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Kapitel l.
Das geheimnisvolle Sterben.

»Ist das nicht furchtbar, Henry? Wann wird das ein Ende nehmen?«

»Was ist furchtbar? Und was soll ein Ende nehmen?«

»Wie? Hast du die heutige Abendzeitung nicht gelesen?«

»Nein.«

»Hier ist sie; lies das!«

Mit diesen Worten überreichte Mrs. Hartsilver ihrem Gatten den Evening Herald und wies mit dem Finger auf einen Abschnitt der Lokalnachrichten hin, der die Aufschrift »Wieder eine Gesellschaftstragödie« trug. Er enthielt die Mitteilung, daß ein bekannter Aristokrat unter höchst geheimnisvollen Umständen erschossen in seinem Bett aufgefunden worden war.

Die Reihe der Trauerfälle, die im Verlauf der letzten acht Monate in der sogenannten »Gesellschaft« stattgefunden hatten, war in der Tat sehr auffallend.

Zuerst hatte ein reicher Lord und Grundbesitzer in Warwickshire, der zugleich eines der schönsten Häuser in London besaß, sich in den Cowriesee gestürzt, ohne irgendeinen Grund anzugeben oder seiner Frau, mit der er seit acht Jahren in den besten Beziehungen lebte, ein Abschiedswort zu hinterlassen.

Dann war Viscount Molesley, ein reicher Junggeselle von zweiunddreißig Jahren, der als Besitzer von Vollblutpferden in Sportkreisen wohlbekannt war, eines Morgens in seinem Schlafzimmer erschossen aufgefunden worden. Ein Revolver lag auf dem Fußboden und im Kamin waren Aschenreste verbrannter Papiere zu sehen: er hatte offenbar nach Empfang seiner Morgenpost seinem Leben ein Ende gemacht.

Darauf folgte der geheimnisvolle Tod von Lord Froissarts jüngerer Tochter, die im Hause ihres Vaters, im Wohnzimmer, plötzlich verschieden war, ohne daß die gerichtliche Untersuchung zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, als daß offenbar ein Schlaganfall den Tod verursacht hätte. Madame Vandervelt, deren Ruf durch drei Ehescheidungen ein wenig gelitten hatte, stürzte sich aus dem Fenster eines vornehmen Westendhotels und ein wohlhabender Börsenmakler, Besitzer zweier Finanzblätter, endete sein Leben durch Gift. Es folgten noch vier oder fünf Fälle ähnlicher Art und immer war das Opfer ein Mann oder eine Frau von hoher gesellschaftlicher Stellung und großem Einkommen.

»Genau wie Molesley,« bemerkte Henry Hartsilver trocken, als er den Bericht über Sir Stephen Lethbridges Tod gelesen hatte, der auf seinem Landsitz in Cumberland tot aufgefunden worden war.

Er zuckte die Achseln.

»Du wirst mich vielleicht für hart und gefühllos halten, mein Schatz,« fuhr er zu seiner Frau gewendet fort, »aber diese Menschen, die ihrem Leben selbst ein Ende machen, lassen mich kalt. Sie wecken in mir kein Mitleid, nur ein Gefühl der Verachtung.«

Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Sieh mich an mein Kind, du weißt, wie ich mein Leben angefangen habe, wenn ich es auch zuweilen vergessen möchte, wie andere Leute es hoffentlich tun. Meine Eltern waren arm und konnten mir nur eine mäßige Erziehung geben. Aber mit Verstand und festem Willen hab' ich mich durchgesetzt. Heute sieht alles mit Ehrerbietung zu mir empor. Ich bin kein geborener Gentleman, ich habe mich selbst dazu gemacht. Was kann man mehr verlangen? Wenn wir uns unsere Eltern wählen könnten, so hätte ich mir ebenso echtes blaues Blut ausgesucht wie du, mein Schatz. Und du weißt, daß ich dich aus diesem Grunde geheiratet habe. Schon als Knabe war es mein Traum, eine echte Lady zu heiraten, und als ich dich zum erstenmal sah – du erinnerst dich doch dieses Tages, nicht wahr? –, da war mein Entschluß gefaßt.«

Er lehnte sich in den großen Sessel zurück, steckte die beiden Daumen in die Armlöcher seiner Weste und blickte mit äußerster Selbstzufriedenheit auf seine junge Frau.

Sie zuckte zusammen.

»Aber Henry,« erwiderte sie, »was hat das alles mit dem Unglücksfall zu tun? Du vergißt, daß ich den armen Stephen Lethbridge gekannt habe. Unsere Eltern waren Gutsnachbarn und wir sind als Kinder zusammen aufgewachsen. Die Nachricht hat mich tief erschüttert.«

»Ich verstehe das sehr gut, aber du mußt gegen dieses Gefühl ankämpfen, liebe Cora. Ein Mensch, der sich das Leben nimmt, begeht ein schweres Verbrechen, er mag sonst sein, wer er will, und seine Gründe mögen noch so schwer wiegen. Er sündigt nicht nur gegen sich selbst, sondern vor allem gegen die menschliche Gesellschaft. Auch ich habe, weiß Gott, mit Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, die bisweilen unüberwindlich schienen, aber nie ist mir auch nur der Gedanke des Selbstmordes in den Sinn gekommen.«

Henry Hartsilver war seit drei Jahren verheiratet. Er hatte seine Laufbahn als Häuserspekulant in einer kleinen Provinzstadt begonnen. Als der Weltkrieg ausbrach, hatte er mit dem ihm eigenen kaufmännischen Scharfblick sofort erkannt, daß es sich um einen jahrelangen Kampf handeln würde, und demgemäß große Bauverträge mit der Regierung abgeschlossen, die ihn schon lange vor dem Ende des Krieges zum reichen Mann gemacht hatten. Eine Frau aus guten Kreisen sollte seine gesellschaftliche Stellung fester begründen helfen. So hatte er die Tochter eines durch den Krieg verarmten aber angesehenen Landedelmannes geheiratet, der zwei Söhne im Felde verloren hatte. Ohne es sich selbst ganz offen zu gestehen, heiratete seine Tochter den Emporkömmling, nur um ihrem zärtlich geliebten Vater ein sorgenloses Alter zu sichern.

Hartsilver stand jetzt in seinem sechsundvierzigsten Lebensjahre, während seine Frau siebenundzwanzig Jahre zählte. Die Ehe blieb kinderlos, aber das bekümmerte Hartsilver wenig. Er klagte nur über eines: daß die Regierung ihm bisher einen Adelstitel versagt hatte, trotz seiner Verdienste und der bedeutenden Verträge, die bei Gelegenheit öffentlicher Kriegsspenden aus seiner Tasche geflossen waren.

Dieser gewöhnliche, selbstzufriedene und selbstgerechte Mensch brachte seine junge Frau durch grobe Taktlosigkeiten oft in eine peinliche Lage. Aber ihr angeborenes Feingefühl, ein gewisser Humor und die geheime Empfindung, ihn unter einem falschen Vorwand geheiratet zu haben, hinderten sie, die ironische Antwort auszusprechen, die ihr oft auf den Lippen schwebte.

»Weißt du, liebe Cora,« begann er von neuem und kreuzte die Finger über der breiten Brust, »daß du diesen Lethbridge bedauerst, tut mir natürlich sehr leid, aber ich kann dieses Gefühl nicht sonderlich schätzen. Es muss doch so etwas wie eine Neigung zu diesem Burschen sein, die mir bei einer verheirateten Frau recht – recht unangebracht erscheint. Eine verheiratete Frau darf keinen Gedanken an einen anderen Mann haben, am wenigsten Gedanken – hm – freundschaftlicher Art. Ueberlege das doch ein wenig und sage mir, ob dir nicht dein besseres Ich dasselbe sagt.«

Um Coras Mund zuckte es, doch ihr Gatte bemerkte es nicht. Aber das Lächeln, das einen Augenblick später um ihre Lippen spielte, entging ihm nicht.

»Darf ich fragen, was dich so heiter stimmt?« bemerkte er im trockenen Ton.

»O nichts, gar nichts, Henry«, erwiderte sie schnell und biß sich auf die Zunge, »Mir fiel nur gerade etwas ein.«

»Ah, es war also doch etwas. Warum nennst du es denn gar nichts? Du solltest immer wahrheitsliebend, ganz wahrheitsliebend sein, Cora, auch in den kleinsten Dingen. Und was ist dir denn gerade eingefallen?«

»Ich weiß es nicht mehr. Es ist schon vorbei. Jedenfalls nichts von Bedeutung. Darf ich die Zeitung wieder haben, Henry?«

»Gewiß,« erwiderte er und zuckte die Achseln. Er reichte ihr das Blatt und fuhr fort: »Sage mir, was du über Sir Stephen Lethbridge weißt. Ich kenne ihn nur dem Namen nach.«

»Well, ich habe ihn ein oder zwei Jahre nicht gesehen,« sagte sie leichthin. »Ich glaube, seit unserer Heirat. Er kam zu unserer Hochzeit, wenn es dir noch erinnerlich ist.«

»Ich weiß es nicht mehr. Nun, und –?«

»1914 war er als Artillerist nach Frankreich gegangen und auf Krankheitsurlaub, als wir heirateten. Ich glaube, daß er mich recht gern hatte.«

Henry saß mit offenem Munde da und starrte äußerst erstaunt auf seine Frau.

»Wahrhaftig, Cora –« begann er, aber sie fuhr fort, ohne auf ihn zu achten.

»Vor einiger Zeit hörte ich, daß er in ziemlich schlechte Gesellschaft geraten war. Irgend jemand sagte mir, daß die Dinge, die er in Frankreich gesehen hatte, ihn aus dem inneren Gleichgewicht brachten – wie so manchen andern. Aber er war keiner unehrenhaften Handlung fähig, das weiß ich genau. Wenn ich nur wüßte,« rief sie von einem plötzlichen Gefühl überwältigt aus, »wenn ich nur wüßte, was ihn zum Selbstmord getrieben hat!«

»Darüber würde ich mir an deiner Stelle nicht den Kopf zerbrechen,« bemerkte ihr Gatte kühl. »Er war gewiß geistig zerrüttet, – übergeschnappt, wie man zu sagen pflegt. Die Szenen in den Schützengräben müssen wirklich höchst peinlich gewesen sein. Und doch – wenn ich jünger und dienstfähig gewesen wäre –«

Er verstummte und starrte auf seine Frau. Cora sah weit zurückgelehnt auf dem Sofa und vermochte nicht ein krampfhaftes Lachen zu verbergen.


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