viele von diesen Gedichten leicht hingeworfen sind, die bewundernswerthe Lebensweisheit, die so heiter aus ihnen hervorlächelt, der Wechsel von ruhiger, heißer Mittagsstille mit der sorglosen Lustigkeit der Weinlaune – das alles muß ich mich beschränken blos anzudeuten. Zur Probe eine kurze Stelle:

Trunken müssen wir alle sein!
Jugend ist Trunkenheit ohne Wein;
Trinkt sich das Alter wieder zur Jugend,
So ist es wundervolle Tugend.
Für Sorgen sorgt das liebe Leben,
Und Sorgenbrecher sind die Reben.

Diesen Gedichten hat er ein Buch geschichtlicher Anmerkungen beigefügt, die allerdings ein gewissenhaftes Studium der orientalischen Dichtung bekunden, aber nicht weniger beweisen, wie unendlich seine Prosa hinter seiner Poesie zurückstand. Aus jeder Zeile spricht das Alter.



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