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Kapitel XXII.
Ein wahrer Freund.

Während dies alles in Dieppe vor sich ging, war Cora Hartsilver auf Besuch bei Freunden, die in Jersey einen Landsitz hatten.

Sie war froh, London verlassen zu haben, wo sie sich in der letzten Zeit recht unbehaglich gefühlt hatte. Ihr einzige Freundin Yootha war fort und schien sie vergessen zu haben. Ja, Cora glaubte in ihren Briefen eine gewisse Abkühlung zu bemerken, die sie schwer bekümmerte. Aber sie hoffte, daß die Freundin nach ihrer Heirat wieder die alte werden würde.

Eines Morgens erhielt sie mit ihrer Post einen eingeschriebenen Brief, der sie in die größte Unruhe versetzte. Er enthielt keine Unterschrift und keine Adresse und lautete folgendermaßen:

»Schreiber ds. besitzt neun Briefe von Ihnen an den verstorbenen Sir Stephen Lethbridge und fünf Briefe von ihm an Sie, alle aus der Zeit nach Ihrer Verheiratung mit dem verstorbenen Henry Hartsilver.« Hier waren Ort und Datum jedes Briefes vermerkt.

»Diese Dokumente,« so hieß es in dem Brief weiter, »sind äußerst kompromittierend und photographische Reproduktionen davon werden in Umschlägen an alle Ihre Freunde und Bekannten geschickt werden, wenn mir nicht bis zum ersten Oktober dieses Jahres sechstausend Pfund ausgezahlt werden. Dies ist keine leere Drohung, und wenn der Inhalt der Briefe Ihnen entfallen sein sollte, so können Sie eine photographische Reproduktion erhalten, die Ihnen meine Aussagen bestätigen wird.

Die Antwort ist als Inserat an die »Morning Post« zu richten und »A. B. – von Y. Z.« zu unterzeichnen.«

Cora starrte lange auf den Brief und las ihn dann noch einmal durch. Er war mit der Maschine geschrieben und dem Stempel zufolge im Westen von London abgesandt worden. Wer in aller Welt konnte in den Besitz dieser Briefe, vor allem der von ihr erhaltenen, gelangt sein? Ein Dienstbote? Sie ließ die letzten Jahre an sich vorüberziehen, aber es war niemand, dem sie einen Diebstahl oder einen Erpressungsversuch zutrauen konnte.

Dann fiel ihr ein, daß Yootha von ihrem Vater gehört hatte, es wären auf Stephen Lethbridges Landsitz kurz vor seinem Tode seltsame Leute gesehen worden. Sie fragte sich, was das für Menschen gewesen sein mochten?

Aber darauf, so sagte sie sich, kam es ja im Augenblick nicht an. Das Unglück war, daß ein Mensch die Briefe in der Hand hatte, der ihr den schwersten Schaden zufügen wollte, wenn sie ihm die Schriftstücke nicht für die verlangte Summe abkaufte.

Sie wußte wohl, daß der Ausdruck »äußerst kompromittierend« keine Uebertreibung war. Bei dem Gedanken an gewisse leidenschaftliche Ausbrüche ihrer Liebe, zu denen sie sich hatte fortreißen lassen, schauderte sie. Ihr einziger Trost war, daß Henry nicht mehr lebte und es nie erfahren würde.

Oder, so fuhr es ihr plötzlich durch den Sinn, sollte er es doch erfahren haben? Hatte der Schurke, der die Briefe besah, ihm alles entdeckt? Und Henry in seiner Verzweiflung darüber sich das Leben genommen?

Je mehr sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam ihr diese Vermutung vor. Der Erpresser suchte sich an ihr schadlos zu halten, nachdem sein Versuch, Henry das Geld zu entreißen, mißglückt war.

In ihrer Angst begann sie, im Zimmer auf und ab zu gehen und sich zu fragen, wer ihr in dieser schrecklichen Lage helfen oder wenigstens raten könnte. Aber wem hätte sie so etwas anvertrauen können? Alles, alles ließ sich einem vertrauten Freunde sagen, aber irgend jemandem zu gestehen, daß sie einen, wenn auch im Grunde harmlosen, Liebeshandel gehabt hatte, während sie verheiratet war, – das war unmöglich. Und wer hätte ihr geglaubt, daß dieser Liebeshandel harmlos geblieben war?

Plötzlich blieb sie mitten im Zimmer stehen. Sie hatte eben im Morgenblatt gelesen, daß Doktor Johnson am vergangenen Abend auf dem Dampfer Ibex angekommen und im Breeshotel abgestiegen war.

Die Nachricht hatte sie sehr erfreut, und es war gleich ihre Absicht gewesen, ihn wiederzusehen. Jetzt dachte sie daran, wie ruhig und überlegt er gesprochen hatte, als sie bei ihm war. Er war auch Arzt, sagte sie sich, und als solcher gewohnt, streng vertrauliche Mitteilungen zu empfangen und für sich zu behalten.

Am Nachmittag war ihr Entschluß gefaßt. Sie teilte ihm telephonisch mit, daß sie ihn dringend zu sprechen wünschte, fuhr in sein Hotel und wurde sogleich hinaufgeleitet.

Doktor Johnson freute sich aufrichtig, sie wiederzusehen und dankte ihr, als sie ihm sagte, daß sie ihn als Freund und nicht als Arzt sprechen wollte. Er hatte vor kurzem einen Brief von Preston erhalten und war froh, ihr mitteilen zu können, daß der Hauptmann sich sehr erholt und gekräftigt fühlte. Dann kamen sie auf Yootha zu sprechen. Preston hatte dem Arzt alles geschrieben, und so erfuhr Cora nicht allein, daß ihre Freundin sich dem Spiel hingab, sondern, was ihr ganz unglaublich schien, daß sie sich mit Mrs. Mervyn-Robertson eng befreundet hatte.

Hätte nicht eine noch schwerere Sorge ihr ganzes Herz erfüllt, so wäre das für Cora ein harter Schlag gewesen. Aber sie dachte im Augenblick nur an das eine Schreckliche und nach einigen Minuten verlegenen Schweigens nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und sagte:

»Ich bin zu Ihnen gekommen, Herr Doktor Johnson, um Ihren Rat in einer Angelegenheit zu erbitten, über die ich sonst mit niemandem sprechen kann. Ich bitte Sie natürlich um strengste Verschwiegenheit. Doktor Johnson, ich befinde mich in einer schrecklichen Lage.«

»Das tut mir aufrichtig leid,« sagte er ruhig.

»Sie haben schwere Sorgen?«

»Ja. Vielleicht lesen Sie lieber diesen Brief, bevor ich weiter spreche.« Kurz entschlossen zog sie das anonyme Schreiben aus ihrer Handtasche hervor und reichte es ihm.

Er las es durch. Sein Gesicht blieb unbeweglich. Dann las er den Brief noch einmal, faltete ihn zusammen und gab ihn ihr zurück.

»Ein unglücklicher Vorfall,« bemerkte er und zündete sich eine Zigarette an. »Haben Sie eine Ahnung, wer der Schreiber sein konnte?«

»Nicht die geringste.«

»Ich würde denken, eine Frau, die vielleicht mit einem Mann in Verbindung steht. Sie werden natürlich nicht zahlen.«

»Aber was soll ich tun, Doktor? Denken Sie, was geschieht, wenn ich nicht zahle!«

»Muß ich daraus schlichen, daß die Angaben auf Wahrheit beruhen? Haben Sie die Briefe geschrieben und sind die anderen an Sie geschrieben worden?«

Cora wurde sehr rot und schlug die Augen nieder.

»Ja,« flüsterte sie.

»Das ist bedauerlich,« antwortete der Arzt. »Aber selbst die besten Menschen, Mrs. Hartsilver, können mitunter einen Fehler begehen, und wenn der Fehler einmal begangen ist, so können wir nur eines tun, nämlich an das beste Mittel denken, um weitere schlimme Folgen zu verhüten. Ich weiß vielleicht besser als Sie, daß Verstand und Urteil einer Frau im Kampf mit einer Herzensneigung unterliegen können, und sehe darum mit Milde auf so einen Fall. Hat Mr. Hartsilver etwas davon gewußt? Sie werden diese Frage entschuldigen.«

»Soviel ich weiß, nein,« antwortete Cora schnell. »Aber nach Empfang dieses Briefes frage ich mich, ob irgend jemand es ihm gesagt hat und ob – ob diese Mitteilung ihn in den Tod getrieben hat.«

»Das ist wohl möglich. Trotzdem kann ich Ihnen keinen Vorwurf daraus machen, Mrs. Hartsilver. Ich habe gehört, aus welchem Grunde Sie einen Mann geheiratet haben, den Sie nicht liebten und –«

»Wer hat es Ihnen gesagt?« unterbrach ihn Cora.

»Wie haben Sie es erfahren, Doktor Johnson?«

»Darauf kommt es jetzt nicht an. Es würde auch zu weit führen. Das Vergangene ist vergangen. Wir haben uns nur zu fragen, was jetzt geschehen soll?«

Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort:

»Sie wollen meinen Rat hören, aber, wohlgemerkt, wenn ich ihn gebe, rechne ich darauf, daß Sie ihn befolgen.«

»Darauf können Sie sich verlassen.«

»Gut. Dann ist mein Rat, daß Sie unter keinen Umständen dieses Schweigegeld zahlen. Der Schreiber dieses Briefes ist ohne Zweifel ein berufsmäßiger Erpresser, und das ist vielleicht die einzige Klasse von Verbrechern, die in England so bestraft werden, wie sie es verdienen, wenn sie ertappt werden. Wir müssen ihm also – oder ihr – eine Falle stellen. Und ich glaube, das wird uns gelingen, denn ich habe es vor nicht allzu langer Zeit in einem ähnlichen Falle mit Erfolg versucht. Sie besinnen sich noch auf Lord Froissarts Selbstmord und den Selbstmord seiner Tochter?«

»Wie sollte ich nicht?«

»Erpressung in beiden Fällen, obwohl es nie bekannt geworden ist. Ich spreche im strengsten Vertrauen zu Ihnen; beide sind tot, sonst täte ich es nicht. Die arme Vera Froissart verliebte sich in einen Schurken, der sie verführte und dann bloßstellen wollte, wenn sie ihm kein Geld zahlte. Sie wagte es keinem zu sagen, und die Angst und Verzweiflung haben sie schließlich in den Tod getrieben. Nach ihrem Tod machte sich derselbe Schurke auch an ihren Vater heran, erzählte Lord Froissart, warum seine Tochter sich das Leben genommen hatte und drohte, alles bekannt zu machen, wenn Froissart ihm kein Geld gäbe. Froissart zahlte. Er zahlte ein zweites und noch ein drittes Mal. Er war ein Mann, der weder einen starken Charakter noch einen starken Verstand besaß. Als die Forderungen des Erpressers, dem er schon Tausende gezahlt hatte, immer schamloser wurden, sah er keinen anderen Ausweg, als sich von den Felsklippen in Bournemouth hinabstürzen.

Am Abend vorher schrieb er mehrere Briefe in seinem Klub, darunter einen an mich, seinen ärztlichen Berater. Darin teilte er mir alles mit und bat mich, den Brief zu verbrennen, was ich auch getan habe. Es ist das erste und letzte Mal, daß ich davon spreche. Ich wollte Ihnen warnend vor Augen stellen, was geschehen könnte, wenn Sie jemals so töricht wären, irgend jemand Schweigegeld zu zahlen. Froissart hatte den Namen seines Verführers genannt und es gelang mir mit einiger Mühe, den Mann verhaften zu lassen und zu überführen. Heute befindet er sich im Zuchthaus, wo er einige Jahre bleiben wird.«

Doktor Johnsons ruhige, besonnene Worte waren Cora ein großer Trost gewesen, aber sie fühlte sich doch noch unruhig. Sie wollte nicht vor einigen Wochen nach London zurückkehren, und Doktor Johnson hatte ihr gesagt, daß er etwa ebenso lange in Jersey zu bleiben beabsichtigte. Sie fragte sich, was inzwischen geschehen könnte, wenn sie den anonymen Brief, wie er ihr anriet, ignorierte. Er hatte mit Recht darauf hingewiesen, daß der Schreiber kein Interesse daran hätte, ihren Ruf zu ruinieren, sondern sie nur durch seine Drohungen erschrecken wollte, um Geld von ihr zu erhalten. Wenn sie nicht in der Morning Post antwortete, versicherte er ihr, so würde ihr Verfolger einen zweiten Brief schreiben, bevor er irgend etwas unternähme. Ja, der Arzt meinte, sie würde wahrscheinlich noch mehrere Briefe erhalten, bevor der Schreiber daran dächte, seine Drohungen auszuführen. »Und je mehr Briefe Sie erhalten,« so hatte Doktor Johnson das Gespräch geendet, das sie auf einem längeren Spaziergang an der Küste miteinander führten, »um so mehr Beweise haben Sie in der Hand, um den Schurken zu entlarven.«

Cora sah die Richtigkeit seiner Ansicht ein und beschloß zu warten.


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