Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Die allgemeine Studentenschaft.

Ein Semester nach dem andern war eilend dahin gegangen, aus dem Füchslein ein Jungbursch, aus dem Jungburschen ein Altbursch geworden. Nachdem ich zuletzt als Senior das Korps geleitet, war ich aus der Reihe der aktiven Mitglieder getreten, und die Verbindung hatte mich unter ihre Ehrenmitglieder aufgenommen. Fast in dem gleichen Schritt war ich als Mediziner aus dem anatomischen Präpariersaal in die klinischen Säle zum Auskultanten und Praktikanten und schließlich zum Assistenten vorgerückt, und der romantische Schimmer des Korpslebens begann vor dem Ernste der Wirklichkeit und angesichts der Aufgaben des ärztlichen Berufes zu erblassen. Ich konnte es mir nicht länger verhehlen: das Tun und Treiben der Suevia und der Korps überhaupt drehte sich immer und ewig um Kneipen und Pauken. Mephistopheles hatte offenbar recht:

    »Mit wenig Witz und viel Behagen
Dreht jeder sich im engen Zirkeltanz,
Wie junge Katzen mit dem Schwanz.«

Dazu kam die leidige Politik. Die öffentliche Meinung hatte sich mehr und mehr erhitzt und ich mich mit ihr. Mit lebhafter Teilnahme verfolgte ich den Gang der Ereignisse in Deutschland und Frankreich, meine Sympathien begleiteten die liberale Partei diesseits wie jenseits des Rheins. Stand ich aber auf der Seite der politischen Opposition, so konnte ich folgerichtig die studentische nicht verdammen, da sie die Grundsätze des Liberalismus mit jener teilte. Auf neutralem Boden, wie ihn botanische Ausflüge, die klinische Gemeinschaft und 156 das Zusammentreffen in Professorenfamilien gewährten, kam ich angenehmen Kommilitonen näher, die der Reformpartei angehörten, ich lernte sie schätzen und ihre Begebungen würdigen. Mocht' ich es äußerlich auch ungern bekennen, ich entfremdete mich allmählich dem Korpswesen. Es entbehrte der idealen Ziele, die mein frei und patriotisch gesinntes Herz erstrebte; die Burschenehre, der die Waffen-Verbindungen ihre blutigen Opfer pro patria brachten, wurde mir unverständlich, und die Gunst, deren sie sich bei den Regierungen erfreuten, verdächtig.

So war der Herbst 1844 herangekommen, die Vorlesungen hatten bereits begonnen. Als ich eines Morgens hinter den Büchern saß, überraschte mich in früher Stunde mit seinem Besuche einer meiner liebsten Freunde, den ich seit den Osterferien nicht mehr gesehen hatte. Es war stud. jur. Eduard Bronner, gebürtig aus Wiesloch, somit mein nächster Landsmann, der Sohn des badischen Oekonomierats Bronner, des Besitzers der dortigen Apotheke, eines ungemein rührigen Mannes, der seinen Titel den Verdiensten verdankte, die er sich um den Weinbau in Baden erworben hatte.

Mein Freund hatte das Heidelberger Lyceum besucht und seine ersten medizinischen Studienjahre gleichfalls in Heidelberg zugebracht, war auch Schwabenbursche geworden. Der Ruf des Chirurgen Stromeyer hatte ihn nach Freiburg gezogen, wo er zwei Semester verweilte, sein letztes wollte er jetzt wieder in Heidelberg verbringen. Kaum angekommen suchte er mich auf, um sein Herz auszuschütten. Er wollte eine patriotische Pflicht erfüllen, ich sollte dabei mithelfen.

Eduard Bronner war von Gestalt klein, aber gewandt und von aufgewecktem, edlem Geiste, freigesinnt und ein schwärmerischer Patriot. Er hatte im Laufe des letzten Jahrs die Ueberzeugung der liberalen Presse gewonnen, daß die Korps die unbewußten Werkzeuge des Metternichschen Systems seien; die Pflicht gegen das Vaterland erheische, die Opposition in ihren Bestrebungen zu unterstützen. Der Krebsschaden des Studentenlebens sei das Mensurwesen, wie es die Korps ausgebildet und zu ihrer wesentlichen Aufgabe gemacht hätten. Es beschäftige sie völlig und mache sie blind und taub für die höchsten Ideale des Lebens, zur größten Freude der Blittersdorf, Hassenpflug, 157 Abel und wie die Kreaturen Metternichs sonst noch hießen. Das Uebel sei schwer zu heilen, aber es müsse gelingen, wenn man richtig vorgehe. Um das Mensurwesen zu erhalten, benützten die Korps mit vielem Geschick die Scheu der deutschen Jugend, feig zu erscheinen. Sie würfen der Opposition vor, daß sie die Korps nur aus Mensurscheu bekämpfe. Darum suchten sie die Duellgegner durch beleidigende Herausforderungen zum Pauken zu zwingen, und wenn dies gelinge, sei ihr Zweck erreicht: das Mensurwesen dauere fort. Man habe es ja erlebt, daß Reformverbindungen mit der Gewöhnung an das Pauken zu Waffenverbindungen und schließlich zu Korps ausgewachsen seien. Durch Ehrengerichte ließen sich solche, rein aus Paukwut gestellte Forderungen einfach abweisen, aber es müßten sich wenigstens anfangs Burschen an die Spitze der Bewegung stellen, die durch ihre Vergangenheit über jeden Verdacht der Feigheit erhaben seien, somit vor allen solche, die das Waffenspiel mitgemacht hätten. Er schlage mir vor, mit ihm und andern gleichgesinnten Burschen der Suevia das Banner der Reform aufzustecken.

Ich zauderte, obwohl die Idee mir einleuchtete, aber ich lief Gefahr, bei dem Unternehmen einen großen Teil meines letzten Semesters zu verlieren und den Termin der Staatsprüfung hinausschieben zu müssen. Dennoch ließ ich mich überreden, den Vorschlag mit einigen unserer Korpsbrüder zu besprechen, von denen wir wußten, daß sie unsere Ansichten teilten. Es waren stud. jur. Franz Volk aus Offenburg, stud. cam. Heinrich Lepique und stud. jur. Edmund Kamm, beide aus Karlsruhe. Sie begrüßten das Vorhaben mit Freude, und wir setzten es ungesäumt ins Werk, denn rasch reift zur Tat der Entschluß der Jugend.

 

Wie war es möglich, daß wir glauben konnten, mit der studentischen Reform und namentlich mit der Bekämpfung des Paukwesens ein großes patriotisches Werk zu tun? Heute, nach mehr als 50 Jahren und fast dreißig Jahre nach der Gründung des deutschen Reichs, ist es schwer, sich in jene traurigen Zeiten zurückzuversetzen, wo der Bundestag farbige Bänder und Mützen fürchtete, der Gedanke der 158 Reichseinheit mit Zuchthaus, Rad und Richtschwert bedroht war, und selbst ein Fritz Reuter mit jahrelangem Kerker das Verbrechen büßte, das schwarzrotgoldne Band um die Brust getragen zu haben. Der allgemeine Haß gegen die deutschen Staatslenker war zu einer starken Macht geworden, niemand vermag heute die Größe unsrer Sehnsucht nach einem großen, freien und in der Welt geachteten Vaterlande zu begreifen.

Der deutsche Bund ist untergegangen, das ersehnte deutsche Reich erstanden, der Traum unsrer Jugend erfüllt. Auch mag der Musensohn heute nach Lust Mütze und Brust mit farbigen Bändern schmücken, in Korps, Burschenschaft und Verbindungen mannigfachster Art eintreten, ohne daß Kaiser und Kanzler erschrecken. Vieles ist anders geworden, das Pauken aber ist geblieben, mir scheint sogar, als ob es üppiger noch in die Halme geschossen sei denn früher. Auch die Burschenschaften und die farblosen Verbindungen zerfetzen sich Wange und Stirne um die Wette. Mit dem braunen Sohne Nubiens wetteifert der studierende Deutsche, narbige Abzeichen auf dem entstellten Gesichte zu tragen.

Wir zeigten unsern Austritt schriftlich an und verzichteten auf jede mündliche Erörterung, weil sie nur zu nutzloser Erbitterung geführt hätte und wir in Frieden aus der Suevia scheiden wollten.

Das Reformprogramm der neuen Verbindung, die wir stifteten und Alemannia nannten, wurde vorerst nur mündlich unter uns fünfen vereinbart. Die ersten drei Studierenden, die sich uns anschlossen, waren ein älterer Mitkneipant der Suevia, Louis Bachelin aus Karlsruhe, und zwei jüngere studiosi juris, Josef Scheffel aus Karlsruhe, der bereits in München ein Jahr studiert hatte, und Sigmund Pfeufer aus Bamberg; diese beiden hatten die Schwabenkneipe einen Tag, bevor wir das Korps verließen, aufgesucht und waren uns fünfen sofort gefolgt. In kurzer Zeit wuchs die Alemannia auf nahe an 50 Mitglieder heran, darunter sechs Burschenschafter aus Jena, Tübingen und Bonn.

Die Aufnahme Bachelins war eine Demonstration. Er hinkte infolge eines Hüftleidens und konnte wegen Schwächlichkeit den Schläger nicht führen, hatte somit nicht für das Korps getaugt. Wir nahmen 159 ihn auf, denn die Alemannia sollte keine Waffenverbindung, sondern eine Gesellschaft ehrenwerter Burschen und die Aufnahme nur an diese Bedingung, die er erfüllte, geknüpft sein. Hatten wir uns doch genügend überzeugt, daß Mensurfertigkeit und Ehrenhaftigkeit verschiedene Dinge sind.

Kaum hatte sich die Alemannia gebildet, so folgte das Korps der Pfälzer, eine starke und durch gefährliche Schläger ausgezeichnete Verbindung, unserem Beispiel. Sie traten mit Ausnahme von zwei oder drei aus dem S. C. und stellten sich als Reformverbindung mit uns in die Reihen der Opposition. Wir traten in Unterhandlung mit ihnen, den Rupertern und Walhallesen wegen Organisation einer »allgemeinen Studentenschaft«, die, wie der Name anzeigt, auf der Grundlage des allgemeinen Stimmrechts eingerichtet werden sollte. Um unseren Grundsätzen nicht zu widersprechen, luden wir auch die Korps schriftlich ein, an unseren Beratungen durch Abgeordnete teilzunehmen, obwohl wir richtig voraussahen, daß sie darauf nicht eingehen würden; sie sahen ja in dem S. C. die einzig berechtigte, die Studentenschaft vertretende Behörde.

Merkwürdigerweise führte unsere Aufforderung an die Walhallesen, mit uns zu Beratungen zusammentreten, zu einer Spaltung dieser Gesellschaft. Die Mehrheit witterte überklug hinter unserem Vorgehen eine Falle des S. C. und lehnte sie anfangs ab. Sie fürchteten, wir wollten die Opposition durch List in das Lager der Korps überführen. Es kam zu heftigen Erörterungen, die Minderheit sagte sich von der Walhalla los und trat als Albingia mit uns in freundschaftliche Verbindung. Darunter befanden sich mehrere nachmalige Professoren der Rechtswissenschaft, Karl Esmarch, Marquardsen, Stintzing, Aegidi, der Berliner Statistiker Meizen, der Hamburger Bürgermeister Versmann u. a. – Mit Aegidi, Marquardsen, Stintzing schloß ich Freundschaft, die beiden letzten wurden später meine Kollegen in Erlangen. – Erst nach einiger Zeit ließen die andern Walhallesen ihr Mißtrauen fahren.

Wir waren nunmehr fünf Reformverbindungen: die Alemannia, Palatia, Albingia, Ruperta und Walhalla, und zählten mehr als doppelt so viele Mitglieder, wie die Korps. Um ihnen sofort zu 160 zeigen, daß ihre Suprematie zu Ende sei, benützten wir eine Gelegenheit, die sich gerade darbot. Es mußten die Wahlen für die Krankenkommission der Universität und in der Museumsgesellschaft für die Ballkommission seitens der Studenten vorgenommen werden. Bisher hatte der S. C. die Kommissäre dort und hier ernannt, wir bestanden auf unserem Recht und ballotierten sie mit großer Stimmenmehrheit aus diesen Stellen.

Nachdem sich die Reformverbindungen geeint hatten, machten sie sich an die Ausarbeitung einer Verfassung der allgemeinen Studentenschaft, wie wir sie von nun an dem Sonderbunde des S. C. gegenüber als organisierte Körperschaft bezeichneten. Jeder Student galt für gleichberechtigt; nach diesem Grundsatze verfuhren wir schon bei der Wahl des Ausschusses, der den Auftrag erhielt, die Satzungen einer Verfassung zu entwerfen. Die Verbindungen wählten für je zehn ihrer Mitglieder einen Abgeordneten, und die Wilden hatten dasselbe Recht, sie machten jedoch von ihrem Rechte kaum Gebrauch. Der Ausschuß bildete eine Art konstituierender Versammlung, seine Verhandlungen rückten nur langsam vom Fleck. Die Redelust der jungen Herren war groß, es wurde erschrecklich viel und klug getiftelt, spintisiert und auf Prinzipien geritten. Der Vorsitzende war Aegidi. Er besaß ein großes Geschick die Verhandlungen zu leiten, wir nannten ihn anerkennend den kleinen Thiers, da er diesem berühmten Parlamentarier wie an Beredsamkeit, so auch an Leibesgestalt glich. Dank seiner Umsicht kam die Sache zu einem glücklichen Ende, und der Entwurf wurde von den fünf Verbindungen ohne Widerspruch angenommen. Von jetzt an besorgte ein Verwaltungsausschuß nach der Richtschnur einer sorgfältig ausgeführten Geschäftsordnung die Angelegenheiten der Studentenschaft.

Schwieriger, als die meisten gedacht, war die Einrichtung eines Ehrengerichts, und das, was man schließlich fertig brachte, taugte nicht viel. Die Ansichten über das Duell gingen zu weit auseinander, nur in einem Punkte stimmten sie alle überein: man verdammte die Bestimmungsmensuren. Das Gericht wurde, vermutlich um seinem Urteil ein möglichst großes Ansehen zu verschaffen, mit 161 nicht weniger als 25 Richtern besetzt, auch durfte es keine Strafen, sondern nur seine Mißbilligung aussprechen. Glücklicherweise brauchte es nie zu tagen, kein Mensch nahm es in Anspruch, denn, so unglaublich es erscheinen mag, es kam im Laufe des ganzen Semesters zu keinem Ehrenhandel, noch weniger zu einem Duell. Die Korps sollten die Freude nicht haben, daß die Opposition unter sich selbst pauke. Obwohl unter den 300 jungen Leuten, die sich an der Reform beteiligten, ein reger Verkehr bestand und viel und lebhaft diskutiert wurde, kam es doch nie zu Injurien und Forderungen, man war in der Tat besser erzogen, als man bis dahin wußte. Man lernte sich zügeln, auch wenn es laut und heiter zuging. Machte die Opposition doch oft gemeinsame Spaziergänge auf das Schloß oder die Hirschgasse zu Hunderten, und jeder Student war willkommener Gast.

Unser Vorgehen wirkte auf die Korps zurück. Die Mensuren nahmen bei ihnen mehrere Jahre lang an Häufigkeit ab.

Mag auch mancherlei Torheit bei unserer Reformbewegung unterlaufen sein, sie machte uns Ehre und füllte eines der schönsten Geschichtsblätter der Heidelberger Studentenschaft. 162

 

 


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