Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel XXV.
Abendrot.

Einer der Hauptreize von Jersey liegt vielleicht darin, daß man sogar im Juli, August und September, wenn die meisten englischen Seebäder so überfüllt sind, daß einsame Natur nirgends zu finden ist, am Meeresstrande der Insel meilenweit kein menschliches Wesen sieht. Nimmt man dazu, daß die Sonne dort im Sommer jeden Tag scheint, daß die blaue Farbe der See an das Mittelmeer erinnert, daß die Aussichten überall wunderschön und die Einwohner meist gastfrei und überaus höflich sind, so wird man die Beliebtheit dieser Sommerfrische leicht begreiflich finden.

Johnson hatte nur eine oder zwei Wochen dort bleiben wollen, aber seit seiner Ankunft war bereits ein Monat vergangen, und er zögerte noch immer mit der Abreise. Ja, er äußerte nicht einmal die Absicht, fortzufahren. Seinen neuen Bekannten erklärte er, warten zu wollen, bis das Wetter sich änderte. Aber als diese Aenderung bald eintrat, blieb er dennoch da. Als Grund dafür gab er an, daß die Luft ihm gut zusagte. Aber auch wenn sie ihm weniger zugesagt hätte, wäre er wahrscheinlich dageblieben, weil er sich in die schöne junge Witwe, die ihn um seinen Rat gebeten, sterblich verliebt hatte, und weil diese Liebe voll und ganz erwidert wurde.

Aber keiner von beiden hatte es bisher gewagt, dem andern das Geheimnis zu enthüllen, das ihm teuer war. Nach drei trüben Regentagen war das Wetter wieder so schön geworden wie zuvor – die Sonne strahlte und der Himmel war wolkenlos. Da machte der Arzt Cora Hartsilver den Vorschlag, in seinem Auto eine Rundfahrt um die Insel zu machen.

An einem herrlichen Nachmittag verließen sie St. Helier, und als sie in schneller Fahrt auf der reizenden Küstenstraße dahinfuhren, bis sie im altertümlichen Städtchen St. Aubin, wo die Straße eng und steil war, ihr Tempo verlangsamen mußten, da hatten beide das Gefühl, daß das Leben doch schön wäre.

»Etwas weiter liegt eine reizende kleine Bucht,« sagte Johnson, während sie die Steigung nach Mont Sohier langsam hinauffuhren. »Ich habe sie neulich vom Boot aus gesehen und hatte immer im Sinn, auf der Landstraße hinzufahren. Die Höhen dahinter sind herrlich bewaldet. Wir könnten dort ein wenig rasten. Ich kann das Auto im Hotel lassen. Ist Ihnen das recht?«

Es waren beinahe die ersten Worte, die er seit der Abfahrt aus St. Helier an sie richtete und sie antwortete nicht gleich. Dann sagte sie mit eigentümlich verhaltener Stimme:

»Ich tue, was Sie wollen; die Umgebung ist so reizend, daß mir alles gefallen wird. Sehen Sie den Purpurschleier, der alle Höhen an der Küste ringsum bedeckt! Ist das nicht schön? Und das weiße Sandufer, das in der Sonne glänzt und sich unendlich weit erstreckt! Und kaum ein Mensch darauf zu sehen! Ich wußte nicht, daß Jerey so schön wäre. Wußten Sie es, Doktor Johnson?«

Er sagte etwas, was kaum zu hören war, lenkte scharf herum und fuhr auf einem Wege, an dessen Seiten große Hortensienbüsche prangten, langsam auf eine Garage zu.

»Wir lassen den Wagen hier,« sagte er, »und wollen nach dem Tee den Wald dort auf den Höhen besuchen. Die Aussicht muß von da oben noch schöner sein.«

Das Hotel war – trotz der Hochsaison – beinahe leer. Die Horden von Ausflüglern, die im August und September die englischen Seebäder überschwemmen, glänzten durch ihre Abwesenheit. Nur wenige, feinere Gäste waren am Strande zu sehen.

Beim Tee sprachen Johnson und Cora kaum ein Wort. Irgendeine Mauer schien sich plötzlich zwischen ihnen erhoben zu haben. Dann stiegen sie schweigend einen grasbewachsenen Weg hinauf, der von der Terrasse zu den Waldhöhen hinzuführen schien. Der Weg verengte sich und machte mehrere Biegungen. Das Gras wurde höher, und bald befanden sie sich in einem dichten Laubgang.

Sie gingen sehr langsam, und keiner von beiden sprach ein Wort. Endlich brach Johnson das Schweigen.

»Jersey wird für mich immer mit den glücklichsten Augenblicken meines Lebens verbunden bleiben,« sagte er leise, besonders mit diesem herrlichen Nachmittag.«

»Warum herrlich?« flüsterte Cora, die sich nicht traute, ihm ins Gesicht zu sehen.

Beinahe unbewußt suchte sein Arm nach ihr und zog sie, ohne einen Widerstand zu finden, in seine Nähe.

»Warum herrlich?« wiederholte er.

Sie waren stehen geblieben. Seine Arme umschlangen sie. Ihr Kopf sank an seine Brust und er verbarg sein Gesicht in ihrem Haar. Da drehte sie sich um und ihre Lippen fanden sich in einem endlosen Kuß ...

Mehr als drei Stunden waren vergangen, aber sie waren noch nicht in das Hotel zurückgekehrt. Die Sonne sank, und von dem Punkt, wo sie sich an einer geschützten Stelle auf der Waldhöhe niedergelassen hatten, breitete sich vor ihren Augen eine herrliche Aussicht auf die ganze Bucht aus.

Aber sie bemerkten es nicht. Sie sahen nur einer in des anderen Augen und hörten nur einer des anderen Stimme.

Die Sonne war untergegangen und am Himmel verblaßte das goldene Abendrot, als sie sich endlich erhoben. Cora war glücklich. Ihre kurze Ehe erschien ihr wie ein böser Traum, die Zukunft dagegen voll der schönsten Hoffnungen. Nur der Gedanke an den Brief ließ sie nicht los. Hatte er ihn vergessen?

Es war, als hätte er in ihrer Seele gelesen.

»Ich habe mir,« sagte er plötzlich, »die Frage genau überlegt. Du hast jetzt nichts davon zu fürchten, mein Schatz. Es hat sogar indirekt zu unserer Verlobung geführt. Der Schreiber – oder, wie ich glaube, die Schreiberin des Briefes mag tun, was sie will. Sie kann uns nicht schaden. Unsere Liebe bleibt davon unberührt. Und kommt es nicht darauf allein an? Ich glaube, wenn sie von unserer Verlobung hört, wird sie alles fallen lassen oder in der Meinung, ich wüßte nichts, mir schreiben.«

»Denkst du noch daran, sie zu entlarven, Schatz?«

»Alles ist schon im Gange. Sie wird sich verraten. In acht bis vierzehn Tagen werden wir von ihr hören.«

Sie waren in ihrem Hotel angelangt, wo sie zu Abend speisten.

Der Mond war aufgegangen und übergoß die stille Bucht mit seinem silbernen Schein. Aus der Ferne winkten die Leuchttürme an der Küste.

»Müssen wir jetzt nach St. Helier zurück?« fragte sie mit beklommener Stimme, als sie sich erhoben hatten. »Ich kann heute abend gar nicht an Schlaf denken.«

»Das brauchst du auch nicht,« sagte er lächelnd und ergriff ihre Hand. Wir kehren nach St. Helier zurück, aber auf einem anderen Wege. Du kannst deinen Freunden telephonieren und ihnen sagen, was du willst, auf jeden Fall aber, daß du nicht vor Mitternacht zurückkommst. Vielleicht sogar später. Es wird eine herrliche Fahrt werden.«

Langsam fuhr der Wagen auf die große Straße hinaus. Die große Kopflaterne erleuchtete sie hundert Meter weit. Johnson steigerte das Tempo allmählich, und bald flogen sie mit Windeseile durch die lautlos stille Nacht dahin.

Als sie viele Meilen zurückgelegt hatten, ohne ein Wort zu sprechen, fuhr der Wagen plötzlich langsamer und – blieb stehen.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Cora ängstlich.

»Alles ist in Ordnung, mein süßer Schatz,« flüsterte Johnson und sie fühlte einen heißen Kuß auf ihren Lippen brennen ...

Als Johnson in später Stunde Cora zu ihren Freunden zurückgebracht hatte und selbst in sein Hotel heimgekehrt war, fand er zwei Briefe vor.

Der eine war von Preston und trug den Poststempel von Dieppe. Der andere kam aus England und Johnson erkannte die Handschrift seines Freundes Blenkiron.


 << zurück weiter >>