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Kapitel II.
Gatte, Gattin – und Freund.

Am nächsten Morgen machte Cora Hartsilver sich zum Ausgehen bereit, als ihr gemeldet wurde, daß Miß Yootha Hagerston sie zu sehen wünschte.

»Bitten Sie sie gleich heraufzukommen!« rief sie aus, »und, Jackson, –«

»Gnädige Frau?«

»Wenn Mister Hartsilver heimkommen sollte, während ich fort bin, sagen Sie ihm, daß ich zum Lunch nicht zurückkehre.«

»Jawohl, gnädige Frau.«

Yootha Hagerston war Coras älteste und beste Freundin. Sie war unverheiratet, obwohl es ihr an Anträgen nicht gefehlt hatte. Sie war zwei Jahre jünger als Cora, schlank, anmutig und von höchst ausdrucksvollen Gesichtszügen. Aus ihren klugen Augen leuchtete ein lebhaftes Temperament. Sie hatte ihre Familie vor zwei Jahren auf dem Lande zurückgelassen und eine bescheidene Wohnung in London bezogen, wie sie sagte, »um dem unerträglichen Nichtstuerdasein zu entgehen«, zu dem ihre Angehörigen sie zwingen wollten, in Wahrheit, weil ihre Stiefmutter sie nicht gern hatte und ihr Vater dem Trunk ergeben war. Yootha war das jüngste von drei Kindern: ihre beiden Brüder waren im Feld jenseits des Kanals.

Als sie in Coras Schlafzimmer trat, begrüßten sich die Freundinnen mit einem herzlichen Kuß.

»Wie froh bin ich, dich zu sehen,« rief Cora aus. »Seit einer Woche weiß ich nichts von dir. Wo hast du nur gesteckt?«

»Ach, die Meinigen sind in der Stadt gewesen. Du weißt, was das zu bedeuten hat.«

»Die Deinigen? Du meinst, Vater und Mutter?«

»Stiefmutter, bitte,« verbesserte Yootha. »Schone das Andenken meiner Mutter. Ja, beide kamen ganz unerwartet. Und was glaubst Du. wozu?«

»Keine Ahnung.«

»Um mich zu überreden, zu ihnen zurückzukehren,« rief Yootha lachend. »Kannst du dir vorstellen, daß ich wieder in unserem alten Landhause leben sollte, wo ich meine glückliche Kindheit verlebte und wo jetzt alles so ganz anders ist? Nein, danke! Und was glaubst du, warum wollten sie mich heimholen?«

»Ach, gib mir keine Rätsel mehr zu raten.«

»Weil irgendein Klatschmaul meinem Vater gesagt hat, daß mein Junggesellendasein hier, nicht comme il faut sei und meine Familie in Verruf bringen könnte, wie er glaubt oder zu glauben vorgibt. Hast du Worte? Und jetzt will ich dir, wenn es dich interessiert, den wahren Grund sagen. An meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag trete ich das Erbe einer alten Tante, der einzigen Schwester meines Vaters an, Ein ganz nettes kleines, gut angelegtes Sümmchen – und ich bin ganz sicher, daß meine Stiefmutter mich dazu bringen wollte, einen Teil davon ihr oder meinem Vater zu überweisen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie freundlich sie war. Das Geld kommt in fünf Monaten in meinen Besitz.«

»Aber wußten sie nicht schon früher von dieser Erbschaft?«

»Offenbar nicht. Bis vor wenigen Wochen wußte ich selbst nichts davon und habe dir absichtlich nichts davon gesagt, weil der Rechtsanwalt, mit dem ich befreundet bin, mich bei der Mitteilung bat, zunächst nicht davon zu sprechen.«

»Du gehst also nicht nach Cumberland zurück?«

»Aber Cora, mein Herz, was für eine Frage!«

»Wie froh mich das macht!« rief Mrs. Hartsilver aus. »Ich weiß nicht, wie ich hier ohne dich leben könnte. Du bist der einzige Mensch, der mir nahesteht. Sag' mir, hat dein Vater oder deine Mutter – vergib, deine Stiefmutter – irgend etwas von Stephen Lethbridge gesagt? Du hast natürlich den Trauerbericht gelesen.«

»Allerdings, und ich habe gleich an dich gedacht. Ja, sie sprachen gestern abend nur davon. Mein Vater sagte, er hätte Stephen vor kaum zehn Tagen gesehen und wäre über die Aenderung ganz betroffen gewesen, die mit ihm vorgegangen war.«

»Was für eine Aenderung?«

»Er sah um Jahre gealtert aus, was mein Vater gleich zu meiner Stiefmutter bemerkte. Dann sagte mein Vater noch, daß auf Lethbridges Landsitz in der letzten Zeit seltsame Menschen gesehen wurden.«

»Männer oder Frauen?«

»Männer. Wie mein Vater sagte, ging auch das Gerücht, daß Stephen in Geldverlegenheit geraten war.«

»Wirklich? Er war doch so wohlhabend oder galt wenigstens dafür.«

»Das weiß ich. Um so geheimnisvoller ist die Sache. Ich nehme an, daß eine Frau oder Frauen mit im Spiel waren. In der heutigen Zeitung steht, daß eine gerichtliche Untersuchung stattfinden soll.«

Cora gab keine Antwort. Sie starrte mit trüben Augen zum Fenster hinaus, und ihre Gedanken schienen meilenweit entfernt.

»Mach' dir keine Gedanken darüber, Cora,« sagte ihre Freundin nach einer Weile. »Ich weiß, daß du ihn gern hattest und er dich auch, aber –«

»Ach, sprich nicht so,« rief Mrs. Hartsilver heftig und preßte ihre Finger an die Augen.

»Das alles ist zu schrecklich. Ich ertrage es nicht, daran zu denken, und doch denke ich unaufhörlich daran und frage mich immer wieder –«

Yootha hielt ihre Freundin eng umschlungen und küßte sie.

»Ich weiß – ich weiß,« sagte sie mit tiefem Mitleid. »Nein, wir wollen nicht davon reden. Hat Henry etwas darüber gesagt?«

»Henry!«

In Coras Stimme lag tiefste Verachtung, beinahe Haß.

»O ja, Henry hat allerdings davon gesprochen. Ich machte ihn auf den Bericht im gestrigen Abendblatt aufmerksam und – ach, du hättest ihn nur hören sollen. Mir war zum Schreien. Ich hätte ihn schlagen mögen. Er hat kein Herz, Yootha, kein Mitgefühl, für nichts und niemand. Zuweilen frag' ich mich, warum ich noch weiter mit ihm zusammenlebe. Er sagte, er hätte für einen Menschen, der sich das Leben nehme, nur Verachtung, die Nebenumstände seien ganz gleichgültig!« – –

*

Wie mancher andere, hatte Henry Hartsilver sich auch während des Krieges mit Benzin zu versorgen gewußt, und als etwas später an diesem Morgen seine Limousine, in der er mit den beiden Damen saß, die Bond Street langsam hinabrollte, fragten sich beurlaubte Offiziere, die den Wagen bemerkten, ob die Menschen in London wohl eine Ahnung davon hätten, was auf der Westfront vor sich ging.

»Wieder Kriegsgewinnler mit ihrem Anhang!« bemerkte ein Hauptmann, der mühsam die Straße heraufhinkte, in grimmigem Ton. »Zuweilen wünsch' ich, die Deutschen könnten hier ein paar tausend Mann landen, um unseren Landsleuten eine Ahnung von der Sache zu geben. Mit wem sprechen sie? Ich glaube, ich kenne das Gesicht.«

Das Auto hatte im Gedränge haltgemacht, und ein großer, gut aussehender, wohlgepflegter. Mann, der nicht mehr als siebenundzwanzig Jahre zählen konnte, hatte seinen Hut gelüftet und war auf das Trittbrett gesprungen, um mit den Insassen einige Worte zu wechseln.

»Das glaub' ich, daß du ihn kennst!« antwortete der Gefährte des Hauptmanns, ein grauhaariger Mann, der wie ein früherer Sportsmann aussah. »Wer kennt' ihn nicht? Das ist Archie La Planta, einer der beliebtesten Menschen der Londoner Gesellschaft, manche meinen, weil er so gut aussieht, ich glaube eher, weil er eine so gute Partie ist.«

»Warum ist er nicht Soldat?«

»Ach, Charlie, wozu die Frage? Warum sind die Hälfte der jungen Leute, die man hier sieht, nicht Soldaten? Sie haben es irgendwie verstanden. Bist du mal mit ihm zusammengetroffen?«

»Ich kann mich beim besten Willen nicht darauf besinnen. Ich war ja drei Jahre in Frankreich. Aber ich bin sicher, ihn irgendwo gesehen zu haben.«

»Da kommt er. Ich will dich bekannt machen. Er. kennt alle Weit und ist ein ganz interessanter Bursche.

La Planta war im Begriff über die Straße zu gehen, als er seinen Bekannten bemerkte. Er zauderte einen Moment und blieb dann stehen, bis die Beiden ihn erreicht hatten.

»Guten Morgen, Archie,« rief Hauptmann Prestons Begleiter. »Preston, darf ich dich mit Mr. La Planta bekanntmachen

Die beiden Männer verbeugten sich.

»Archie, wer sind die Damen, mit denen du gesprochen hast, wenn die Frage erlaubt ist?« fragte der Grauhaarige nach einem Augenblick.

La Planta sagte es ihm.

»Du mußt von Henry Hartsilver gehört haben,« fügte er hinzu. »Auf jeder Liste für öffentliche Kriegsspenden findest du seinen Namen. Ich betone das ›öffentlich‹. Er hat eine reizende Frau.«

»Der Schuft!« erwiderte der andere. »Ich kenne seine ganze Geschichte: einer unserer Kriegsgewinnler!«

»Jawohl, und dazu ein ganz unmöglicher Bursche. Nach welcher Seite geht ihr?«

Langsam schritten die drei in der Richtung auf Piccadilly zu. Preston sprach kaum ein Wort und schien finsterer Stimmung. La Plantas Persönlichkeit stieß ihn ab, obwohl er nicht hätte sagen können, warum.

»Wo frühstücken die Herren?« fragte La Planta nach einer Weile.

»Wir haben nichts verabredet,« erwiderte Prestons Gefährte, der Blenkiron hieß.

»Well, dann kommen Sie zum Lunch zu Ritz und ich will Sie Mrs. Hartsilver und ihrer Freundin vorstellen. Sie wollen mich dort um ein Uhr treffen. Es ist fast der einzige Ort. wo man noch was Anständiges zu essen kriegt. Die Damen werden Ihnen gefallen.«

Es war zwölf Uhr und La Planta, der eine Verabredung in seinem Klub hatte, trennte sich von den beiden anderen, nachdem sie versprochen hatten, um ein Uhr bei Ritz zu sein.

»Der Bursche gefällt mir nicht,« bemerkte Captain Preston nach einer Weile. »Ich hätte es vorgezogen, mit dir allein zu frühstücken, George. Was ist das für ein Mensch?«

Blenkiron zuckte die Achseln,

»Ein vermögender Müßiggänger – das wissen wir. Wer er ist – woher er kommt ...?«

Er machte eine vielsagende Handbewegung.

»Und schließlich, was kommt es darauf an? Weiß man, wer die Hälfte der Menschen sind, die man heutzutage überall trifft? Sie können dir nützlich sein und sind es vielfach, und das ist zwar alles, was die Meisten haben wollen. ›La Planta‹ ist zwar kein englischer Name, aber der Mann sieht wie ein Engländer aus und ist es auch offenbar. Er hat einen oder vielmehr zwei große Freunde, die fast immer mit ihm zusammen sind. Gottlose Leute nennen sie ›die Dreieinigkeit‹. Der eine ist ein Mann mit Namen Aloysius Stapleton, der andere – eine junge Witwe – Mrs. Mervyn-Robertson, ein ganz entzückendes Wesen. Weiß der Himmel, was ihre Schneiderrechnungen betragen mögen!«

»Und wer bezahlt sie?«

»Charlie, das ist nicht nett von dir. Warum sollen wir annehmen, daß sie sie nicht selbst bezahlt?«

»Und warum nicht das Gegenteil? Well, es wird mich interessieren Mrs. Hartsilver beim Lunch kennenzulernen. Ich glaube, ich war noch nie mit der Frau eines Kriegsgewinnlers zusammen.«

Trotz der strengen Nahrungsmittelkontrolle ließ der Lunch im Ritzhotel kaum etwas zu wünschen übrig. Es war der 9. August 1918, der zweite Tag der großen englischen Offensive, aber ein Fremder, der sich in dem bekannten Speisesaal umgesehen hätte, wo jedermann bei bester Laune mit Geld um sich zu werfen schien, hätte schwerlich geglaubt, daß wenige hundert Kilometer von London entfernt Tausende von Menschen erschossen, verstümmelt, gequält und in Stücke zerrissen wurden. Captain Preston ließ der Gedanke nicht los; denn er hatte am Morgen aus dem Kriegsministerium durch das Telefon den wachsenden Donner der Geschütze gehört. Und das war wohl der Grund, warum er finster aussah und, wie Mrs. Mervyn-Robertson auf der Heimfahrt zu La Planta bemerkte, »während der ganzen Mahlzeit nur als reiner Spielverderber wirkt.«

Aloysius Stapleton sah zwar nicht besonders vornehm aus, verstand es aber vom ersten Augenblick der Unterhaltung an das Interesse seiner Zuhörer zu fesseln. Trotz seiner zweiundvierzig Jahre sah er höchstens nach fünfunddreißig aus und besaß außer seiner Unterhaltungsgabe auch eine hervorragende Menschenkenntnis. Er war mehrere Mal, wie er sich ausdrückte, »im Zickzack« um die Welt gereist und schien nicht nur in den Hauptstädten Europas und Amerikas, sondern auch im fernen Osten, in China und Japan, viele Freunde oder wenigstens Bekannte zu haben. Das einzige Land, das er noch nicht besucht hatte, war, wie er beim Lunch bemerkte, Neu-Guinea, aber er hatte die Absicht, auch diese Lücke in seiner Bildung auszufüllen.

»Sind Sie jemals in Shanghai gewesen?« fragte Preston leichthin und sah ihm über den Tisch hinweg gerade in die Augen. Da das erst das zweite Mal war, daß Preston ein Wort sprach, seit man sich zu Tisch gesetzt hatte, so richteten sich alle Augen auf ihn.

»Ja,« erwiderte Stapleton, ohne seinem Blick auszuweichen. »Ich bin einige Jahre vor dem Krieg zweimal dort gewesen.«

»Ich hielt mich im Jahre 1911 mehrere Monate dort auf,« sagte Preston, »und glaube Sie dort getroffen zu haben. Als ich Ihnen soeben vorgestellt wurde, kam mir Ihr Gesicht gleich bekannt vor –.« Er wollte hinzufügen, daß ihm gerade eingefallen war, auch La Planta schon in Shanghai gesehen zu haben, aber er hielt inne.

»Waren Sie im Herbst dort und wohnten Sie im Astorhotel?« fragte Stapleton.

»Allerdings.«

»Dann haben wir uns ohne Zweifel getroffen, obwohl ich mich im Augenblick nicht darauf besinnen kann.«

Einige Sekunden lang sahen sich beide Männer scharf an. Einer schien in den Zügen des anderen lesen zu wollen. Dann lenkte Mrs. Mervyn-Robertson die Unterhaltung schnell auf einen anderen Gegenstand.

»Was haben die Damen und Herren nach dem Lunch vor?« fragte sie.

»Darf ich alle zu mir bitten?« Wir wollen eine Partie Bridge machen, und später kommen einige bekannte Künstler, die etwas singen wollen.«

In Captain Prestons großen Augen lag etwas wie Verachtung, als Mrs. Mervyn-Robertson ihre Einladung ausgesprochen hatte. Das furchtbare Kampfgetöse dort draußen klang ihm wieder in den Ohren. In London, das seine Sicherheit nur dem Heldenmut jener Krieger verdankte, schienen alle – besonders Mrs. Robertson und ihre Freunde – nur für Vergnügen und Zerstreuung Sinn zu haben.

»Vielleicht kommen die Deutschen doch noch einmal her, um ihnen eine Lektion zu geben!« murmelte er, als alle sich vom Tisch erhoben.

Die Einzige, die ihn in dieser Gesellschaft interessierte, war Cora Hartsilver, die zwei Brüder im Felde verloren hatte, wie er von La Planta hörte. Auch Yootha Hagerston war ihm sympathisch. Er fühlte sofort, daß beide von den übrigen ganz verschieden waren.

Aber als er sich in Mrs. Mervyn-Robertsons prachtvoll eingerichtetem Hause befand, konnte er sich nicht lange dem Einfluß entziehen, der von dem behaglichen Luxus auszuströmen schien. Er war kein Kartenspieler, aber stets ein großer Musikfreund gewesen, und als er in den weichen Kissen des großen Lehnstuhles lag, den Mrs. Mervyn-Robertson speziell für ihn hergerichtet hatte, und mit Entzücken den herrlichen Klängen des Tschaikowskyschen Liedes »Nur wer die Sehnsucht kennt« lauschte, schwanden die Greuelszenen, die er »draußen« erlebt hatte, ganz aus seinem Sinn, und er vergaß sogar den dumpfen Schmerz in seinem verletzten Bein.

Als die Musik verklungen war, lenkten einige Neuangekommene Gäste, die den Namen Hartsilver wiederholten, seine Aufmerksamkeit auf ihr Gespräch.

»Eine schreckliche Geschichte – und seine Frau, die sich da drüben unterhält, weiß noch nichts davon.«

»Wann ist es geschehen?«

»Gegen Mittag. Es muß vorher überlegt gewesen sein; denn als er tot im Bade aufgefunden wurde, hatte er sich die Adern mit dem Rasiermesser geöffnet.«


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