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Kapitel VIII.
Eine Entdeckung.

Es war nach vier Uhr morgens, als Stapleton in seine Wohnung zurückkehrte. Nachdem er beinahe eine Stunde bei La Planta zugebracht hatte, war er zu Jessica Robertson gefahren, die er noch immer bewußtlos, mit ähnlichen Vergiftungssymptomen wie La Planta, vorfand, obgleich ihr Gehirn im Schlaf zu arbeiten schien. Mehrmals hatte sie, wie man ihm sagte, zusammenhanglose Worte gemurmelt, und selbst in seiner Gegenwart schienen ihre Lippen sich leise zu bewegen, als ob sie träumte.

»Wie lange ist es her, daß die Gäste fort sind?« fragte er ihre Kammerjungfer.

»Die letzten sind vor kaum zwanzig Minuten gegangen,« antwortete sie.

»Wissen Sie, wer diese letzten waren?«

»Nein, Sir, ich hörte sie nur fortgehen. Sollen wir sie nicht zu Bett bringen, da Sie nicht nach dem Arzt schicken wollen?«

»Ja, bringen Sie sie hinauf. Am Morgen wird sie wieder wohlauf sein.«

»Ich hoffe es von Herzen. Sie hat niemals so etwas gehabt – niemals!«

»Schicken Sie mir John her,« befahl er.

Als Mrs. Mervyn-Robertson zu Bett gebracht worden war, nahm Stapleton den Diener beiseite, in das Speisezimmer, und schloß die Tür.

»Wer waren die Gäste, die sich zuletzt aufgemacht haben?« fragte er ihm.

Aus der Beschreibung des Dieners ging hervor, daß unter diesen Gästen sich auch der Herr und die Dame befanden, in deren Gesellschaft Jessica Sekt getrunken hatte, aber ihre Namen kannte er nicht.

Stapleton fuhr nach Hause. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft, während er sich im Schlafzimmer entkleidete. Es schien ihm ausgemacht, daß La Planta und Jessica von derselben Hand eingeschläfert worden waren, und der Betreffende mußte sich unter den Gästen in Jessicas Haus befunden haben. Aber wer konnte es sein, und in welcher Absicht war die unheimliche Tat vollbracht worden?

Am nächsten Morgen überzeugte er sich telephonisch davon, daß sowohl Archie wie Jessica sich vollkommen erholt hatten und wieder im Vollbesitz ihrer Geisteskräfte waren. Dann fuhr er zunächst in das Albanyviertel.

Archie nahm gerade, in einen feinen Schlafrock aus japanischer Seide gehüllt, in seinem Bett sein Morgenfrühstück ein. Beim Eintreten in das Zimmer fiel Stapleton auf, daß sein Gesicht ungewöhnlich blaß war und tiefe Ringe unter den Augen zeigte.

»Ich wünschte, Louie,« sagte La Planta, »du könntest mir sagen was gestern abend mit mir passiert ist, und wie ich aus der Alhambra ohne Hut herausgekommen bin. Ich könnte denken, daß ich zu viel getrunken habe –, wenn es da überhaupt etwas zu trinken gegeben hätte.«

»Ich kann dir nichts sagen, weil ich selbst nichts weiß,« erwiderte Stapleton und setzte ihm auseinander, was geschehen war, nachdem Archie die Loge verlassen hatte.

»Wer hat nach Jessica gefragt und warum bist du hinausgegangen, ohne ihr ein Wort zu sagen?« schloß er.

Sein Freund fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als versuchte er, sich zu besinnen.

»Es tut mir leid, Louie,« sagte er endlich, »aber ich kann mich gar nicht erinnern, die Loge verlassen zu haben. Der erste Teil des Balletts ist mir noch gegenwärtig. Dann kommt eine Lücke in meiner Erinnerung. Ich weiß nur, daß ich heute morgen hier aufgewacht bin und mich ganz zerschlagen fühlte. Noch jetzt dreht sich mir alles im Kopf herum.«

Erst zur Lunchstunde vermochte Stapleton Jessica zu sehen. Sie klagte über Kopfweh und große Schwäche. Auf seine Fragen erwiderte sie, daß sie sich gar nicht darauf besinnen könnte, am Büffett Champagner getrunken, noch überhaupt nach dem Souper mit ihm gesprochen zu haben. Sie erinnerte sich, wie sie sagte, daß sie um Archie besorgt war, im Wagen nach Hause fuhr, beim Souper neben Stapleton saß, und daß später »chemin de fer« und »Roulette« gespielt wurde. Aber hier versagte ihr Gedächtnis.

»Das habe ich erwartet,« bemerkte Stapleton, »ganz wie bei Archie! Ich nehme infolgedessen an, daß ihr beide mit demselben Schlafmittel betäubt worden seid, dessen besondere Wirkung darin besteht, die Erinnerung an alles auszulöschen, was einige Zeit vor dem Einnehmen des Mittels geschehen ist. Die Person, die dich im Theater sprechen wollte, hatte offenbar die Absicht, dir schon dort das Mittel einzugeben. Aber Archie ging statt deiner hinaus. Der Betreffende muß ihn betäubt haben und dann mit den anderen Gästen hergekommen sein. Hier gelang es ihm. auch dich einzuschläfern. Die Frage ist nur: wer ist es gewesen und warum hat er es getan?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Hast du irgend etwas vermißt? Sind deine Juwelen und sonstigen Wertsachen unberührt?«

»Ich hoffe doch. Nachgesehen habe ich noch nicht.«

»Dann müssen wir es gleich tun.«

Jetzt entdeckten sie, daß das Safe im Wohnzimmer geöffnet und ausgeraubt worden war. Es hatte außer einem Perlenkollier von unschätzbarem Wert und einer Menge ungeschliffener Diamanten viertausendfünfhundert Pfund in Banknoten, Schatzscheinen und barem Gelde enthalten. Alles war verschwunden. Das Safe hatte man wieder geschlossen und den Schlüssel wieder in den kleinen Sack getan, den Jessica immer bei sich trug. Denn es war höchst unwahrscheinlich, daß ein Duplikat des Schlüssels angefertigt worden war.

Mrs. Mervyn-Robertson war in Verzweiflung. Aber sie machte keine Szene und wurde nicht hysterisch, wie viele Frauen in ähnlichen Fällen. Sie behielt vielmehr einen klaren Kopf und blieb auffallend ruhig.

Der Diener John trat ein und überreichte einige Briefe.

»Well, was soll ich jetzt tun?« sagte sie in ruhigem Ton zu Stapleton.

»Wir können nichts besseres tun, als uns an die Londoner Privatagentur wenden,« erwiderte er. »Wenn jemand uns helfen kann, sind sie es. Hast du die Nummer der Scheine?«

»Nein.«

»Auf jeden Fall wird die Agentur imstande sein, den Perlen auf die Spur zu kommen. Es gibt in England und auf dem Kontinent nur wenige Plätze, wo solche Perlen angebracht werden können und Stothert kennt alle Abnehmer für gestohlene Güter in Europa, wie er mir noch kürzlich sagte.«

»Wollen wir zu Archie fahren?« sagte sie und wollte sich erheben. »Du sagtest, daß er zu Hause bleiben wollte.«

Aber in diesem Augenblick trat wieder der Diener ins Zimmer und meldete:

»Captain Preston und Mr. Blenkiron.«

Jessica biß sich auf die Lippen. Als die Besucher eintraten, empfing sie sie mit ihrem gewinnenden Lächeln.

»Wie froh bin ich, Sie nach so langer Zeit zu sehen,« rief sie aus. »Mr. Stapleton sprach eben von ihnen, und ich fragte ihn, was aus Ihnen beiden geworden ist – ich glaubte, Sie hätten London verlassen.«

»Ich bin selten in der Stadt,« sagte Blenkiron. »Wie Sie wissen, lebe ich auf dem Lande.«

»Ja richtig. Ich hatte es vergessen. Aber Sie, Captain Preston! Ich sehe Sie nirgends. Leben Sie auch nicht in der Stadt?«

»Ja, aber ich gehe selten aus; mein Bein ist ein großes Hindernis. Wir kamen gerade hier vorbei, da schlug ich vor, bei Ihnen vorzusprechen, in der Hoffnung, Sie zu Hause anzutreffen. Ich bin seit dem reizenden musikalischen Abend, zu dem Sie mich vor acht – neun Monaten einluden, nicht wieder hier gewesen. Aber ich vergesse nicht, wie schön Ihre Freundin damals Tschaikowskys »Nur wer die Sehnsucht kennt« sang. Er war herrlich.«

»Lieben Sie so sehr Musik, Sie, ein Soldat?«

»Es ist das einzige, was ich liebe.«

»Das einzige?« wiederholte sie mit schalkhaftem Lachen. »Das kann ich nicht glauben.«

Ihre Blicke trafen sich. In den Augen des Hauptmanns zeigte sich ein harter Ausdruck.

»Irgend jemand sagte mir vor einigen Tagen,« bemerkte Blenkiron, »daß Sie einige Zeit in Queensland gelebt haben, Mrs. Mervyn-Robertson. Ist es lange her? Ich bin viel in Australien gewesen.

»Länger als ich wünschte,« erwiderte sie. »Ich war ein kleines Mädchen, als meine Eltern mich heimschickten.«

»Sie meinen nach England?«

»Ja.«

»In welcher Stadt von Queensland haben Sie gelebt?«

»Bei Monkarra – wenn man das eine Stadt nennen kann,« antwortete sie.

»Wirklich! Ich kenne Monkarra. Ich bin wiederholt dort gewesen. Merkwürdig, daß ich weder Sie noch Ihre Angehörigen getroffen habe.«

»Australien ist groß, Mr. Blenkiron.«

»Aber seine Bevölkerung ist klein, und Monkarra, wie Sie sagen, nur ein Dorf. Man hat mir gesagt, daß der Name ihres Vaters Robertson war.«

»Man scheint mit Ihnen recht viel über mich gesprochen zu haben,« bemerkte sie schnell.

»Wundert Sie das?«

Die Frage hatte einen doppelten Sinn und Jessica gab dem Gespräch eine andere Wendung.

»Da Sie Musik so gern haben,« sagte sie zu Preston, »so müssen Sie mich beim nächsten musikalischen Abend besuchen. Die meisten hören nur Operetten und Niggertänze gern.«

Sie sprach beinahe mechanisch; denn ihre Gedanken waren mit dem Verlust, den sie erlitten hatte, beschäftigt. Unter ihren gestrigen Gästen konnte sie keinen finden, bei dem nicht jeder Verdacht eines Zusammenhanges mit dem Diebstahl ausgeschlossen war.

Dann fielen ihr plötzlich Cora Hartsilver und ihre Freundin Yootha ein. Beide Frauen mochte sie nicht leiden und sie war sicher, daß ihre Abneigung erwidert wurde. Und jetzt besann sie sich darauf, daß Archie La Planta ihr von Prestons Verehrung für Yootha Hagerston erzählt hatte. Und diese Menschen stellten, wie La Planta ihr gleichfalls mitgeteilt hatte, Nachforschungen über sie an! Es konnte kein Zufall sein, daß die beiden Freunde bei ihr vorsprachen und daß Blenkiron sie über Australien auszufragen suchte. Wer konnte ihm gesagt haben, daß ihr Vater Robertson hieß?«

»Da wir von Australien sprachen,« begann er jetzt von neuem, »darf ich fragen, ob Ihr Vater schon lange tot ist?«

»Zehn Jahre,« hörte sie sich selbst sagen und mußte sich darüber wundern.

»Und Ihre Mutter?«

»Ich war noch ein Kind, als sie starb.«

»Und sie lebten in Monkarra?«

»Mein Vater allerdings. Meine Mutter starb in Charleville.«

»Seltsam,« sagte Blenkiron wie zu sich selbst.

»Ich müßte Ihren Vater oder Ihre Mutter in den Jahren, die ich in Queensland zubrachte, getroffen haben.«

»Warum denn? Was machten Sie in Australien?«

»Alles Mögliche. Jahrelang war ich Goldsucher; dann arbeitete ich als Ingenieur an einer Bahn und eine Zeitlang war ich auch Schafzüchter. Für mich ist es das einzige Land auf der Welt.«

»Und doch haben Sie sich in England niedergelassen?«

»Weil alle meine Interessen jetzt hier konzentriert sind. Der Krieg hat so vieles geändert.«

Preston erhob sich.

»Ich muß gehen, Mrs. Mervyn-Robertson,« sagte er. »Ich hoffe, Sie laden mich zu Ihrem nächsten Musikabend ein.«

»Das vergesse ich nicht – das heißt, wenn ich Ihre Adresse habe. Kann ich sie aufschreiben?«

Sie ging an ihren Schreibtisch und er folgte ihr. Als sie seine Wohnung notiert hatte, nahmen die Freunde Abschied.

Langsam humpelte Preston die Oxfordstraße hinauf.

»Eine kluge Frau – eine verdammt kluge Frau!« sagte Blenkiron, der langsam neben seinem Freunde herging. »Was für ein Benehmen! Welche Persönlichkeit! Hast du bemerkt, daß sie für jede Frage, die ich stellte, eine Antwort bereit hatte? Ich glaube kein Wort von dem, was sie gesagt hat. Weder sie noch ihre Eltern sind jemals in Australien gewesen. Mit dieser Frau muß irgendein Geheimnis verbunden sein, und mit diesem Stapleton gleichfalls, der immer mit ihr zusammensteckt.«

An einer Straßenecke hielt Blenkiron seinen Freund am Aermel fest.

»Sieh,« sagte er, »da geht der junge La Planta. Er ist auf dem Wege zu seinen Freunden. Ueber den Burschen bin ich mir auch nicht klar!«


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