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Kapitel XXI.
Der Unbekannte.

Jessica hatte beinahe den Platz der Tante eingenommen, die Yootha nach Dieppe begleiten sollte. Sie hatte es verstanden, Yoothas Herz in wenigen Stunden zu gewinnen. Alles, was ihr verdächtig erschien, war vergessen; ja, sie machte sich und ihrer Freundin Cora den Vorwurf, diese Frau ganz ungerecht beurteilt zu haben. Ein magischer Zauber schien von Jessica auszugehen, dem das junge Mädchen nicht widerstehen konnte.

Fast den ganzen folgenden Tag verbrachten sie zusammen und am Abend sollte das Spiel wieder beginnen.

Preston hatte sich entschuldigt. Er sagte, daß das Kasino ihn langweilte; in Wahrheit konnte er Jessicas Gesellschaft nicht ertragen und Yootha nicht am Spieltisch sehen. Er wußte, daß ein Widerspruch nichts genutzt hätte. So brach er mit einem Artilleriemajor, den er im Royal Hotel kennengelernt hatte, und der, wie Preston selbst, vier Jahre im Feld gewesen war, auf, um einen Abendspaziergang auf die Höhen hinter der Stadt zu machen, während Jessica und Yootha in das Kasino hinübergingen, wo sie Stapleton und La Planta treffen sollten.

Es war eine jener stillen, warmen, balsamischen Nächte, die in England so selten sind. Als Preston und sein Begleiter die steile Anhöhe erstiegen hatten, war der Mond aufgegangen, der über Straßen und Häuser hinweg meilenweit das Meer beschien. Sie ließen sich nieder und betrachteten das schöne Panorama. Ihr Blick viel auf das hellerleuchtete Kasino.

»Spielen Sie gar nicht?« fragte der Major, dessen Name Guysburg war, zündete sich eine Zigarre an und bot Preston eine andere.

»Jetzt nicht mehr,« antwortete Preston in trockenem Ton. »Ich habe früher zu viel gespielt, als ich noch beinahe ein Knabe war.«

Der Major lachte.

»Knaben wollen Knaben sein,« sagte er leichthin und blies den Rauch in die Luft.

»Und Narren wollen Narren sein,« gab Preston zurück. »Ich war einer von ihnen und habe es teuer bezahlen müssen.«

»Und Sie haben doch nichts dagegen, daß Ihre zukünftige Gattin spielt?«

»Im Grunde habe ich sehr viel dagegen,« sagte Preston schnell. »Unglücklicherweise hat Miß Hagerston gestern hier eine Bekannte getroffen – die große, hübsche Frau –, die sie zum Spiel überredete. Sie haben viel Geld gewonnen und Miß Hagerston war so begeistert, daß sie Mrs. Mervyn-Robertson versprach, heute Abend wieder mit ihr zu spielen. Ich habe sie nicht davon abbringen können und hoffe nur, daß ihr Glück heute umschlägt, damit sie zur Vernunft kommt.«

Der Major schwieg eine Weile, dann fragte er: »Wer sind die beiden Männer, die man immer mit Mrs. Mervyn-Robertson – so sagten Sie doch? – zusammen sieht?«

»Ihre Freunde. Sie sind auch in London beständig mit ihr zusammen, wo sie in der Gesellschaft sehr bekannt ist. Manche sagen, daß kein Roman oder Skandal dahintersteckt, andere sind nicht dieser Meinung.«

Dann sprachen sie längere Zeit über den Krieg. Plötzlich sagte der Major:

»Ich habe heute im Hotel einen Mann bemerkt, der vor dem Krieg einen eigenartigen Ruf hatte – er heißt Michaud, Alphonse Michaud. Haben Sie was von ihm gehört?«

»Merkwürdig, daß Sie mir diese Frage stellen,« sagte Preston. »Ich wurde gestern auf ihn aufmerksam gemacht – ein schwarzhaariger, jüdisch aussehender Mann?«

»Das ist er. Er war in einige dunkle Sachen vor dem Krieg verwickelt, und man sagt mir, daß er jetzt in London mit großem Erfolg ein Detektivbüro leitet.«

»Was wissen Sie über ihn?« fragte Preston mit Interesse. »In London sagt man, daß die Agentur ihre Erfolge mit zweifelhaften Mitteln erzielt.«

»Das glaub' ich gerne.« antwortete Major Guysburg, »wenn Michaud sie leitet. Er ist fraglos ein ungewöhnlich kluger Mensch. Vor acht bis zehn Jahren war er in einen Juwelendiebstahl verwickelt: Ein Juwelier in Amsterdam – wo ich damals lebte – ließ durch ihn Diamanten versichern, die bald auf eine rätselhafte Weise verschwanden. Die Versicherungssumme wurde Michaud unter Protest ausgezahlt, aber man war allgemein der Ansicht, daß er die Steine selbst gestohlen hatte. Noch manches andere wurde von ihm erzählt. Er sollte ein eigenartiges Parfüm, ein Gift in seinem Besitz haben, das den Menschen für einige Zeit das Gedächtnis nahm, nachdem sie damit betäubt worden waren.«

Prestons Interesse wuchs mit jedem Augenblick. Er erzählte dem Major, was er auf dem Ball in der Alberthalle erlebt hatte und fuhr dann fort:

»Was mich am meisten an Ihrer Mitteilung interessiert, ist, was Sie über das Gift sagen. Bei der Gerichtsverhandlung gab der Mann, von dem ich sprach, zu, ein solches Gift aus Shanghai zu beziehen. Bei einer anderen Gelegenheit wurde La Planta selbst mit dem Gift betäubt.«

»La Planta! Der Name kommt mir bekannt vor,« rief der Major und rieb sich die Stirn.

»La Planta ist der jüngere von Mrs. Mervyn-Robertsons Freunden.«

»Was? Dann sind die Dame und ihre beiden Freunde mit Michaud bekannt?«

»Nein, sie sollen sich nur dem Aussehen nach kennen.«

»Jetzt fällt es mir ein!« rief Major Guysburg plötzlich aus. »La Planta hieß der Vertreter einer Versicherungsgesellschaft in Amsterdam, der bei der Untersuchung des Diamantendiebstahls als Sachverständiger vernommen wurde. Und der Direktor dieser Gesellschaft war Lord Froissart, der sich kürzlich in London das Leben nahm.«

»Ist das nicht merkwürdig, Major Guysburg?« rief Preston aus. »Wir treffen uns zufällig, machen einen Spaziergang, und es erweist sich, daß jeder von uns Dinge weiß, die den anderen aufs höchste interessieren! Wie lange bleiben Sie in Dieppe? Ich möchte noch über manches mit Ihnen reden.«

»Ich gedenke noch acht bis zehn Tage hier zu bleiben, und dann vielleicht nach Newyork zu fahren.«

Es war schon spät, als sie in das Royal-Hotel zurückkehrten, aber weder Yootha noch Mrs. Mervyn-Robertson waren zu sehen. Preston wollte nach ihnen fragen, als er Alphonse Michaud mit seinen Begleiterinnen eintreten sah.

»So etwas ist mir noch nicht vorgekommen!« sagte der Franzose. »Diese Frau scheint die Tische behext zu haben.« Er wandte sich an den Hoteldirektor, der gerade vorbeiging:

»Sagen Sie, sprengt man oft die Bank in Ihrem Kasino?«

»Die Bank?« wiederholte der Direktor lächelnd. »Ich bin zweiundzwanzig Jahre hier und kann mich nur eines Falles erinnern. Das muß etwa fünfzehn Jahre her sein, und der Mann war der Sohn von Don Charlos – kurz zuvor hatte er in Monte Carlo sechzigtausend Pfund gewonnen und mitgenommen. Hat jemand heute die Bank gesprengt?« fragte er lachend.

»Ja, die große hübsche Dame, die hier wohnt und immer in Begleitung eines älteren und eines jüngeren Herrn erscheint. Wer ist sie?«

»Sie müssen Mrs. Mervyn-Robertson meinen,« antwortete der Direktor.

»Sie setzte sich gegen neun Uhr mit ihren Freunden und einem jungen Mädchen an den Roulettetisch, und von Anfang an war das Glück auf ihrer Seite. Sie brauchte nur auf eine Nummer zu setzen, damit sie herauskam. Nach einiger Zeit entstand an dem Tisch ein so starkes Gedränge, daß nur die Sitzenden spielen konnten. Schließlich erklärte der Croupier, daß die Dank gesprengt wäre und an diesem Abend nicht mehr gespielt werden könnte.«

»Entschuldigen Sie,« fiel Preston ein, wissen Sie vielleicht, ob die Herrschaften, von denen Sie sprechen, jetzt ins Hotel zurückkehren? Ich bin mit ihnen befreundet.«

Michaud sah ihn scharf an.

»Waren Sie nicht gestern mit ihnen zum Souper im Kasino?« fragte er. »Ich glaube Sie dort gesehen zu haben.«

»Sehr möglich. Ich war mit ihnen zusammen.«

»Ja, sie sind jetzt wahrscheinlich auf dem Heimweg. Sie warteten, als ich sie zuletzt sah, auf weiteren polizeilichen Schutz,« fügte er lachend hinzu. »Sie hätten auch dort sein sollen. Sir! Sie haben eine Gelegenheit versäumt, die nie wiederkehrt; denn sie setzten alle auf dieselben Nummern und Sie hätten es ebenso gemacht.«

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein Wagen vor dem Hoteleingang hielt, aus dem Jessica mit ihrer Gesellschaft und zwei Polizeioffizieren stieg.

Preston sah sofort, daß Yootha beinahe hysterisch war. Sie lachte ohne Grund und sprach den größten Unsinn. Außer ihrer dickgeschwollenen Handtasche trug sie einen groben Sack am Arm, der oben festgebunden war. Sie stürzte auf ihn zu, warf ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn leidenschaftlich vor der ganzen Gesellschaft.

»Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, Ihnen zu gratulieren,« sagte Michaud mit einer tiefen Verbeugung. »Ich habe den ganzen Abend Ihr erstaunliches Glück bewundert. Ich nehme an, das Kasino wird froh sein, Sie zum letzten Mal zu sehen,« fügte er lachend hinzu, »aber nur das Kasino,« – er warf einen Blick auf Yootha – »gute Nacht, meine Damen und Herren.«

Er verbeugte sich vor Preston und verschwand mit seinen Begleiterinnen im Treppenhaus.

Eine Viertelstunde lang unterhielt sich die Gesellschaft mit Preston und Major Guysburg über den aufregenden Abend. Von Zeit zu Zeit kamen Gäste aus dem Kasino und brachten – mit Entschuldigungen – ihre Glückwünsche dar. Nur Preston und der Major schienen ihre Ruhe zu bewahren.

Als Preston sich von Yootha im Korridor mit einem Kuß verabschiedete, sagte sie ihm:

»Hast du vergessen, Schatz, was in Henley passiert ist?« Wir müssen über Cora eine Entscheidung treffen.«

Preston sah sie sprachlos an.

»Jessica,« fuhr Yootha fort, »hat mir heute Andeutungen über Cora gemacht. Wenn sie wahr sind, kann ich nie wieder ein Wort mit Cora reden.«


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