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Kapitel VI.
Cora Hartsilvers Geständnis.

Obgleich Yootha Hagerston schon seit einiger Zeit im Besitz der kleinen Erbschaft war, die ihre Tante ihr vermacht hatte, hielt sie es doch nicht für nötig ihre Lebensweise zu ändern oder ihre bescheidene Wohnung in Knightsbridge gegen eine vornehmere zu vertauschen, wie manche ihrer snobbischen Bekannten erwartet hatten.

Trotzdem bemerkten manche, daß sie sich in der letzten Zeit verändert hatte. Sie sah nachdenklich und zerstreut aus, und das brachte viele auf allerhand Vermutungen. Einige gaben zu verstehen, daß »ein Mann im Spiele sein müsse,« obwohl niemand imstande war zu sagen, wer es sein könnte, da Yootha durchaus nicht viel in Männergesellschaft verkehrte. Sie gab im Gegenteil häufig zu verstehen, daß die Gesellschaft junger Männer, ja auch solcher mittleren Alters, sie langweile.

»Willst du mir nicht sagen, Yootha, was in der letzten Zeit mit dir los ist?«

So sprach eines Tages Cora Hartsilver zu ihrer Freundin, während sie zärtlich den Arm um ihren Hals legte.

»Kannst du mir nicht ein Wörtchen sagen?« fuhr sie schmeichelnd fort, als Yootha sich sanft loszumachen suchte. »Haben wir uns nicht immer alles gesagt, was wir auf dem Herzen hatten? Sag' nicht, daß es gar nichts ist. Seit Wochen bemerke ich eine Aenderung an dir – und andere haben sie auch bemerkt. Wer ist es, Liebling? Oder – darf ich vielleicht raten?«

»Cora, was für einen Unsinn du redest!« antwortete das junge Mädchen. »Es geht mir ausgezeichnet und ich habe nichts – gar nichts auf dem Herzen.«

»Dein Wort?«

»Mein –«

Sie hielt plötzlich inne.

»Aha! Ich wußte, daß du – wie Washington – keine Lüge aussprechen kannst!« rief Cora lachend. »Darf ich also raten?«

»Rate nur soviel du willst, wenn es dir Spaß macht! rief Yootha leicht errötend aus. »Ich nehme an, du glaubst, daß ich verliebt bin. Warum bilden sich verheiratete Frauen immer ein, daß jedes junge Mädchen unbedingt verliebt sein muß! Das ist eine verrückte Idee. Wie ich dir oft gesagt habe, langweilen mich die Männer im allgemeinen. Die meisten von ihnen – ganz wenige in Bohemekreisen ausgenommen – scheinen nicht sechs eigene Gedanken zu haben.«

»Natürlich sind viele Männer dumm,« erwiderte Cora lachend. »Aber doch nicht alle? Erinnerst du dich eines kleinen Frühstücks bei Ritz, Yootha?« fuhr sie fort. »Archie La Planta hatte uns eingeladen und unter den Gästen befand sich ein Mann, den alle langweilig fanden – besonders Mrs. Mervyn-Robertson hatte Mühe ihr Mißfallen zu verbergen – und doch bin ich gewiß, daß Captain Charlie Preston auch an diesem Tage einen so tiefen Eindruck auf dich machte, wie kein anderer Mann je zuvor und –«

Sie verstummte plötzlich, denn der Gesichtsausdruck ihrer Freundin hatte sich ganz verändert. Ihre Augen leuchteten und ihre Lippen bebten. Heftig ergriff sie Coras Handgelenk.

»Wer hat es dir gesagt?« fragte sie mit unterdrückter Stimme. »Ich dachte, kein Mensch hätte was geahnt.«

»Natürlich. Himmel. Yootha, ich hab' es seit Monaten gewußt! Gleich das erstemal bei Ritz hab' ich es bemerkt und mich nur seitdem gewundert, daß du mir kein Wort darüber sagen wolltest. Hat er mit dir gesprochen?«

»Gesprochen? Nein. Welche Frage!«

»Ja, allerdings, es ist töricht, ein Mädchen zu fragen, ob ein Mann, der sie liebt –«

»Sag' das noch einmal!« unterbrach sie Yootha in tiefer Erregung. »Glaubst du wirklich, daß –«

»Daß er dich liebt? Ich glaub' es nicht nur, ich weiß es.«

»Wie? Wer hat es dir gesagt?«

»Ach, Yootha, wir sprachen eben von dummen Menschen. Du bist das dümmste Mädchen, das ich kenne.«

Yootha fiel ihr um den Hals und gestand alles. Sie erzählte der Freundin rückhaltslos, wie sie sich vom ersten Augenblick an in den stummen, schwer verwundeten Offizier verliebt hatte. Und seit der Stunde, als sie zusammen Tschaikowskys ergreifendem Lied »Nur wer die Sehnsucht kennt« gelauscht hatten, war ihre Liebe und ihr Mitleid mit dem verwundeten Mann von Tag zu Tag gewachsen.

Die beiden Frauen hatten sich auf das kleine Sofa niedergelassen. Und jetzt war Cora Hartsilver seltsam einsilbig geworden. Yootha betrachtete sie mit Erstaunen.

»Was ist mit dir, Cora?« fragte sie plötzlich. »Hat ein Wort von mir dich verstimmt?«

»Verstimmt? Nein, wirklich nicht,« sagte Cora und drückte der Freundin die Hand. »Nein, ich dachte nur an – es war nur – –«

Sie rang nach Atem und Yootha hörte einen Seufzer.

»Cora, Cora,« rief sie aus. »Sag' mir alles! Woran denkst du?«

Sie hielten sich fest umschlungen. Plötzlich brach Cora Hartsilver in Tränen aus.

»Ich wollte es niemanden sagen,« brachte sie endlich hervor, als Yootha sie ein wenig beruhigt hatte. »Aber was du von deiner Liebe sagtest, hat alles wieder neu erweckt. Versprichst du mir, mit keinem Menschen davon zu reden, wenn ich es dir sage?«

»Natürlich. Ich gebe dir mein Wort darauf. Was ist es, Cora? Du kannst mir vertrauen, wie ich dir alles anvertraut habe. Du weißt doch, daß ich verschwiegen bin, nicht wahr?«

Cora schwieg noch eine Weile und trocknete ihre Tränen. Dann sagte sie leise:

»Du hast doch Sir Stephen Lethbridge nicht vergessen?«

»Vergessen? Wie sollte ich?«

»Yootha, ich hab' ihn geliebt. Ich liebte ihn, als ich heiratete, und nach meiner Hochzeit wuchs meine Liebe, so daß ich nicht mehr wußte, was ich tun sollte.«

»Aber warum hast du mir nie ein Wort davon gesagt, Cora? Ich hatte nicht den leisesten Verdacht. Hat Henry etwas vermutet?«

»Nein, aber Henry war zu stumpf, um etwas zu bemerken. Als ich die Todesnachricht in der Zeitung las, war er zugegen, aber es gelang mir – ich weiß selbst nicht, wie – meine Gefühle zu verbergen. Und als wir am nächsten Tage mit Captain Preston bei Ritz speisten, ließ ich mir auch nichts merken, nicht wahr? Und doch blutete mir das Herz.«

Sie schwieg einen Augenblick. Dann fuhr sie fort.

»Und an diesem Tage starb Henry! Wenn er nur etwas früher gestorben wäre – denk' doch, Yootha, ich hätte Stephen retten können, er würde heute leben und –«

Sie brach von neuem in krampfhaftes Schluchzen aus. Geraume Zeit verging, ehe es der Freundin gelang, sie zum zweitenmal zu trösten.

»Aber wie hättest du ihn retten können, selbst wenn Henry früher gestorben wäre?« fragte Yootha.

»Eine Woche vorher hatte Stephen mir geschrieben und mich gebeten, zu ihm zu kommen. Er schrieb, er hätte schwere Sorgen – irgend etwas, was er brieflich nicht mitzuteilen wagte. Du weißt, wir waren Freunde von Kindheit an – als Knabe beichtete er mir alle seine Streiche. Aber ich konnte ja nicht fort. Was hätte ich Henry vorschützen können? Daß eine Frau vor ihrem Manne ein Geheimnis haben könnte, wäre ihm nie eingegangen. Aber der Ton von Stephens Brief erschreckte mich. Sofort kam mir der Gedanke, daß er etwas schreckliches im Sinne hatte, wenn ich auch nicht – an so etwas dachte.«

»Wußte er, daß du ihn liebtest?«

»Ja, seit langer Zeit. Er sah in mir seinen besten Freund. Ich quäle mich mit dem Gedanken, was ihn wohl in den Tod getrieben hat. Er soll in schlechte Gesellschaft geraten sein, zu viel Geld ausgegeben haben. Vielleicht sind das bloß falsche Gerüchte. Aber auch wenn es so wäre, das ist doch kein Grund, sich das Leben zu nehmen! Ich bin überzeugt, daß er mir sagen wollte, was ihn zum Selbstmord trieb.«

»Cora, bei deinen Worten muß ich an Lord Froissart denken. Er setzt wie ich höre, alle Hebel in Bewegung, um herauszufinden, warum Vera, wie alle Welt weiß, sich das Leben genommen hat. Er vermutet irgend ein Geheimnis und glaubt, daß Mrs. Mervyn-Robertson den Grund kennt. Sie war mit Vera nah befreundet.«

»Yootha!« rief Mrs. Hartsilver aus, die sich wieder zu fassen schien, »ich wollte dir sagen, daß Lord Froissart heute abends herkommt. Zuerst hab' ich es verschwiegen, weil er auf meine Bitte Captain Preston mitbringt. Ich wollte dich damit überraschen.«

Yootha hatte Mühe, ihre Bewegung zu beherrschen. Im Ueberschwang ihrer Freude zog sie ihre Freundin an sich und küßte sie.

»Wie reizend von dir, Cora!« rief sie. »Das sieht dir ganz ähnlich. Immer machst du anderen Freude. Wann sollen sie hier sein?«

»Lord Froissart speist mit Captain Preston im Klub. Er wollte nach dem Essen herkommen.«

So geschah es, daß drei Tage nach dem letzten Ereignis im Detektivbureau, Lord Froissard sich mit Captain Preston und den beiden Freundinnen in Coras Salon zusammenfand.

Nach einigen gleichgültigen Worten, mit denen man sich begrüßte, ging die Unterhaltung, wie es unvermeidlich war, sogleich zu dem Gegenstand über, der alle aufs höchste interessierte. Lord Froissart hatte gerade von dem unliebsamen Vorkommnis berichtet, das er in dem Hause mit dem Bronzegesichte erlebt hatte, als Cora plötzlich die Frage aufwarf:

»Wäre nicht die Londoner Geheimagentur imstande, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der zur Aufklärung der zahlreichen Todesfälle führen könnte, die uns in der letzten Zeit beunruhigen? Sie, Lord Froissart, und ich, wir haben beide allen Grund, eine solche Aufklärung anzustreben.«

Eine Zeitlang sprach keiner ein Wort. Cora Hartsilver und Lord Froissart kannten sich seit Jahren und hatten vor etwa vier Wochen bereits von dieser Frage gesprochen.

»Well, da sie diese Frage aufs Tapet gebracht haben,« sagte er endlich, »so will ich ihnen sagen, daß ich gerade in dieser Absicht die Agentur aufgesucht habe. Diese Reihe von Trauerfällen ist so auffallend, daß jeder nach einer geheimen Ursache suchen muß. Und der Tod ihres Gatten Mrs. Hartsilver, hat mich am meisten verblüfft, wenn ich mich so äußern darf. Ich kann aufrichtig sagen, daß ich ihm von allen meinen Bekannten am wenigsten einen Selbstmord zugetraut hätte. Er schien vor dem bloßen Gedanken daran zu schaudern.«

»Ich wüßte gerne, Mrs. Hartsilver,« sagte Captain Preston und richtete seine großen grauen Augen auf sie, »ob sie mir etwas über die Frau sagen könnten, deren Namen jetzt in aller Munde und deren Bild in allen illustrierten Blättern zu finden ist – ich meine Mrs. Mervyn-Robertson.«

Ein gespanntes Schweigen folgte diesen Worten.

»Ich fürchte nicht,« sagte Cora nach einer Weile. »Man sagte, sie sei australischer Herkunft und daß ihr Vater Schafzüchter war.«

»Das habe ich auch gehört«, erklärte Lord Froissart.

»Dann haben drei von uns es gehört«, bemerkte Captain Preston, »und zwar aus verschiedenen Quellen. Und doch hat mir mein Freund George Blenkiron, der zwanzig Jahre in Australien gelebt hat und das Land aufs genaueste kennt, heute nachmittags versichert, daß es dort keinen Schafzüchter dieses Namens gibt, noch, soweit er sich entsinnen kann, jemals gegeben hat.«

»Aber Mervyn-Robertson muß doch der Name ihres Mannes sein?« bemerkte Yootha.

»Ganz recht. Aber seltsamerweise ist Robertson ihr Mädchennamen. Blenkiron weiß es ganz genau, obgleich er nicht in London lebt und nicht viel in Londoner Gesellschaft verkehrt. Er hat es zufällig, auf höchst seltsame Weise erfahren.«


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