Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Der Winter 1848/49 in Lörrach.

Im Oktober 1848 wurde ich vom Feldarzt zum Oberarzt befördert. Als solcher blieb ich den ganzen Winter im Bataillon Holtz, dessen Stab in Lörrach lag, einige Wochen im Dezember ausgenommen, wo das Bataillon in die Ortschaften am Rhein zwischen Grenzach und Wehr verlegt wurde.

In Lörrach war ich gut aufgehoben. Ein dort ansässiger Schweizer Fabrikbesitzer, Rudolf Hofer, nahm den Adjutanten des Bataillons, Oberleutnant Specht, und mich in sein Haus, wir wurden wie Freunde der Familie gehalten und sind zeitlebens befreundet geblieben. Ich stand mit den Offizieren in angenehmem Verkehr und schloß mit einigen von gleichem Alter dauernde Freundschaft. Meine ärztliche Tätigkeit befriedigte mich, sie beschränkte sich nicht mehr auf das trostlose Einerlei des Bataillonsdienstes; der Kommandant der Brigade, Oberst v. Rottberg, überwies mir das in Lörrach neu eingerichtete Feldspital zur Besorgung.

Zwar kam bald nachher ein Regimentsarzt zur Brigade, dem die Oberleitung des Feldspitales zustand, er ließ mich jedoch frei schalten und kam nur ab und zu, um nachzusehen. Er war ein guter, alter Herr, der in der langen Friedenszeit allmählich gebrechlich und schwachsinnig geworden war, an einem Auge sah er nicht viel und am andern wenig mehr. Nur so lange ich abwesend war, machte er statt meiner die tägliche Visite. Dabei bereitete ihm sein schwaches Gesicht ein ärgerliches Mißgeschick, wie mir der Feldscher, der den Rundgang mitmachte, nach meiner Rückkehr erzählte, als ich den Spitaldienst wieder übernommen hatte. Die Geschichte wäre heute 416 unmöglich, damals lag kein Grund vor sie zu bezweifeln. Der Regimentsarzt hatte einen Soldaten entlassen, und das Bett, worin dieser gelegen, war dadurch frei geworden. Diese Entlassung war dem alten Herrn entfallen, obwohl er sie selbst verfügt hatte, er trat an das leere Bett und stellte die gewohnte Frage: »Maier, wie geht es Ihm?« Da keine Antwort erfolgte, wurde er unwillig und rief in das Bett hinein: »Maier, geb' Er Antwort und streck Er die Zunge heraus!« Die Soldaten ringsum in den Betten freuten sich königlich. »Herr Regimentsarzt,« erlaubte sich der Feldscher zu erinnern, »der Mann ist entlassen!« »Das mußten Sie mir gleich sagen,« murrte der Regimentsarzt und ging weiter.

Ich machte in jenem Winter nützliche Erfahrungen über vorgeschützte Krankheiten. Infolge der gelockerten Mannszucht nahmen die Ausschreitungen der Soldaten zu; teils um den wohlverdienten Strafen zu entgehen, teils um dem Dienste sich zu entziehen, täuschten sie Krankheiten vor. Einen merkwürdigen Fall von simulierten Krämpfen will ich mitteilen.

Eines Abends holte mich eine Ordonnanz aus einer Gesellschaft von Offizieren auf die Hauptwache und berichtete, man habe einen Soldaten eingebracht, der betrunken in einem Weinhaus großen Lärm gemacht und Unfug verübt habe, er liege jetzt in furchtbaren Krämpfen auf der Wache, und dem Unteroffizier scheine der Zustand bedenklich. Einige der jüngeren Offiziere begleiteten mich, das Schauspiel, das sich uns darbot, war wirklich erstaunlich. Der große, starke Mensch lag anscheinend bewußtlos auf dem Boden in heftigen Krämpfen, mit verzerrtem Gesicht und blinzelnden Augen. Sein Leib flog, mit großer Kraft geschleudert, im Bogen auf und nieder, er schlug mit den Armen um sich, beugte und streckte auch die Beine stoßweise mit ungewöhnlicher Kraft. Daß es sich nicht um Epilepsie handle, ließ sich sofort feststellen, die Pupillen reagierten gegen das Licht, auch glichen die Krämpfe keiner der bekannten Formen. Es stand bei mir fest, der Mann simuliere, nur war mir die Kraft und Geschmeidigkeit seines Leibes in hohem Grade auffallend. Die Zuschauer, mit Einschluß der Offiziere, waren voll Mitleids und fürchteten das Schlimmste.

417 Ich kannte den Soldaten, er hatte krank im Hospital gelegen, war mir zu Danke verpflichtet, hatte sich dort gut aufgeführt und schien mir kein böser, nur ein leichtfertiger Mensch. Zunächst beruhigte ich die Umstehenden, verhieß Heilung und befahl, mir eine Gießkanne kalten Wassers vom Brunnen zu holen. Damit, erklärte ich mit gehobner Stimme, würde ich das Haupt des Mannes übergießen, hoffentlich genüge dieses erprobte Verfahren, ihn herzustellen. Man brachte das Wasser, ich nahm die Kanne zur Hand und wiederholte die Drohung, doch verfing sie nicht, und ich hielt mich nicht für berechtigt, sie auszuführen und das eiskalte Wasser über den schweißtriefenden Menschen mit dem starkklopfenden Herzen auszugießen. Sein Rausch war offenbar nicht ganz vergangen, seine Zurechnungsfähigkeit gemindert, und meine ärztliche Pflicht verbot mir, seine Gesundheit zu gefährden. Was aber tun? Ich wollte meine Diagnose zweifellos sicher stellen und verfiel im festen Vertrauen, daß der Mann mir dankbar ergeben sei, auf ein Mittel, das mich bös gefährdete, wenn meine Voraussetzung mich betrog. Ich machte mir an seinen Füßen, er lag auf dem Boden, zu schaffen und stellte mich so, daß er mich bei den Bewegungen seiner Beine treffen mußte, er wich aber geschickt ein wenig aus und schonte mich. Jetzt meiner Sache völlig gewiß, befahl ich, ihn in das Arrestlokal zu bringen, auf Stroh zu legen, die Türe zu schließen und erst morgens zu öffnen, wenn ich wieder käme. Es geschah. Am Morgen hatte der Soldat seinen Rausch ausgeschlafen. Er wollte mir weiß machen, daß er an dem fallenden Weh leide. Ich sagte ihm, er habe mich gestern abend geschont, als ich mich an seine Füße stellte, dafür wolle ich ihn heute beim Rapport schonen und alles auf Konto des Weines schieben; wenn er aber die Krampfkomödie wiederhole, so würde ich mit der ganzen Wahrheit herausrücken.

Soweit war die Sache klar gestellt, aber es fehlte noch das Tüpfelchen auf dem i, das mir der Feldscher verschaffte; die ungewöhnliche Muskelkraft und Gelenkigkeit verdankte der Simulant seinem Berufe, er war Seiltänzer. 418

 


 


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