Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Die badische Staatsprüfung.

Die alte badische Prüfungsordnung, wonach wir uns 1846 richten mußten, kannte noch keine besondere Vorprüfung in Anatomie, Physiologie und Naturwissenschaften, wie sie heute im deutschen Reiche besteht, seit die norddeutsche Prüfungsordnung 1873 für das ganze Reich eingeführt worden ist. Jedoch muß ich bemerken, daß die badische Sanitätskommission schon im Juni 1858 die alte Ordnung revidiert und eine besondere Vorprüfung für die genannten Fächer eingerichtet hatte. Für diese zog sie die Professoren der badischen Hochschulen bei, nur in den eigentlich medizinischen behielt sie sich auch ferner die Prüfung vor.

Nach der alten Einrichtung zerfiel die Staatsprüfung in drei aufeinander folgende Abschnitte: einen ersten für die innere Medizin mit Einschluß der Anatomie, Physiologie und Naturwissenschaften, einen zweiten für die Chirurgie und Augenheilkunde, einen dritten für die Geburtshilfe. Es war den Kandidaten gestattet, jeden dieser Abschnitte für sich zu erledigen, und demgemäß erteilte ihnen der staatliche »Lizenzschein« das Recht, in jedem der drei Fächer gesondert im badischen Lande die Heilkunst auszuüben, als innerer Arzt, Wund- und Hebarzt. Es gab Aerzte, die nur als innere oder nur als Chirurgen, ja sogar nur als Geburtshelfer praktizieren durften. In Freiburg lebte z. B. ein geschätzter Hebarzt, der mit mir die geburtshilfliche Staatsprüfung absolviert hatte und nie eine andere machte, er war sozusagen eine männliche Hebamme. – Spezialisten im heutigen Sinne, Augen- und Ohrenärzte, Nasen- und Kehlkopfärzte, gab es nicht.

268 Es wurden jährlich zwei Prüfungstermine ausgeschrieben, der eine im Frühjahr, der andere im Herbst. Die Prüfung war ganz überwiegend schriftlich, nur am Ende jedes Abschnittes kam eine kurze mündliche in einigen Abendstunden hinzu. Da sie im ganzen mit den An- und Abmeldungen bei den Herrn Examinatoren gegen vier Wochen in Anspruch nahm, war sie des vielen und langen Sitzens wegen sehr angreifend, wir folgten deshalb dem Beispiel der Mehrzahl und absolvierten im Frühjahr die Medizin, die anstrengendste von den dreien, im gleichen Termine die Geburtshilfe, und erst im Herbst die Chirurgie. – Den Mai und den Sommer verbrachten wir in Heidelberg, wo Bronner bei Naegele als Assistent eintrat und ich im Laufe des Semesters an Pfeufers Klinik Assistent wurde. – Ich trieb hauptsächlich chirurgische Studien und besuchte regelmäßig die Klinik von Chelius, wo sein Sohn Franz, heimgekehrt von längeren Reisen im Ausland, viel und glänzend operierte.

An Ostern 1846 hatte die badische Prüfungsbehörde eine wichtige Aenderung des bisherigen Verfahrens ins Werk gesetzt; zum erstenmal wurden die Kandidaten zu einer, allerdings sehr unvollkommenen, klinischen Prüfung in Medizin und Chirurgie an das Krankenbett geführt. Sie geschah im städtischen Hospital, durch den sehr geschätzten Doktor Molitor, der uns gnädig behandelte; sie nahm für den einzelnen Kandidaten kaum eine halbe Stunde in Anspruch. Dazu wurde die Morgenstunde von 8–9 verwendet, vor dem Beginn der schriftlichen Prüfung, die im medizinischen Abschnitt fast den ganzen übrigen Tag, mit Ausnahme der Mittagsstunden von 12–2, bis abends 8 Uhr währte. In diesem nahezu 2 Wochen dauernden Abschnitt allein wurden nicht weniger als 35 Aufgaben zur schriftlichen Bearbeitung gestellt, für die meisten wurde zwei Stunden Arbeitszeit gewährt. – In der chirurgischen Prüfung und mehr noch in der geburtshilflichen, die nur 5 Tage erforderte, minderten sich die Ansprüche der Kommission an das Sitzfleisch der Kandidaten beträchtlich. – Die schriftlichen Prüfungen wurden in einem Saale des Lyceums unter der wechselnden Aufsicht der Kommissäre vorgenommen, wir saßen jeder an einem besonderen Schreibtisch, behandelten alle stets dasselbe Pensum und schrieben darauf los, daß 269 uns die Nägel brannten. Mein Freund Bronner wurde eines Abends von dem vielen Schreiben so nervös, daß er plötzlich aufbrach, die angefangene leichte anatomische Aufgabe – Beschreibung des Magens – liegen ließ und davonging mit der Versicherung, er werde in diese Torturschreibanstalt nicht mehr zurückkehren. Ein Gang in freier Luft brachte ihn wieder in Ordnung.

Einen oder den andern Leser interessiert es vielleicht zu erfahren, aus welchen wissenschaftlichen Fächern uns die schriftlichen Fragen vorgelegt wurden, doch wird es genügen, die aus dem ersten Prüfungsabschnitt anzuführen. Die Fächer waren folgende: Zoologie und vergleichende Anatomie, allgemeine, spezielle und pharmazeutische Botanik; Mineralogie; allgemeine, physiologisch-pathologische, pharmazeutische, gerichtlich-medizinische und medizinisch-polizeiliche Chemie; allgemeine, spezielle und pathologische Anatomie; Physiologie, allgemeine und spezielle Pathologie und Therapie; Semiotik; Materia medica, Rezeptierkunst und Droguenlehre; Geschichte der Medizin; Medicina forensis mit Abfassung eines gerichtlichen Gutachtens auf der Grundlage von uns eingehändigten Akten; medizinische Polizei (sie entsprach ungefähr der heutigen öffentlichen Hygiene); endlich Tierarzneikunde. – Mußte da nicht dem Kandidaten auf dem Schreibstuhl zuletzt das bekannte Mühlrad im Kopfe herumgehen?

Ein heiterer Vorfall in jenem Examen belehrt über den Wert solcher fast ausschließlich schriftlichen Prüfungen.

Examinator in Botanik war der Professor dieses Fachs am Karlsruher Polytechnikum, der berühmte nachmalige Berliner Professor Alexander Braun, der einzige Nichtmediziner, den die Prüfungskommission aufgenommen hatte, nachdem der Arzt und Naturforscher Christian Gmelin, Brauns Lehrer und Verfasser einer großen Flora badensis-alsatica, 1837 aus der Sanitätskommission und dem Leben zugleich geschieden war. – Auf botanische Kenntnisse legte die alte Prüfungsordnung großen Wert. Es wurde nicht nur die Beantwortung von drei schriftlichen Fragen aus diesem Gebiete verlangt, der Examinator mußte auch in der mündlichen Schlußprüfung dem Kandidaten den Puls fühlen. Diese Prüfung wurde in dem Sitzungszimmer der Sanitätskommission im Ministerium des 270 Innern vor der Gesamtheit der Examinatoren abgehalten. Es wurden hier lebende Pflanzen, Mineralien, Droguen, chemische Präparate, anatomische Bilder und wichtige Instrumente vorgelegt und Fragen daran geknüpft.

Eine der drei schriftlichen botanischen Aufgaben hatte eine Beschreibung der Pflanzenfamilie der Kreuzblütler oder Cruciferen verlangt mit Aufzählung der Arznei- und Küchengewächse, die ihr in großer Zahl angehören. Am Tage bevor sie uns zur Bearbeitung übergeben wurde, war sie durch Zufall zu unsrer Kenntnis gekommen. Es war nun ganz erstaunlich, wie die sämtlichen Kandidaten über Nacht die gewiegtesten Cruciferenkenner wurden und ausgezeichnete Abhandlungen über diese nützliche Pflanzenfamilie lieferten.

Einer der Kandidaten war badischer Untertan, sein Vater aber lebte in Leipzig, deshalb war der Sohn dort aufgewachsen und ein Schüler der Leipziger Universität geworden. Er wollte jedoch in Baden die Heilkunst ausüben und machte deshalb seine Prüfung in Karlsruhe; seine medizinischen Kenntnisse waren gut, er ist ein beschäftigter Arzt geworden, in der Botanik aber war er ein greulicher Stümper. – Wir gingen zusammen in die mündliche Schlußprüfung des medizinischen Abschnitts, und er verhehlte mir unterwegs seine Besorgnisse nicht. »Es tut mir leid um unsern Examinator, den Professor Braun,« sagte er mir vertraulich, »er soll ein liebenswürdiger Herr sein; ich habe ihm sicherlich durch meine gediegene Arbeit über die Cruciferen viele Freude bereitet, aber ich fürchte, ihn heute zu betrüben, denn aus dieser interessanten Familie kenne ich – aufrichtig sei es gestanden – nur zwei, von mir sehr geschätzte Kräuter: den Blumenkohl und das Sauerkraut.« – Er sah mich dabei wehmütig an, und vergeblich suchte ich ihn zu trösten.

Etwas gespannt harrte ich auf den Augenblick, wo Braun unsern Kollegen einlud, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Mit freundlicher Miene überreichte er ihm einen prächtigen Stock blühenden Löwenzahns mit Wurzeln und Blättern, Linnés Leontodon Taraxacum. Unter dem Namen »wilde Cichorie«, im Elsaß als »Pisse-en-lit«, kommen ihre gelben Schosse im Frühjahr auf den 271 Markt und dienen zu einem gesunden Salat oder Gemüse. Unser Freund erkannte das Kraut sofort und rief auf die Frage, wie es heiße, vergnügt: »Es ist Salat!« – Braun lachte: »Ei, das ist nicht übel! Gewiß kennen Sie auch die Pflanze, die ich Ihnen jetzt einhändige.« – Es war eine fußhoch aufgeschossene blühende Staude der Fedia olitoria, die mit den ersten Strahlen der Frühlingssonne wie ein grünes Röschen auf den Ackerfeldern zu Tage kommt und von den Alemannen poetisch »Sonnenwirbele«, von den Köchinnen prosaisch Feldsalat genannt wird. – Der Kandidat gab sie nach kurzem Betrachten an Braun mit den Worten zurück: »Dieses Kraut ist mir unbekannt!« – »Aber, Herr Kandidat,« meinte Braun, »als guter Salatkenner sollten Sie doch auch den Feldsalat kennen!« – »Herr Professor,« entgegnete jener gekränkt, »dieses Kraut essen wir in Leipzig nicht.«

Ich muß den Herren Examinatoren nachrühmen, daß sie alle, bis auf zwei, geschickt und mit guter Auswahl die Fragen prüften, weder zu scharf, noch zu oberflächlich. Dies Lob verdiente auch der so gefürchtete Teuffel. Er prüfte in der Arzneimittellehre, die sich gerade auf den physiologischen Boden zu stellen begann. Ich hatte mir für das Staatsexamen das Handbuch der Heilmittellehre des skeptischen Oesterlen, das ein Jahr vorher in erster Auflage erschienen war, zum Studium erwählt und eingeprägt. Teuffel prüfte mich eingehend nach wohlerwogenem Plan über die schweißtreibenden Heilmittel; ich zählte sie sämtlich mit Einschluß des Aderlasses, der Brechmittel u. s. w. vollzählig auf, so viele ihrer eben damals bekannt waren – es waren lange nicht so viele, als es heute gibt – vergaß auch zum Schlusse die Linden- und Holderblüten nicht. Er nickte zufrieden und wollte nur noch wissen, welche von diesen Blüten am stärksten Schweiß treibe. Da juckte es mich unwiderstehlich, den Teufel zu necken und ich meinte, sie wirkten im Aufguß mit gleicher Stärke, wenn sie gleich heiß getrunken würden. Mit väterlicher Miene wies er mich zurecht, meine Vermutung widerspreche seiner langen Erfahrung, die flores sambuci überträfen die flores tiliae bei weitem an diaphoretischer Kraft.

Der Medizinalrat W. L. Kölreuter, in früheren Jahren als Balneologe angesehen, nunmehr aber veraltet und überdies fast taub, prüfte noch immer in Chemie und Pharmakognosie. Er legte einem Kandidaten im mündlichen Examen eine kristallinische kleine Stange von Cyanquecksilber zum Bestimmen vor und ließ den verlegenen jungen Mann so lange an dem heftigen Gifte mit der Zunge prüfen, daß die Kommission in Aufregung geriet und endlich einer der Herrn dem gefährdeten Kandidaten zurief: »Hören Sie doch auf, zu lecken, es ist ja Cyanquecksilber!« – Erfreut rief dieser nun Kölreuter ins Ohr: »Es ist Cyanquecksilber!« womit der Examinator sich befriedigt erklärte.

Auffallend unwissend war der Kommissär der anatomischen Fächer, obwohl er noch in jungen Jahren stand. Am schlimmsten sah es aus mit seinen mikroskopischen Kenntnissen. Er hatte uns unter andern schriftlichen Aufgaben auch die erteilt, die topographische und pathologische Anatomie der Achselhöhle zu behandeln. Ich ließ mein schwaches mikroskopisches Licht leuchten und beschrieb bei Erwähnung der Neubildungen die geschwänzten und ungeschwänzten Krebszellen, über die damals viel verhandelt wurde, zeichnete sie auch stark vergrößert auf das Papier. Bald nachher hielt er mich auf der Straße an, lobte meinen Aufsatz und erzählte mir: »Auch ich habe kürzlich mit den Zellen, die Sie beschreiben, Bekanntschaft gemacht. Ich schnitt geschwollene Drüsen aus der Achselhöhle einer Frau und sah Krebszellen darin, sie waren so groß wie Haselnüsse.« 273

 

 


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