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Kapitel III.
Das schleichende Gift.

In den neun Monaten, die seit Henry Hartsilvers unerwartetem Tode verflossen waren, hatte sich gar manches verändert. Der Krieg war vorüber und in London regte sich wieder das gewaltige Treiben, dessen Räder jahrelang beinahe stillgestanden hatten. Tausende verwünschten im stillen den Eifer, mit dem sie »ihre Pflicht« getan hatten, die ihnen Gut und Blut gekostet hatte und Tausende dankten im stillen dem Himmel für den Krieg, durch den sie reich geworden waren und nun ein Leben führen konnten, das zwar nicht gerade geschmackvoll zu nennen war, aber ihre Eitelkeit in hohem Grade befriedigte.

Im Westend der Stadt gab es wenige, die ein verschwenderisches Dasein führten, als Aloysius Stapleton und sein steter Begleiter – der junge Archie La Planta.

»Ihr wollt also den Ball in der Alberthalle geben,« sagte Mrs. Mervyn-Robertson und blies den Rauch ihrer Zigarette zur Decke ihres Wohnzimmers empor, »und ich soll die Gastgeberin spielen? Well, das will ich nicht.«

»Nicht? Warum nicht?«

»Das geht nicht, Louie,« sagte sie in entschiedenem Ton zu Aloysius Stapleton, der auf dem Sofa vor ihr saß und die Vorbereitungen zu einem großen Maskenball besprechen wollte.

»Ich kann den Grund nicht einsehen. Und du, Archie?« fragte er mit einem Blick auf La Planta.

»Das glaub' ich gerne,« bemerkte Mrs. Mervyn-Robertson in trockenem Ton. »Die Männer sind zu dumm, um so etwas zu verstehen. Unsere zahlreichen Freunde geben zwar vor, uns über alles zu schätzen, im Grunde aber empfindet eine große Anzahl von Frauen gegen mich nur Haß.«

»Sie sind einfach neidisch.«

»Das kommt auf dasselbe heraus. Ich weiß, was sie über mich gesagt haben und noch sagen. Oder, was noch schlimmer ist, sie deuten es an. Nein, ich werde nicht eure Gastgeberin sein. Ihr braucht eine Dame in hoher, gesicherter gesellschaftlicher Stellung, sonst wird euer Ball ein Mißerfolg. Viele Leute haben mich natürlich ganz gern, aber sie wissen nichts von mir, wer ich eigentlich bin, und wo ich herkomme. Den meisten genügt das, aber andere sind neugierig und stellen allerhand Nachforschungen an. Mrs. Hartsilver und ihre Freundin Yootha Hagerston zum Beispiel. Wißt ihr, daß sie soweit gegangen sind, einer Privatagentur den Auftrag zu erteilen, ihnen genaue Auskunft über mich zu verschaffen?

»Ich habe so etwas gehört,« sagte Stapleton. »Aber wir haben nichts zu fürchten. Sie kann nichts gegen uns anführen.«

»Du meinst, die Agentur?«

»Ja.«

»Aber sie kann manches erfinden, wenn sie es für nötig, hält.«

»Lügen lassen sich nicht beweisen,« bemerkte La Planta der bisher geschwiegen hatte.

»Wirklich?« rief Mrs. Mervyn-Robertson lachend aus. »Du wirst vielleicht deine Ansicht mit dem Alter ändern. Du bist naiver als ich glaubte, Archie!«

Da einige Besucher eintraten, wandte sich die Unterhaltung anderen Gegenständen zu. Nach einer Weile fragte ein Gast:

»Ist der Fall Hartsilver aufgeklärt worden – ich meine, weiß man, was ihn in den Tod getrieben hat?«

»Ich habe nichts erfahren,« erwiderte Mrs. Mervyn-Robertson, »obwohl ich viele von seinen Freunden kenne. Die gerichtliche Untersuchung hat nur eine zeitweilige Geistesstörung ergeben.«

»Ja,« sagte die Fragestellerin in Gedanken. »Und doch hätte niemand ihn für geisteskrank halten können.«

»Das kann man nie wissen,« bemerkte Mrs. Mervyn-Robertson und schenkte eine Tasse Tee ein. »Die gesündesten Menschen scheinen heute den Verstand zu verlieren. Denken Sie an die schreckliche Reihe von Selbstmorden, die mit Lord Hope-Cooper und Viscount Molesley begann. Der Fall von Madame Vandervelt war natürlich weniger überraschend – aber Vera Froissarts Tod hat uns alle tief erschüttert.«

»Sie haben ihr nahe gestanden, nicht wahr?«

»Sie war eine meiner nächsten Freundinnen, meine beste. Und das Gericht hat ›Schlaganfall‹ als Todesursache hingestellt! Mädchen ihres Alters sterben nicht am Schlage. Ich glaube, sie hatte irgendeine Liebesgeschichte und – aber ich darf nicht mehr sagen.«

»Nicht möglich!«

»Und doch ist es so. Und mein Verdacht gründet sich nicht nur auf Vermutungen. Kurz nach ihrem Tode sind mir bestimmte Gerüchte zu Ohren gekommen, die aus vertrauenswürdiger Quelle stammten.«

»Wie schrecklich! Ich hoffe, ihr Vater weiß nichts davon.«

»Das hoff' ich auch. Als ich ihn vor einigen Tagen traf, sah er furchtbar verändert aus, aber das war wohl dem traurigen Ende seiner Tochter zuzuschreiben.«

Nach wenigen Minuten erhoben sich einige Besucher, unter ihnen auch La Planta.

»Ich bin heute bei Mrs. Hartsilver eingeladen,« sagte er beim Abschiednehmen.

»Ach!«

In Mrs. Mervyn-Robertsons Augen leuchtete ein plötzliches Interesse auf.

»Du wirst mir erzählen, was sie über mich gesagt hat?« fügte sie mit unterdrückter Stimme hinzu.

»Natürlich. Seh' ich dich morgen?«

»Gewiß. Ich mache am Vormittag in der Bond Street einige Einkäufe. Treffen wir uns um zwölf bei Asprey?«

»Abgemacht. Uebrigens, eh' ich's vergesse: Captain Preston. den ich heute früh in der Regent Street traf, hat nach, dir gefragt.«

»Captain Preston?« wiederholte Mrs. Mervyn-Robertson erstaunt: »Wer ist das? Ich glaube, mich des Namens zu erinnern.«

»Ich stellte ihn vor etwa neun Monaten vor. Er war einen Nachmittag hier, als Bridge gespielt und Musik gemacht wurde.«

»Jetzt besinn' ich mich genau. Ein furchtbar öder Kerl, nicht?«

»Er war damals schwer verwundet und eben aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ich glaube, du würdest ihn jetzt weniger ›öde‹ finden.«

»Vielleicht, aber ich bin nicht sehr begierig, die Bekanntschaft zu erneuern. Er gehört zu den Leuten, die man lieber fallen läßt.«

»Das würde er nicht gerne hören,« sagte La Planta lachend. »Mir fiel auf, daß er dich damals sehr anziehend fand, aber versuchte, es nicht zu zeigen.«

»Dann sag' ihm nichts,« erwiderte Mrs. Mervyn-Robertson leichthin. »Leb' wohl – um zwölf bei Asprey.«

Archie La Planta stieg in sein Auto, in Gedanken versunken, die alle seine Bekannten in Erstaunen gesetzt hätten, nur Stapleton und die Dame nicht, deren Haus er soeben verlassen hatte.

Im Albanyviertel, wo seine Wohnung lag, schellte er nach seinem Diener.

»James, bringen Sie mir einige Telegrammformulare,« befahl er und begann darauf in mehreren Adreßbüchern zu blättern, die auf seinem eleganten Schreibtisch lagen. In kurzer Zeit hatte er zwei Depeschen aufgesetzt.

»Schicken Sie das gleich ab, James,« sagte er zu dem Diener, der neben ihm stand. »Sehr wichtige Telegramme.«

Dann zündete er sich vor seinem Riesenspiegel eine Zigarre an und streckte sich, mit dem Rücken zum hohen Fenster, in einen bequemen Lehnstuhl.

Bald war er in tiefes Nachdenken versunken.

Ein Klingeln an der Haustür unterbrach seine Träumerei.

»Sieh da, Preston!« rief er aus, als nach wenigen Augenblicken der Hauptmann, den ein Bedienter angemeldet hatte, hereingehinkt kam. »Das ist eine nette Ueberraschung. Bitte, nehmen Sie Platz,« sagte er und schob ihm einen Lehnstuhl zu.

»Danke,« erwiderte der Besucher. »Ich hoffe, ich störe nicht.«

Er ließ sich langsam in den Sessel nieder und legte seinen Krückstock neben sich auf den Teppich.

»Ich wollte Sie in einer besonderen Angelegenheit sprechen. La Planta,« sagte er nach einigen gleichgültigen Worten, »fand Ihre Wohnung im Adreßbuch und kam her. Ich habe versucht. Sie anzurufen, aber das Telephonfräulein behauptete, es melde sich niemand.«

»Das sagen sie immer,« bemerkte der junge Mann in trockenem Ton. »Ich sitze wenigstens seit einer halben Stunde neben dem Telephon und es war kein Laut zu hören.«

»Um so besser vielleicht, da ich sie zu Hause angetroffen habe. Was ich von Ihnen erfahren möchte – Um es gleich zu sagen – betrifft Mrs. Mervyn-Robertson.«

»So? Ich war vor einer Stunde bei ihr.«

»Darf ich Sie fragen, ob Sie viel von ihr wissen – wer sie ist, wo sie herkommt und so weiter? Bitte halten Sie mich nicht für neugierig. Die Frage klingt vielleicht unverschämt. aber ich habe einen Grund dazu.«

»Natürlich, sonst würden Sie wohl nicht fragen,« bemerkte La Planta kühl.

»Sie sind mit ihr befreundet?«

»Allerdings. Darf ich fragen, Preston, wozu Sie diese Auskunft brauchen?«

»Selbstverständlich. Ein Freund von mir, Lord Froissart, dessen Tochter vor einem Jahr plötzlich verschied, sagt mir, daß diese Tochter Mrs. Mervyn-Robertson recht nahe stand, aber nichts über sie wußte – das heißt, wer ihre Eltern waren, und so weiter. Der schwer geprüfte Vater scheint die – meiner Ansicht nach, trügerische Hoffnung zu haben, Mrs. Mervyn-Robertson könnte, wenn sie wollte, einige Aufklärungen über die Todesursache geben, die ganz im Dunkeln liegt. Gestern abend speisten wir zusammen und er bat mich, den Versuch zu machen, von Ihnen Auskunft über Mrs. Mervyn-Robertsons Vergangenheit zu erhalten. Da wir alte Freunde sind, sagte ich ihm zu, obgleich ich, wie Sie sich denken können, an diesem Auftrag kein besonderes Vergnügen finde.«

La Planta schwieg einige Zeit.

»Ja, Mrs. Mervyn-Robertson war mit Vera Froissart sehr befreundet,« sagte er endlich, »und ich glaube, niemanden hat ihr plötzlicher Tod tiefer erschüttert als Mrs. Robertson. Froissarts Hoffnung, sie könne etwas Licht in die dunkele Tragödie bringen, ist natürlich nur das Hirngespinst eines zerrütteten Geistes. Eine Auskunft über Mrs. Robertsons Vergangenheit würde ich von meiner Seite als Vertrauensbruch ansehen, da uns seit Jahren eine enge Freundschaft verbindet. Ich wüßte auch nicht, was eine Auskunft dieser Art in der Frage nach den Gründen nützen könnte, die das junge Mädchen in den Tod trieben. Nur soviel darf ich Ihnen sagen: Mrs. Robertson ist eine Frau, die immer mit schweren Schicksalsschlägen zu kämpfen hatte und dauernd mißverstanden worden ist.«

Eine Zeitlang schwiegen beide Männer.

»Ist das alles, was Sie mir über sie sagen wollen,« fragte Preston plötzlich in scharfem Ton.

»Das ist alles.«

»Dann ist es vielleicht besser, daß ich gehe,« sagte Preston und griff nach seinem Stock.

»Vielleicht.«

Der Hauptmann blickte schnell auf, als hätte etwas in der Stimme des jungen Mannes ihn gereizt. Sie wechselten nur einen schnellen Blick, aber Preston war es wie eine Warnung, vor diesem glatten, höflichern, jungen Mann auf der Hut zu sein, und La Planta fühlte im gleichen Augenblick, daß vor ihm ein Mann stand, der unter Umständen ein furchtbarer Gegner werden konnte.

»Guten Tag,« sagte Captain Preston, als er in der Halle den Hut aufsetzte.

»Guten Tag,« erwiderte La Planta mit eisiger Höflichkeit.

Dann öffnete James die Tür und der Hauptmann hinkte langsam die Straße hinab.

In diesem Augenblick hatte La Planta sich mit Mrs. Mervyn-Robertson telephonisch verbinden lassen und teilte ihr mit, was geschehen war. Er hörte, wie sie kurz auflachte.

»Sagte ich dir nicht heute nachmittag« rief sie aus. »daß es ein Mensch ist, dessen Bekanntschaft man lieber fallen läßt?«


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