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Kapitel XXVII.
Nummer Fünfzehn.

Als Yootha am nächsten Morgen erwachte, hatte sie starke Kopfschmerzen. Sie besann sich nur dunkel auf das, was am vergangenen Abend geschehen war, und je mehr sie sich bemühte, ihre Erinnerung aufzufrischen, um so wirrer wurde es in ihrem Kopf.

Die Vorhänge waren herabgezogen, und das Zimmer war noch fast ganz dunkel, da man sie noch nicht geweckt hatte, hatte. Etwa eine Stunde lag sie noch in unruhigem Halbschlaf; dann kam ihr langsam die Frage zum Bewußtsein, wie spät es sein könnte. Durch das offene Fenster hörte sie den Straßenverkehr und schloß daraus, daß es schon spät sein müßte. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr: sie war um vier Uhr morgens stehen geblieben.

Sie griff nach der elektrischen Klingel an ihrem Bett und nach wenigen Minuten erschien eines der Hotelmädchen.

»Was ist die Uhr?« fragte Yootha.

»Beinahe eins, Miß.«

»Beinahe eins! Warum bin ich denn nicht geweckt worden? Warum hat man mir nicht meinen Tee gebracht?«

»Ich will nachfragen, Miß,« sagte das Mädchen und verließ das Zimmer, dessen Tür sie hinter sich schloß.

Sie kam bald zurück und sagte, Mrs. Mervyn-Robertson hätte vor ihrer Abreise gesagt, daß Miß Hagerston sehr müde wäre und nicht gestört werden dürfte.

»Vor ihrer Abreise? Was heißt das? Wohin ist sie abgreift?« rief Yootha.

»Ich habe keine Ahnung, Miß. Sie hat heute früh das Hotel mit ihrer Kammerjungfer verlassen, und die beiden Herren, die mit ihr waren, sind auch fort.«

»Sie meinen fortgereist? Mit ihrem Gepäck?«

»Ja, Miß.«

Yootha fuhr in ihrem Bett empor.

»Das ist ganz unbegreiflich!« rief sie aus. »Sie haben gestern abend kein Wort davon gesprochen. Haben sie keine Nachricht für mich hinterlassen?«

»Nein, Miß. Ich habe mich danach erkundigt.«

Eine Flut von Gedanken, Zweifeln und argwöhnischen Vermutungen schoß durch Yoothas Hirn. Oh, wenn sie doch genau gewußt hätte, was sich in der vergangenen Nacht ereignet hatte! Aber je mehr sie sich anstrengte, ihre Gedanken darauf zu konzentrieren, um so unfähiger fühlte sie sich, irgend etwas in ihr Gedächtnis zurückzurufen. Sie konnte sich erinnern, am Nachmittag und Abend im Kasino gespielt und gewonnen zu haben – dann war ihre Erinnerung ein leeres Blatt. Sie konnte sich nicht einmal mehr darauf besinnen, wo oder mit wem oder ob sie überhaupt soupiert hatte!

Dann, auf einmal, stand sie mit Jessica und ihren Freunden die die Bank in Dieppe gesprengt hatten, hatte Jessica immer die Rolle ihres Bankiers gespielt. Um dem jungen Mädchen alle Unbequemlichkeiten zu ersparen, wie sie sagte, hatte sie Yootha vorgeschlagen, ihr soviel Geld für das Spiel vorzustrecken, als sie brauchen würde, und dafür ihre Gewinnsummen in Verwahrung genommen. Jeden Morgen war sie zu Yootha gekommen und hatte ihr die genaue Summe genannt, die sie für Yootha aufbewahrte und ihr außerdem jede Summe gegeben, die sie verlangte. Aber Yootha besaß keine Rechnung oder Quittung oder überhaupt etwas Schriftliches darüber. Sie hatte der Freundin volles Vertrauen entgegengebracht und jetzt –

Sie sah alles ein, und der Angstschweiß trat ihr auf die Stirn. Jessica hatte sie verlassen und das ganze, viele Geld, das Yootha in der letzten Zeit gewonnen hatte, mitgenommen. Hätte sie nicht so viel Glück im Spiel gehabt, so hätten Jessica und ihre Freunde sich gewiß schon längst davongemacht. Jetzt hielten sie wohl den rechten Augenblick für gekommen! Und was konnte sie tun? Wenn sie das Geld zurückverlangte, würde Jessica natürlich sagen, daß sie nichts davon wüßte.

Das Frühstück wurde ihr ins Zimmer gebracht, aber sie rührte es nicht an. Dann kam plötzlich ein furchtbares Gefühl der Verlassenheit über sie. Sie sah sich allein in Monte Carlo, wo sie niemanden kannte, außer den Menschen, mit denen Jessica sie bekannt gemacht hatte, und die sie gar nicht wiedersehen wollte. Sie hatte allerdings soviel Geld, um die Heimreise zu bezahlen, aber hatte sie genug, um die Rechnung in diesem sehr teuren Hotel zu begleichen, in dem sie schon zwei Wochen wohnte? Und dem Geschäftsführer einen Scheck anzubieten, konnte zu der Unannehmlichkeit führen, daß er die Annahme verweigerte.

Sie kleidete sich so schnell wie möglich an und ging in die Stadt hinaus. Die Sonne strahlte, das Orchester spielte die schönsten Stücke, und überall drängten sich feingekleidete Männer und Frauen. Als sie ziellos durch die schönen Gärten des Kasinos schlenderte, bemerkte sie, daß sie Aufmerksamkeit und Bewunderung erregte.

Ihr Blick fiel auf den Eingang zum Kasino. Ein Strom von Menschen ging aus und ein. Die Musik spielte einen Jazztanz, den sie liebte, und ließ ihre Pulse schneller schlagen. Für einen Augenblick machte ihre Verzweiflung einer fröhlicheren Stimmung Platz. Und dann begann das Spielfieber, das eine Zeitlang vergangen war, sich aufs neue zu regen. Das Spiel mußte jetzt in vollem Gange sein, überlegte sie sich. Sie stellte sich die Menge vor, die sich um den Roulettetisch drängte. Sie hörte das ewige »Faites vos jeux« und »Rien n'va plus« der Croupiers und sah die Kugel fröhlich umhertanzen. Sie sah, wie die Nummern sich langsamer bewegten, wie sie stillstanden und hörte den Croupier rufen: »Le numero quinze!«

Sie öffnete ihre Handtasche, zog das Geld daraus hervor und begann es sorgfältig zu zählen. Es war alles an Bargeld, was sie besaß. Sicherlich genügte es nicht, um ihre Hotelrechnung zu bezahlen, die bald vorgelegt werden mußte. Das Gewinnen am Spieltisch war ihr zur Gewohnheit geworden und sie sehnte sich danach, wieder zu spielen. Das Kasino mit seiner heißen Atmosphäre, seinen parfümierten Frauen, seinen Haufen von Scheinen, seinem klingenden Gold schien sie zu locken und zu rufen; ihr war, als müßte sie dort ihre leeren Taschen füllen. Einen Augenblick dachte sie an Preston, an ihre letzte Begegnung und seine ernste Warnung. Dann schüttelte sie den unangenehmen Gedanken ab, steckte ihr Geld in die Handtasche und ging mit schnellen Schritten auf das Kasino zu.

Sie hatte einige Mühe, einen Platz zu finden. Einige Minuten lang beobachtete sie das Spiel. Dann setzte sie auf die Nummer, die ihr im Garten eingefallen war – le numero quinze.

Sie kam heraus.

Sie setzte wieder darauf und schwelgte von neuem im Gefühl des Gewinnes. Dann begann sie nach ihrer Gewohnheit hoch zu spielen und vergaß alle Vorsicht. Aber ihr Glück hatte sich plötzlich gewandt. Sie verlor und verlor immer wieder. Sie doppelte, verdreifachte, vervierfachte ihre Einsätze – und verlor.

Nach einer halben Stunde war ihr ein einziger Louis übrig geblieben. Sie erhob sich schnell und verließ wie eine Träumende den Spielsaal.

Ein Louis! Was konnte der ihr nützen! Sie kehrte in ihr Hotel zurück und schloß sich in ihrem Zimmer ein. Ihr Kopf brannte. Sie dachte, daß sie den Verstand verlieren müßte. Sie wollte weinen, aber sie konnte es nicht.

Eine Stunde lag sie auf ihrem Bett ausgestreckt und litt unsägliche Seelenqualen. Dann nahm sie ihre ganze Kraft zusammen, stand auf und sandte eine Depesche ab.


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