Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eine Lektion bei der alten Frau Doktorin.

Mein Freund Bronner hatte als Heidelberger Lyceist und Student in der Sandgasse bei der Witwe eines Arztes gewohnt, die alte Frau Doktorin genannt. Ihr Mann, Dr. Ottendorf, war jung von dem Typhus weggerafft worden, der nach dem russischen Feldzug die Rheinlande verheerte. Da sie unbemittelt war und ihre beiden Kinder gut erziehen wollte, mietete sie ein Haus und gab Studenten Kost und Wohnung. Bronner war ihr in liebevoller Verehrung ergeben, mietete sich nach dem medizinischen Examen im Frühjahr 1846 aufs neue für das Sommerhalbjahr bei ihr ein und bestimmte mich, gleichfalls bei ihr zu wohnen, bis ich als Assistent der Pfeuferschen Klinik im akademischen Krankenhause einziehen konnte.

Mit uns speiste bei der alten Frau Doktorin ungefähr ein Dutzend junger Leute, die Mediziner Moleschott und Schaible, die Juristen Bonz, Volk u. a. In seinen Erinnerungen gedenkt auch Moleschott freundlich der Frau Doktorin und ihres Kosttisches. Sie führte an der Tafel den Vorsitz; ihre Küche war einfach und schmackhaft, das Getränke lauteres Wasser, wie damals an den meisten Studententischen, die Unterhaltung äußerst lebhaft. An Stoff dazu fehlte es nie, es gärte ja allenthalben in der Welt, und sonderbare Blasen stiegen aus der Tiefe.

Ein Gesundheitsapostel war nach Heidelberg gekommen. Er nannte sich Ernst Mahner und wandelte mit priesterlicher Würde in langem Gewande barhäuptig, mit wallenden Haaren und mächtigem Vollbart durch die Straßen. Er hatte seine Heilslehre nach Mosis 278 Vorbild in zehn Gebote gekleidet, schlug sie öffentlich an, wie Luther seine Thesen und verteidigte sie öffentlich in Vorträgen gegen mäßiges Eintrittsgeld. Er eiferte wider die geistigen Getränke und das »stinkgiftige Schmauchkraut«, rühmte das Wasser und pries bombastisch die gütige Mutter Natur nach Art der heutigen Naturärzte. Böse Zungen sagten ihm nach, sein Gesetz sei strenger, als der Apostel gegen sich selbst und behaupteten fest, sie hätten Mahner im weltlichen Gewande bei Trüffelpastete und Sherry im Hinterstübchen eines Mannheimer Restaurants überrascht.

Auf diesen wunderlichen Heiligen kam bei Tische häufig die Rede. Er hatte auch unter den Studenten einige Jünger gefunden: Einer von ihnen, ein Philologe und Sonderling, saß unter uns am Tische, ohne daß wir wußten, wie nahe er Mahner stand. Er blieb stumm bei unseren Gesprächen und Scherzen und schaute gemessen und ernst darein, wie der Gerechte unter den Sündern. Zuletzt merkten wir doch, daß sein Gesicht noch tiefere Falten zog, wenn wir auf Mahner zu sprechen kamen, nach einigen Wochen verschwand er und kam nicht wieder. Es wurde uns erzählt, er steige jetzt mit seinem Meister täglich auf den Königsstuhl, um dort oben im Walde auf den Wegen und Halden Sonnenbäder zu nehmen; sie liefen fast unbekleidet barfuß einher. Leider hatte die Polizei kein hygienisches Einsehen, sie verbot diese stärkenden Uebungen, um den Damen der Stadt den verleideten Besuch des Königsstuhls wieder zu ermöglichen.

Mahner war wirklich ein ungewöhnlich abgehärteter Mensch. Die Zeitungen berichteten von einem erstaunlichen Schauspiel, das er an einem sonnigen Wintertage den Bewohnern von Mainz bereitet hatte. Auf einer Eisscholle stehend, in Sandalen und nur an den Hüften bekleidet, soll er, einen Becher Rheinwasser schwingend, auf dem Strom an der Stadt vorbei getrieben haben. – Der Abhärtung ungeachtet hat er kein hohes Alter erreicht. Verkommen im Elend, starb er im städtischen Hospital zu Konstanz, wie mir mein Freund und Schüler, Medinzinalrat Dr. Honsell, der ihn dort behandelt hat, erzählte.

In diesen Sommer fiel auch der berühmte Brand im Hutzelwald, der dem pfälzischen Poeten Nadler zu dem lustigsten seiner 279 Gedichte Anlaß gab. An dem Tage dieses Ereignisses erhielt Bronner Besuch von seiner Schwester. Sie kam in Begleitung derselben heiteren Gesellschaft, die im verwichenen Herbst bei ihr in Wiesloch zu Gaste gewesen war. Die jungen Damen teilten mittags unser Mahl bei der Doktorin; kaum war es zu Ende, so erscholl Feuerlärm. Wir hörten, es brenne im Hutzelwald, und stiegen sofort auf den Speicher des Hauses, um nach der Gegend des Waldbrandes auszuschauen; in der Tat sahen wir den Rauch über den Gaisberg aufsteigen. Das gefährliche Element trieb nunmehr sein bedenkliches Spiel an zwei Orten zugleich, draußen im Wald und in der Stadt auf dem Speicher der Doktorin.

Eines Tages lieferte uns ein medizinisches Ereignis im Hause Stoff zur Unterhaltung. An der Köchin war ein Wunder geschehen. Sie hatte die schönsten Jahre, doch nicht die Gefühle der Jugend, hinter sich und litt an Hysterie. Von Zeit zu Zeit verlor sie plötzlich das Vermögen, laut zu sprechen, und konnte sich nur mit flüsternder Stimme verständlich machen. Weder die Aerzte der Stadt noch die der Kliniken hatten ihr zu helfen vermocht, aber ein altes Waschweib riet ihr ein wirksames Mittel. Wurde sie stimmlos, so gebrauchte sie seitdem Sympathie und die Stimme kam wieder. Bronner und ich waren neugierig, hinter ihr Geheimnis zu kommen, gaben ihr schöne Worte und erreichten unser Ziel. – Eines Morgens kam sie zu uns aus der Küche gelaufen, hatte ihre Stimme verloren und deutete auf die Kehle, die ihr eine unsichtbare Hand gewaltsam zuschnürte. Kaum hörbar flüsterte sie uns zu, wir sollten jetzt Zeugen des Wunders sein. Hierauf ging sie drei Schritte geradeaus, hielt einen Augenblick inne, wisperte unverständliche Worte, ging dann drei Schritte, ohne sich umzuwenden, rückwärts, blieb wieder stehen, blickte hinter sich, wisperte aufs neue, spie dreimal aus und begrüßte uns glückselig mit glockenheller Stimme: »gelobt sei Jesus Christus! Ihr Herren, ich bin geheilt!« – Wir freuten uns mit ihr, fragten, was dies alles zu bedeuten hätte und erhielten genaue Auskunft. Nach den ersten drei Schritten hatte sie die höchsten drei Namen angerufen, nach den drei letzten aber dem Teufel, der ihr die Kehle von hinten würgte, in das Gesicht gespieen 280 und geflüstert: »Dies ist für Dich, o Satan! hebe dich hinweg von mir!« – Eine so schmähliche Behandlung mißfiel dem Teufel, er ließ die Gequälte los.

Diese Kur wurde mittags bei Tische besprochen, belacht und von den Medizinern den erstaunten Freunden aus den andern Fakultäten erläutert. Sie ergingen sich mit Vergnügen in der Schilderung hysterischer Leiden, der eigentümlichen Krämpfe, Lähmungen, Geschmacksverirrungen, die mit diesem Namen belegt werden, und der wunderlichen Vorliebe solcher nervösen Personen für allerlei auffallend riechende Arzneistoffe, wie z. B. Baldrian, Bibergeil und Teufelsdreck, die in den Büchsen der Apotheker unter den gelehrten Namen Valeriana, Castoreum und Asa foetida aufbewahrt werden. Anfangs, als wir die Wunderkur erzählten, lachte die Doktorin mit, als wir aber unsere medizinische Weisheit auskramten und uns über die armen Weiblein lustig machten, wurde sie ernst und stille. – Nach Tische lud sie Bronner und mich freundlich ein, bei dem schönen Wetter in ihrem Gärtchen vor dem Mannheimer Tor eine Tasse Kaffee mit ihr zu trinken. Wir mochten sie nicht kränken und sagten zu.

Bei duftendem Mokka in der Jasminlaube verriet uns die würdige Matrone den Grund ihrer Einladung. Sie sei uns, versicherte sie, aufrichtig gewogen und halte uns für gute Jungen, auch versprächen wir, mit der Zeit tüchtige Aerzte zu werden, und hätten uns ganz hübsche Kenntnisse erworben, von der Hysterie aber, einem der wichtigsten Kapitel der Pathologie, verstünden wir, sie müsse es mit Bedauern sagen, recht wenig. Davon habe sie sich heute mittag bei unseren Tischgesprächen unlieb überzeugt. Es fehle uns an Erfahrungen, die wir erst im Verkehr mit der Frauenwelt gewinnen würden, bisher seien wir zu ausschließlich mit Männern umgegangen. Sie wolle sich deshalb erlauben, uns über Hysterie die Erfahrungen, die sie an sich selbst gemacht, mitzuteilen. Sie mache kein Hehl daraus, daß sie selbst der Hysterie unterworfen sei, schwer darunter gelitten habe und noch immer zeitweise von hysterischen Anwandlungen heimgesucht werde.

Bei dieser unerwarteten Eröffnung wurden wir nicht wenig 281 verlegen, lächelten und entgegneten ihr: sie wolle uns nur necken, wie solle eine Dame von ihrer verständigen Einsicht und Willensstärke zu hysterischen Leiden kommen? Es möge sich ab und zu um überreizte Nerven handeln, aber nicht um Hysterie.

»Glaubt mir, meine jungen Freunde,« erwiderte sie, »ich war und bin nach dem Urteil erfahrener Aerzte hysterisch und habe schwer an Krämpfen und Lähmungen gelitten. Daß es zu der Krankheit bei mir kam, ist nicht zu verwundern. Als junge Frau verlor ich unerwartet meinen Gatten und stand mit zwei kleinen Kindern mittellos in der Welt, einzig auf meine schwachen Kräfte angewiesen, vielleicht auch etwas verwöhnt. Mit äußerster Anstrengung hielt ich mich über dem Wasser. Oft überwältigte mich die Sorge und die Last der Arbeit, meine Nerven, meine Stimme, meine Beine versagten, auch Krämpfe befielen mich, ich litt an Schmerzen und meinte unterliegen zu müssen. Mein alter gutmütiger Hausarzt, Dr. Nebel, verschrieb mir eine Arznei nach der andern mit wechselndem Erfolg. Einmal kam eine Zeit, wo seine Mittel samt und sonders nicht verfingen, der gute Doktor wußte sich nicht mehr zu helfen und riet, den Geheimenrat Naegele beizuziehen.«

»Ich ging,« fuhr unsere Freundin fort, »auf diesen Vorschlag ein. Die beiden Aerzte kamen kurz vor Tische zu mir und setzten sich, der eine links, der andere rechts neben mich. Ich mußte meine Leiden schildern, und mein Hausarzt ergänzte meine Krankengeschichte. Naegele hörte aufmerksam zu und sah dann eine Weile stumm vor sich hin. Es wurde so still im Zimmer, daß man die Wanduhr ticken hörte. Aergerlich dachte ich: »Da sitze ich nun im tiefsten Elend zwischen diesen beiden Stockfischen und keiner kann mir helfen!« – Plötzlich fuhr Naegele mit den Fingern über die Nase herab, sah mir nahe in die Augen und sagte: »Ich weiß, was Sie in diesem Augenblicke denken.« – »Nun denn, was denke ich?« – »Sie denken: ich komme mir vor, wie der Gekreuzigte zwischen den beiden Schachern.« – »In der Tat,« rief ich erbost, »es ist so, ich leugne es nicht.« – Naegele lächelte, erhob sich, drückte mir die Hand und versprach, am Abend nochmals zu kommen, falls der Kollege einwillige. Er kam und flößte mir durch klugen Zuspruch Vertrauen und Mut ein; 282 ich erstarkte in kurzer Zeit so, daß ich meine Arbeit wieder aufzunehmen vermochte.«

Sie schloß mit den Worten: »Der lächerliche Zauber eines alten Waschweibs hat meiner Köchin mehr genützt als die besten Rezepte der Aerzte. Der Hokuspokus tat bei der dummen Person Wunder, weil sie an Wunder glaubt. Die Rezepte hätten gewirkt, wenn die Aerzte es verstanden hätten, sie mit Zauberkräften auszustatten. Bei einer solchen Küchengans muß man schon mit dem Teufel kommen, um etwas auszurichten, bei wundergläubigen Standespersonen braucht es andere Mittel: magnetische Striche, homöopathische Kügelchen u. dgl. Solche Dinge hätten bei mir, einer alten Rationalistin aus des Kirchenrats Paulus Schule, nicht verfangen, ich bedurfte des Zuspruchs einen erfahrenen Mannes von Geist und Herz. – Den Baldrian übrigens, über den ihr euch heute so lustig gemacht habt, lasse ich mir nicht schelten. Ein Täßchen Baldrianaufguß hat mich oft wunderbar belebt. Ich glaube an seine Kraft, auch wenn ich nicht gesehen hätte, daß unsre Hauskatze sich vor Freude auf den duftenden Wurzeln wälzt, wenn sie durch Zufall darüber gerät. Diese zarten Geschöpfe und wir armen Frauen haben Nerven von gleich empfindlicher Feinheit.« 283

 

 


 << zurück weiter >>