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Kapitel V.
Hinter der Tür.

Ein großer, schlanker Mann von aristokratischem Aussehen, in leichtem Anzug und mit dem Hut auf dem Kopf, stand oben auf der Treppe. In der Rechten hielt er einen Spazierstock, in der Linken eine elektrische Taschenlampe, die nicht brannte.

»Ich denke, Sie erinnern sich meiner, Madame Lenoir,« sagte er in ruhigem Ton.

Sie starrte ihn an und ein Blick genügte ihr, den Eindringling zu erkennen.

»Ah, Mylord Froissart!« rief sie mit einem Seufzer der Erleichterung aus. »Wie Sie mich – uns beide erschreckt haben! Aber wie sind Sie hereingekommen, und was wollen Sie so spät in der Nacht?«

»Ich möchte Ihren Kollegen, Alix Stothert, sprechen. Warum ist er die Treppe hinuntergestiegen?«

»Um zu sehen, wer da sein könnte, Mylord. Wir glaubten zu hören, daß jemand im Hause war. Und das waren Sie! Warum haben Sie kein Wort gesagt?«

»Weil ich einen Revolver in Mr. Stotherts Hand sah, als er die Tür öffnete. Ich fürchtete, er könnte schießen, bevor er mich erkannt hätte. Da kommt er!«

Die Tür in der Halle hatte sich geöffnet und Stothert stand, äußerst überrascht, unten an der Treppe.

»Himmel! Sie – Lord Froissart!« rief er aus.

Schnell stieg er die Treppe hinauf, und bald saßen alle drei im Bureauzimmer zusammen.

»Das ist höchst erstaunlich,« sagte Stothert. »Vor allem, Lord Froissart, wüßte ich gerne, wie Sie hereingekommen sind.«

»Sehr einfach. Ich kam um sechs Uhr nachmittags her, um Sie zu sprechen und fand die Haustür offen, – Handwerker schienen an der Beleuchtungsanlage in der Halle zu arbeiten. Ich trat ein und wollte Ihr Bureau finden. Aber ich muß eine Treppe zu hoch gestiegen sein – denn ich befand mich bald in einem Gang, an dessen Ende ich eine schwere Mahagonitür bemerkte. Ich öffnete sie und beim Schließen blieb die Klinke in meiner Hand. Beim Versuch, sie wieder zu befestigen, muß das Schloß eingeschnappt sein. Ich war gefangen, denn das Zimmer, in dem ich mich befand, hatte keinen anderen Ausgang.«

Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort:

»Als ich sah, daß ich die Tür auf keine Weise öffnen konnte, habe ich gerufen und mit meinem Stock an die Tür gehämmert – aber kein Mensch schien mich zu hören.«

»Das glaub ich gerne,« erwiderte Stothert, »Das Zimmer ist ganz abgelegen. Und wie sind Sie herausgekommen?«

Lord Froissart wies auf seinen Stock.

»Mit dieser Eisenzwinge gelang es mir, das Schloß zu öffnen. Ich muß es demoliert haben und komme natürlich für den Schaden auf.«

Stothert und seine Kollegin schienen sehr beruhigt.

»Ein höchst bedauerlicher Zufall!« sagte der erstere mit einem Blick auf Madame Lenoir.

»Sie haben uns beide gehörig erschreckt. Wir dachten, es wären Einbrecher im Hause.«

»Das dachte ich auch einen Augenblick,« erwiderte Lord Froissart. »Arbeiten Sie immer so spät in der Nacht, wenn ich fragen darf?« fügte er hinzu und ließ seinen Blick im Zimmer umherschweifen.

»Nein. Wir hatten heute eine sehr dringende Sache zu erledigen. Und in welcher Angelegenheit wollten Sie mich sprechen, Mylord? Ach, verzeihen Sie, nach der langen Gefangenschaft müssen Sie Hunger haben – ich fühle mich mitschuldig an dem unliebsamen Vorfall. Camille,« wandte er sich an die Französin, vielleicht finden Sie für Lord Froissart etwas zu essen. Ich fürchte, wir haben nicht viel im Hause.«

»Bitte, bemühen Sie sich nicht,« sagte Lord Froissart in dringendem Ton. »Ich bin wirklich gar nicht hungrig und trage allein alle Schuld. Was mein Anliegen betrifft, so erinnern Sie sich doch der traurigen Umstände, unter denen meine Tochter starb?«

»Natürlich. Die Zeitungen waren voll davon, was Sie sehr schmerzlich berührt haben muß.«

»Allerdings – sehr schmerzlich. Mir scheint, die Zeitungen sollten mehr Rücksicht auf die Gefühle eines Vaters nehmen – sie zeigen weder Takt noch Mitgefühl.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung.«

»Nun, Sie wissen, daß die gerichtliche Untersuchung einen Schlaganfall als Todesursache ergeben hat. Trotzdem ist es Ihnen – und, wie ich fürchte, auch anderen klar, daß das arme Kind sich das Leben genommen hat. Was sie dazu bestimmt haben kann, ist mir ganz unbegreiflich. Aber sie hatte eine Freundin, ich kann sagen, eine nahe Freundin, von der, wie sich jetzt herausstellte, niemand etwas Näheres weiß, außer daß sie eine sehr wohlhabende Frau ist. Seltsame Gerüchte sind mir in der letzten Zeit zu Ohren gekommen – kurz, es scheint mir nicht ausgeschlossen, daß diese Freundin, wenn sie wollte, das Geheimnis aufklären könnte. Warum sollte sie es nicht tun, nicht wahr?«

»Wer ist diese Frau?« fragte Stothert. »Alles, was Sie uns sagen, gilt selbstverständlich als streng vertraulich.«

»Ja, ich bitte darum. Die Frau werden Sie wahrscheinlich kennen. Ihr Name ist Mervyn-Robertson.« Stothert und seine Kollegin wechselten einen vielsagenden Blick. »Ich sehe, daß Sie sie kennen,« sagte Lord Froissart schnell.

»Allerdings, Mylord, das heißt fast nur dem Namen nach. Wir wissen recht viel über sie.«

»Und ist, was Sie wissen, – hm – vorteilhaft oder – hm – das Gegenteil?«

»Ohne Zweifel das Gegenteil. Mehr dürfen wir nicht sagen. Und Sie wünschen also, daß wir feststellen, wer und was sie ist, wo sie herkommt und so weiter?«

»Wenn es Ihnen möglich ist.«

»Das wird nicht schwer halten. Wir können Ihnen schon jetzt mitteilen, daß sie in Australien geboren ist, und daß ihre Eltern Schafzüchter in Queensland waren.«

»Ach, das klingt ja ganz ehrbar.«

»Es klingt ehrbar, aber ...«

»Was wollten Sie sagen?«

»Sie wissen, manches ist in Wirklichkeit anders, als es klingt. Eine Frage, Mylord! Haben Sie die Absicht, den Maskenball zu besuchen, der am neunundzwanzigsten dieses Monats in der Alberthalle veranstaltet werden soll?«

»Ich habe nichts davon gehört. Wer gibt diesen Ball?«

»Mr. Stapleton und Mr. La Planta, obwohl sie, wie ich glaube, selbst noch nicht wissen, wer als Gastgeberin fungieren soll. Die Herren sind mit Mrs. Mervyn-Robertson befreundet, wie Ihnen wohl bekannt ist.«

»Ja, ich habe von Ihnen gehört, obwohl ich sie nicht persönlich kenne. Ich erinnere mich, daß wir auf sie zu sprechen kamen, als ich Sie nach dem Tode meiner armen Tochter konsultierte. Ich hatte damals die Hoffnung, daß Sie in diese schreckliche Tragödie etwas Licht bringen könnten. Leider war es Ihnen trotz Ihrer großen Kenntnis der Gesellschaft nicht möglich. Und jetzt sagen Sie mir – warum wollen Sie wissen, ob ich auf diesen Ball gehe? Ich gehe gar nicht mehr aus, wie Ihnen wohl bekannt ist.«

»Es könnte für Sie von Nutzen sein, Mylord. Mehr darf ich im Augenblick nicht sagen. Ich würde Ihnen sogar dringend raten, hinzugehen. Mylord.«

»Wenn Sie glauben, daß es einen Zweck hat, Stothert, will ich natürlich an dem Ball teilnehmen.«

»Ich glaube es nicht nur, ich bin fest davon überzeugt. Es kann uns indirekt in den Nachforschungen über Miß Froissarts Tod nützlich sein.«

»Dann gehe ich sicher hin.«

»Und Sie teilen uns im Voraus mit, welches Kostüm Sie tragen werden, nicht wahr? Kostüm und Maske sind obligatorisch, wie ich höre.«

Lord Froissart erhob sich. Als er fortgegangen war, atmeten Stothert und seine Gefährtin erleichtert auf. Die »Londoner Geheimagentur«, wie sich ihr Detektivbureau nannte, hatte sich in der Tat durch die Auskünfte, die sie über das Privatleben aller Mitglieder der Gesellschaft vermittelte, einen Namen erworben, aber über ihre Methoden waren Gerüchte im Umlauf. Hochgestellte Frauen, die sich ihrer Ehemänner entledigen wollten, Männer, die für die angebliche Untreue ihrer Frauen Beweise suchten, und viele andere pflegten sich jetzt ohne weiteres an die »Londoner Geheimagentur« zu wenden, und meist innerhalb von acht Tagen lieferte ihnen »das Haus mit dem Bronzegesicht« Beweismittel, die genügten, den schuldigen Teil unwiderruflich zu verurteilen.

Auf welche Weise das Bureau sich die verlangte Auskunft verschaffte, war ein Geheimnis, das auch die Konkurrenz vergebens zu lüften versuchte. Manche machten ihrem Aerger darüber in allerhand erfundenen Märchen Luft, die das Haus mit dem Bronzeklopfer und seine Bewohner in Verruf bringen sollten.

Aber Stothert und seine französische Partnerin kümmerten sich nicht im geringsten um dieses Gerede und der erstere pflegte zu bemerken: »Sie können sagen, was sie wollen, aber nicht die kleinste ihrer Behauptungen beweisen.«

Als Lord Froissart in einer Autodroschke nach Hause fuhr, drehten sich seine Gedanken um das Haus mit dem Bronzeklopfer und seine geheimnisvollen Bewohner. Die Agentur bestand seit wenigen Jahren, und dank der unfehlbaren Sicherheit ihrer Auskünfte kannte sie jeder, obgleich sie nirgends Inserate erscheinen ließ.

Wer war dieser Stothert und Madame Lenoir? Sie waren, wie er hörte, zusammen nach London gekommen und hatten ihre Tätigkeit ohne Freunde und Empfehlungen begonnen. Hatten sie Mitarbeiter und wer konnte es sein? Madame Vandervelt, die schöne Abenteurerin, die sich aus dem Fenster gestürzt hatte, war in drei Fällen vor dem Ehescheidungsgericht durch Beweismittel überführt worden, die das Haus mit dem Bronzeklopfer geliefert hatte. Zweimal hatte sich Mrs. Mervyn-Robertson wegen gewisser Juwelendiebstähle an die Agentur gewandt, und in beiden Fällen war der Dieb gefaßt worden. Ihrem Freund Stapleton war sein Fiat-Auto gestohlen worden, während er sich in einem vornehmen Laden Krawatten aussuchte. Er wandte sich sofort an Alix Stothert, und der Dieb wurde im Wagen selbst verhaftet.

Diese und manche ähnliche Fälle kamen ihm ins Gedächtnis, und je mehr er darüber nachdachte, um so mehr mußte er sich wundern. Das Haus, das er an diesem Nachmittag durchschritten hatte, war offenbar nur zum geringsten Teil bewohnt. Er erinnerte sich, bemerkt zu haben, daß in vielen Zimmern nicht einmal Möbel, nur Teppiche zu sehen waren. Bei einer früheren Gelegenheit hat er sechs bis acht Schreiber an der Arbeit gesehen. Aber eine leitende Stellung nahmen offenbar nur Stothert und seine Gefährtin ein. Auf manche Gerüchte, die ihm zu Ohren gekommen waren, legte er keinen Wert. Aber als das Auto vor seinem Hause in Queen Anne's Gate hielt, hatte er gerade den Entschluß gefaßt, im Verkehr mit der Geheimagentur eine gewisse Vorsicht zu beobachten.


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