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Kapitel XVIII.
Was Doktor Johnson wußte.

Eine Reihe neuer Selbstmorde versetzte die Londoner Gesellschaft in große Unruhe. Nicht weniger als sieben Männer und fünf Frauen von Rang und Vermögen machten im Verlauf weniger Wochen ihrem Leben ein Ende, und sogar die Zeitungen begannen nach dem Grund dieser Epidemie zu fragen, die sogar das verhängnisvolle Jahr 1918 an Heftigkeit zu übertreffen schien.

Es fehlte nicht an Versuchen, die unheimliche Tatsache zu erklären. Aber alle diese Versuche erwiesen sich als unhaltbar, und die meisten wandten sich der Ansicht zu, daß reiche Nichtstuer so wenig Gelegenheit haben, ihren Charakter zu stählen, daß sie bei den geringsten Anlässen das innere Gleichgewicht verlieren und in den Tod gehen.

Diese Ansicht teilte in gewissem Maße auch Doktor Johnson, und er setzte sie eines Tages auch Blenkiron auseinander, mit dem er öfters im Klub zusammentraf.

»Unser gemeinsamer Freund Preston,« erwiderte Blenkiron, »macht mir schwere Sorgen. Er hat sich in der letzten Zeit so verändert, daß ich mich – im Vertrauen gesagt – nicht wundern würde, wenn auch er ein Opfer dieser Selbstmordepidemie würde.«

»Nicht möglich!« rief Johnson aus. »Er ist der letzte, von dem ich das glauben könnte. Ich muß ihn unbedingt sprechen. Wann könnte man ihn sehen?«

»Wir wollen ihn zum Lunch einladen. Merkwürdigerweise hat auch Miß Hagerston, die er heiraten will, sich sehr verändert.«

Aber bevor es noch zu dieser Einladung kam, erhielt Doktor Johnson einen unerwarteten Besuch, der ihn über manches aufklärte.

Es war Cora Hartsilver, die ihn aufsuchte. Sie hatte ihn in der Zeit kennen gelernt, als Yootha sich wegen des Perlenhalsbandes in so großen Schwierigkeiten befand.

Cora rief den Arzt telephonisch an und kam am Nachmittag desselben Tages zu ihm.

»Ich möchte Sie wegen meiner Freundin. Miß Hagerston, sprechen,« sagte sie. »Sie hat mir erzählt, daß sie das Vergnügen hatte. Sie in Henley zu treffen.«

»Ja, und ich hatte das Vergnügen, ihr zu ihrer Verlobung zu gratulieren. Sie ist doch nicht krank, hoffe ich?«

»Doch, ernstlich krank, wenn auch nicht im gewöhnlichen Sinne. Sie ist seelisch krank, wenn ich mich so ausdrücken darf.«

»Das tut mir leid. Können Sie mir etwas Näheres sagen?«

»Ja. Seit der Rückkehr aus Henley wohnt sie bei mir. Sie hielt es nicht mehr allein in ihrer Wohnung aus, wie sie mir sagte, weil sie in der Nacht von schweren Träumen gequält wurde. Sie hat irgend etwas auf dem Herzen, was sie mir trotz unserer nahen Freundschaft nicht mitteilen will. Deshalb habe ich mir erlaubt, Ihren Rat zu erbitten, ohne ihr etwas davon zu sagen.«

»Wäre es nicht besser, wenn ich sie sähe?«

»Ich glaube nicht, wenigstens nicht jetzt. Ihr Besuch würde sie mißtrauisch machen, denn sie will von einem Arzt nichts hören.«

»Macht ihr vielleicht ihre baldige Heirat Sorgen?«

»Ach nein! Captain Preston ist ihr einziger Gedanke. Ich glaube sogar, daß sie sich um ihn am meisten Sorgen macht. Er sieht schwer bekümmert aus.«

»Ja, Blenkiron hat mir davon erzählt.«

»Nun, Doktor Johnson, was können Sie mir raten?«

Der Arzt schwieg eine Zeitlang.

»Sie sagen, daß Miß Hagerston sich seit der Henleywoche so verändert hat?« fragte er zuletzt.

»Seit dem Morgen des dritten Tages. Sie war am zweiten Tag mit Captain Preston dort.«

»Ja, an diesem Tag habe ich sie auf Mrs. Mervyn-Robertsons Hausboot getroffen. Sie sahen beide strahlend glücklich aus.«

Er dachte wieder eine Weile nach. Plötzlich fragte er:

»Wo hat Miß Hagerston die folgende Nacht geschlafen?«

Cora hatte die Frage nicht erwartet und errötete heftig. Dann sagte sie verlegen:

»Ich denke, in ihrer Wohnung.«

»Sie wissen es nicht genau?«

»Nein, wie sollte ich?«

»Sie sind mit ihr eng befreundet, Mrs. Hartsilver! Sie ist doch nicht etwa die Nacht auf Prestons Hausboot geblieben?«

»Aber Doktor Johnson! Allein mit ihm!«

Sie wich seinem scharfen Blick aus.

»Warum wollen Sie mit mir nicht offen sein, Mrs. Hartsilver?« sagte er leise. »Sie ist die Nacht mit ihm auf dem Boot geblieben, und Sie wissen es.«

Cora war in großer Angst.

»Um Gotteswillen, Doktor, sagen Sie es niemandem! Denken Sie, was man daraus schließen würde!« Und in wenigen Worten erzählte sie ihm, wie sie sich mit Yootha verfehlt hatten, und was darauf geschehen war. »Nur Prestons Diener weiß es, ein absolut verschwiegener Mensch,« fügte sie hinzu.

Johnson ging im Zimmer auf und ab.

»Natürlich bleibt alles das unter uns,« sagte er, »aber die Tatsache bleibt bestehen, daß wir nicht wissen, was in der Zeit geschehen ist, die zwischen ihrem Besuch bei Mrs. Mervyn-Robertson und ihrer Ankunft auf Prestons Boot lag.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr Cora auf.

»Sie mißverstehen mich, Mrs. Hartsilver,« sagte Johnson ruhig. »Sagen Sie mir, sind Miß Hagerston und Captain Preston mit Mrs. Mervyn-Robertson so befreundet, wie es an dem Tag den Anschein hatte? Sie standen doch früher, sozusagen, auf gespanntem Fuß?«

»Schlimmer als das,« erwiderte Cora lebhaft.

»Mrs. Mervyn-Robertson haßt Yootha beinahe so sehr wie mich. Im Vertrauen will ich Ihnen sagen, daß wir beide mit Preston und einigen anderen den Verdacht hatten, daß Mrs. Mervyn-Robertson und ihre Freunde, Stapleton und La Planta eine Art Hochstapler oder gar Schlimmeres wären. Wir haben sogar durch die Londoner Geheimagentur Nachforschungen über sie anstellen lassen, was ihnen ohne Zweifel zu Ohren gekommen ist. Ich glaube, Preston und Yootha waren nur aus Neugier auf die Teegesellschaft gegangen und sehr erstaunt über den freundlichen Empfang. Sie hätten nicht hingehen sollen.«

Johnson lächelte.

»Wenn es so steht, Mrs. Hartsilver, so werden Sie mich vielleicht in den kleinen Bund aufnehmen, der Mrs. Mervyn-Robertson und ihre Freunde im Verdacht hat, nicht ganz das zu sein, was sie vorstellen. Sagen Sie, ist Captain Preston nicht vor Jahren in Shanghai gewesen?«

»Ja, er hat davon gesprochen.«

»Nun, von Mitte 1910 bis Ende 1912 habe ich in Hongkong praktiziert. Ich kam oft nach Shanghai, wo ich einen Vertreter hatte, und ich möchte darauf wetten, daß eine gewisse junge Frau von zweifelhaftem Ruf, die in Shanghai Angela Robertson hieß, und Mrs. Jessica – eine und dieselbe Person sind. Ihr Mann, Fobart Robertson, war ein Abenteurer und mit Stapleton, der im Astorhotel in Shanghai lebte, sehr befreundet. Eines Tages fand Fobart den Boden zu heiß – und das will in Shanghai etwas sagen! – und verschwand. Stapleton, der wohlhabend und gastfrei war, nahm bald seine Stelle ein, und die Gesellschaft drückte ein Auge zu. Man ist dort weniger streng als hier. Interessiert Sie das, Mrs. Hartsilver?«

»Im höchsten Grade!« rief Cora aus. »Weiß Captain Preston etwas davon?«

»Ich glaube nicht. Da ich noch keine Beweise habe, so darf ich noch nicht öffentlich davon sprechen. Es könnte mir Unannehmlichkeiten zuziehen und meiner Praxis schaden.«

»Aber Preston werden Sie es sagen?«

»Es wäre mir lieber, Sie täten es, Mrs. Hartsilver.«

Cora lächelte.

»Damit, wenn einer Unannehmlichkeiten hat, nicht Sie es sind?«

»Ganz recht,« erwiderte Johnson lachend. Nach einer Weile sagte er:

»Und nun will ich Ihnen einen Gedanken mitteilen, über den Sie sich vielleicht wundern werden. Was Preston und Miß Hagerston an dem Abend zugestoßen ist, wissen wir nicht. Aber ich habe das Gefühl, daß Mrs. Mervyn-Robertson und ihre Freunde ihre Hand dabei im Spiele hatten.«

»Aber was soll ihnen denn zugestoßen sein, Doktor Johnson?« –

Nach einer kurzen Pause antwortete der Arzt: »Fast jeder, auch der tugendhafteste Mensch kann in die Hände von – Erpressern geraten. Nehmen Sie, zum Beispiel, an, Preston und Ihre Freundin wären in einer scheinbar kompromittierenden, wenn auch in Wahrheit ganz harmlosen Situation überrascht worden – und jetzt – Erpressungsversuchen ausgesetzt.«

Cora starrte ihn erschreckt an.

»Aber was sind das für Menschen?« stammelte sie.

»Meine persönliche Ansicht,« antwortete Johnson, »geht dahin, daß die meisten Selbstmorde, die in der letzten Zeit geschahen, auf Erpressungsversuche zurückzuführen sind. Und ich habe den Eindruck, als gingen alle diese Versuche von einer Person oder wenigstens von einer und derselben organisierten Bande aus.«

Cora war in tiefe Gedanken versunken. Sie dachte an ihren Mann – an den jungen Sir Stephen Lethbridge – an Viscount Molesley und die verbrannten Briefreste in seinem Kamin. Schnell erhob sie sich und drückte dem Arzt die Hand. Dann eilte sie hinaus.


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